Die Einsicht:
erstens in die Unablösbarkeit des Faschismus von der Gesellschaftsformation, in der er entsteht und wirkt, also vom Kapitalismus;
zweitens in die fundamentale Bedeutung der menschlichen Triebdynamik - in ihrer jeweiligen gesellschaftlichen Formung - für die Entstehung, die Verfahrensweisen und die individuelle wie die Massenresonanz des Faschismus;
drittens in die Relevanz der technisch-industriellen Zivilisation für das Funktionieren des faschistischen Systems und die Verwirklichung seiner Vorhaben;
ist Basis und Mitte einer zu ihrem Gegenstand kritischen Faschismustheorie: einer Theorie nämlich, die nicht bei Teilansichten, Erscheinungsweisen oder gar der Selbstinszenierung und dem Propagandagewölk des geschichtlichen Faschismus stehen bleibt, sondern der Sache auf den Grund will.
Dabei gilt, was Angelo Tasca 1936 formuliert hat: "Eine Faschismustheorie könnte nur aus dem Studium aller Formen des Faschismus, der maskierten oder offenen, der unterdrückten oder siegreichen hervorgehen; denn es gibt mehrere Arten des Faschismus, und jede enthält vielfältige und manchmal sich widersprechende Tendenzen, die sich entwickeln und sogar einige ihrer Grundzüge ändern können."
In diesem Sinn muß Faschismustheorie die Komplexität ihres Gegenstandes und die Unschärferelation ihrer Aussagen reflektieren, um spekulativen Konstruktionen und wirklichkeitsarmen Überflügen zu entgehen - ebenso wie Untersuchungen zu einzelnen Aspekten des Problems konsistenter theoretischer Rückkoppelung bedürfen, wenn sie sich nicht in erklärungsschwachen Abschilderungen verlieren sollen. Unter dieser Perspektive soll versucht werden, die konstitutiven Bezüge des Faschismus in sechs Thesen zu fassen.
I. Faschistische Bewegungen sind in ihrer Entstehung sozial heterogene, kleinbürgerlich orientierte, radikale Protestbewegungen gegen tiefgreifende Erschütterungen und überhaupt gegen die wachsende Veränderungsdynamik der Gesellschaft im Zeitalter des hochorganisierten Kapitalismus. Sie stellen den Versuch dar, gesellschaftlich und individuell-lebensgeschichtlich entstandene Gewalterfahrungen, Aggressionen, Ängste und destruktive Potentiale gemäß vielfach undurchschauten ideologischen Prägungen in Gewalt gegen Schwache und sogenannte Feinde und letztlich in die Zerstörung der alten und die Herstellung einer als ganz anders vorgestellten, neuen Ordnung umzusetzen.
In der Perspektive eines derart überfremdeten Bewußtseins stellt sich das Eigene vielfach als von der Gesellschaft überhaupt abgetrennt und von allen Seiten gleich bedroht dar. Objektiv gehören Teile solcher faschistischen Bewegungen jedoch selbst zur Arbeiterklasse, und die erfahrenen Existenzbedrohungen gehen wesentlich von den die Gesellschaft bestimmenden kapitalistischen Strukturen und Entwicklungskräften aus.
In tragenden ideologischen Mustern, in Strukturen und Praktiken ist der Faschismus dabei ein typisches Produkt der Männergesellschaft, mit männerbündischen Akzenten. Die traditionelle Ungleichheit der Geschlechter, die Dominanz des Mannes in Familie, Gesellschaft und Politik und die Ausbeutung und Unterdrückung der Frau, ihre Reduktion auf Gebären, Erziehen, Versorgen und Zuarbeiten werden vom Faschismus in extremer Weise bekräftigt und verdichtet.
Faschistische Potentiale bilden sich in der sogenannten Normalität der Gesellschaft, d.h. in deren allgemeinen Verhältnissen. Sie entspringen also weder sozial noch geschichtlich-prozessual irgendwelchen Randzonen oder Ausnahmelagen. Vielmehr drückt sich in ihnen die generelle Krisenhaftigkeit der Gesellschaft in einer besonderen Weise aus. Aktuelle Krisenprozesse bringen das Ganze ans Licht, und ebenso wie die faschistischen Potentiale an der Krise wachsen, wächst die Krise an ihnen. Demgemäß ziehen faschistische Bewegungen deklassierte, desorientierte und deformierte Individuen und Gruppen, äußerlich oder innerlich Labile, Gescheiterte und Zerbrochene besonders an, weil sie ihnen Gelegenheit zur eigenen Entlastung und zur Aggressionsentladung bieten und weil sie in ihnen gewisse Hoffnungen auf die Zukunft erwecken. Das bedeutet insgesamt, daß der Faschismus, je nach den geschichtlichen Umständen, große Teile der Gesellschaft an sich binden und ihr soziokulturelles und ideologisches Gesicht prägen kann.
Massenwirksam wird die faschistische Ansprache dadurch, daß - und dann, wenn - sie allgemein verbreitete psychische Mechanismen und Reaktionsmuster, Vorurteile und Stereotype durch Lockung und Drohung, durch Propaganda, Demonstration von Stärke und Verbreitung von Schrecken systematisch zu manipulieren und zu mobilisieren vermag. In der enormen Anziehungskraft, die der Faschismus auf diese Weise ausübt, kommen die Formungen, Spiegelungen und Fernwirkungen zu manifestem Ausdruck, die die kapitalistische Gesellschaft mit ihrer strukturellen Gewalthaftigkeit und mit ihrer Krisen- und Zerstörungsdynamik in der Psyche der Menschen produziert: Sie machen diese in hohem Maß für gewaltbezogene Krisenlösungen anfällig und empfänglich. In der Verschränkung von Krisenentwicklungen, fremdbestimmten Massenprozessen und Führerkult werden so extreme soziale Energien hinter Parolen und für Zielsetzungen gesammelt, die vor allem die Negationen des herrschenden Bewußtseins nutzen und aggressiv zuspitzen.
Demgemäß definiert sich der Faschismus weitgehend über Feinderklärungen. Sie richten sich in der Hauptsache gegen emanzipatorische Konzepte, Bewegungen und Bestrebungen, insbesondere gegen die Arbeiterbewegung und gegen ethnisch, soziobiologisch oder in anderer Weise abgegrenzte Gruppen, die bereits als abweichend, fremd und gefährlich stigmatisiert sind. In vielen Ländern - jedoch in keinem mit solcher mörderischen Systematik und Konsequenz wie in Deutschland - sind davon ganz besonders die Juden betroffen, weil sie ein traditionelles, gesellschaftlich-untergründig legitimiertes Aggressionsobjekt darstellen, auf das nun ungehindert alle Destruktion, d.h. aller Fremdenhaß und auch aller Selbsthaß gerichtet und abgeleitet werden dürfen.
Die im eigenen Sinn positiven Proklamationen operieren einerseits mit fiktiven Ganzheiten und Gemeinsamkeiten wie Volksgemeinschaft, Rasse, Nation, die Egalität vorspiegeln, aber ihre Verwirklichung gerade verhindern sollen. Anderseits bieten sie affektiv besetzte und/oder mythische, jedenfalls leere Begriffe wie Ehre, Würde, Größe, Schicksal, Sendung, Opfer, Pflicht, Dienst, Ordnung auf, die Einheit und Harmonie vortäuschen und Selbstaufgabe und Identifikation der Individuen mit dem Faschismus bewirken sollen. Damit verschränken sich im faschistischen Zugriff politische Religion, Ideologie und zynisch-manipulative Sozialtechnik aufs engste. Dies alles gilt und wirkt nicht nur in der Zeit der aufkommenden faschistischen Bewegung, sondern vielfach verstärkt auch im etablierten faschistischen System.
Auf diesem Weg wird aus der gängigen gesellschaftlichen Wendung gegen Emanzipation, Gleichheit, Demokratie, Sozialismus, gegen Fremde, mißliebige Minderheiten und allfällige Sündenböcke in wenigen Schritten ein Programm der Destruktion. Der Kampf ums Dasein, das Recht der Starken, der Erfolg, der die Mittel heiligt, mit einem Wort: der Sozialdarwinismus, ist ein Kernstück des kapitalistischen Funktionssystems. Gerade ihn, auf seine volle Konsequenz gebracht, verkündet und organisiert der Faschismus als soziale Bewegung wie als Herrschaftssystem. Er ist also auch in dieser Hinsicht nicht das ganz Andere, grundsätzlich Geschiedene und Unbegreifliche, sondern eher ein Exzeß der Normalität bürgerlicher Gesellschaft.
Faschistische Bewegungen stehen unter allen diesen Bedingungen, was immer die Selbsteinschätzungen und die Proklamationen sein mögen, der Sache nach auf dem Boden des kapitalistischen Systems. Das gesellschaftskritische Moment an ihnen ist die meist an romantischen Vorstellungen von der Vergangenheit orientierte, traditionell als antikapitalistisch bezeichnete, emotional-diffuse Wendung gegen bestimmte Erscheinungen wie Banken oder Warenhäuser als Ausdruck des anonymen, hochakkumulierten Kapitals. Der Traum vom Neuen - soweit es dergleichen über destruktive Zwecksetzungen und persönliche Erwartungen hinaus gibt - faßt demzufolge nichts anderes als das Alte, gemindert um die in ihm angelegte Entwicklungsdynamik, deren notwendige Folgen zunehmende Konzentration und Zentralisation des Kapitals ebenso wie objektive Proletarisierung einer ständig wachsenden Mehrheit der Gesellschaft sind.
Die mitgebrachte ideologische Gefangenheit und die ihr entsprungenen Zielprojektionen bewirken so auch in aller Regel, daß faschistische Bewegungen schließlich in Funktion treten zugunsten herrschaftlich gesetzter Zwecke, nämlich im Sinn derjenigen sozialen Kräfte, die der machtvollste gesellschaftliche Faktor sind: der großen Kapitalgruppen. Die einzig denkbare, von der Großbourgeoisie stets befürchtete Alternative wäre eine Wendung der zum großen Teil schwankenden, unsicheren und verzweifelten Massen aus ihrer faschistischen Einfassung zu sozialistischen Positionen und damit ihr Anschluß an die Arbeiterbewegung. Einer solchen Entwicklung steht jedoch vieles im Weg; sie ist nirgends in größerem Umfang eingetreten.
II. Der gesellschaftliche Aufstieg faschistischer Bewegungen hat als Bedingung das Andauern fundamentaler Krisenprozesse und des Massenzulaufs einerseits, die Protektion durch gesellschaftliche Führungsgruppen, insbesondere durch das große Kapital, anderseits, die in ihnen Notwendigkeit, Risiko oder Chance - oder all dieses zugleich - zukünftiger Entwicklung erkennen und das politisch wie auch finanziell notwendig Erscheinende tun. Dabei geht es darum, das Ambivalenzpotential dieser Bewegungen zuverlässig unter Kontrolle zu halten, zugleich aber ihre politisch-sozialen Energien gegen unerwünschte politische Positionen, emanzipatorische Bewegungen und soziale Gruppen zu lenken.
Vor allem in der Phase des Aufstiegs und in der der Etablierung kommen auch die inneren Widersprüche faschistischer Bewegungen zur Wirkung, insbesondere weil diese großenteils auf das Begleichen persönlicher oder sozialer Rechnungen oder auf blanke Beutezüge ausgerichtet sind. Jedoch werden funktionsstörende Abweichungen oder Exzesse - wie z.B. die Aktivitäten der SA-Führung um Ernst Röhm 1933/34 - in der Regel sehr schnell durch internen Terror unterbunden. Denn für die faschistische Führung bedeutet - entgegen der zu demagogischen Zwecken abgesetzten Propaganda - jeder ernsthafte Verstoß gegen die bestimmenden gesellschaftlichen Interessen eine Gefährdung ihrer eigenen Machtposition wie ihrer politischen Perspektiven, die sie schon aus Überlebensgründen mit allen Mitteln abzuwehren sucht.
III. Die endliche Etablierung des Faschismus setzt bei den gesellschaftlichen Führungsgruppen eine strategische Entscheidung für den generellen Abbruch des parlamentarischen Systems und für die Liquidation des gesellschaftskritischen Potentials sowie eine Einigung mit der faschistischen Führung über ein gemeinsames Programm voraus. Die neue Konzeption wird dann über entsprechenden Druck auf das alte politische System, insbesondere auf die bürgerlichen Parteien und auf die Spitze der Exekutive, durchgesetzt.
Der Entscheidungsprozeß dahin verläuft jedoch weder innerhalb der Führungsgruppen selbst, noch in der Auseinandersetzung mit den bisherigen politischen Agenturen geradlinig, widerspruchs- und konfliktfrei. Sozioökonomische Interessendivergenzen und politisch-operative Meinungsverschiedenheiten. besonders hinsichtlich der festen Beherrschbarkeit der Entwicklung, tun ihre Wirkung. Auch machen sich bestimmte Gegenkräfte des alten Systems bemerkbar. Jedoch ist mit jener strategischen Entscheidung die Entwicklung dem Grund nach vorgezeichnet; und allenfalls eine konzentrische Massenaktion, insbesondere ein Generalstreik, könnte sie noch zum Halten bringen.
Die entscheidende Bedingung für die Etablierung des Faschismus ist aber gerade die Gefahr, daß die durch die Krisenprozesse hervorgerufene Unruhe unter den Massen in eine kritische Größe tritt und eine kritische Richtung annimmt. Die faschistische Bewegung vermag von allein - d. h. vor allem ohne die Unterstützung von Armee und Polizei, oder gar gegen sie - schwerlich zur Macht zu kommen; und erst recht vermag sie nicht diese selbst gegen das System zu wenden. Von daher gibt die soziale Dynamik und politische Stärke der proletarisch-sozialistischen Bewegung den Ausschlag, da allein von ihr eine wirkliche Bedrohung der Kapitalinteressen oder gar der gesellschaftlichen Herrschaft ausgehen und sie dabei u.U. auch Teile der schwankenden faschistischen Anhängerschaft mit sich ziehen kann.
Spätestens wenn das ernsthafte Risiko einer solchen Entwicklung sich zeigt und die normalen staatlichen Gewaltmittel keine Sicherheit mehr dagegen bieten, fällt folglich die Entscheidung - trotz der Probleme, die in der ungeklärten sozialen Dynamik des faschistischen Massenanhangs weiterhin liegen - zugunsten der faschistischen Lösung. Der Griff zu ihr erfolgt also, jedenfalls in den rational kalkulierenden Teilen des Großbürgertums, nicht blindlings oder aus bloß ideologischen Gründen, sondern aus einer krisenvermittelten Interessenperspektive. Mit der Entscheidung erlischt zugleich die Existenzgrundlage des alten politischen Systems und seiner Transmissionseinrichtungen, soweit sie sich nicht in das neue System einfügen lassen.
IV. Der Faschismus an der Macht ist in der Gesamtheit seiner Strukturen, Aktivitäten und Wirkungen die äusserste Systemsicherung in äußersten Krisenlagen der kapitalistischen Gesellschaft, in denen Kapitalverwertung und Massenloyalität und damit die konstitutiven Herrschaftsgrundlagen in Gefahr geraten sind und in denen die üblichen politischen Mittel zu deren Wiederherstellung versagt haben. Mit der defensiven Perspektive verbindet sich zugleich eine solche offensiver Art. Denn nun ergibt sich die Chance, grundlegende strategische Interessen des Kapitals zu realisieren, die Arbeiterklasse sozial zu unterdrücken und politisch zu liquidieren, die Konzessionen, Reibungsverluste und Offentlichkeitszwänge des parlamentarischen Systems aufzuheben. In der Summe dieser Prozesse geht es darum, die Kapitalreproduktion durch ungehinderte Ausbeutung der Ware Arbeitskraft und durch volle Funktionalisierung der Staatstätigkeit zu erhöhen, stabile Herrschafts- und Privilegienverhältnisse zu schaffen und imperialistische Ziele anzusteuern.
Um sich zu behaupten, muß der Faschismus vor allem die beiden Aufgaben lösen, derentwegen er etabliert worden ist: Sicherung der Kapitalverwertung und Sicherung der Massenloyalität. Beide zusammen bilden die innere Überlebensbedingung auch des faschistischen Systems. Um die Massenloyalität zu sichern, obwohl der Faschismus immer deutlicher die großen Kapitalinteressen bedient, arbeitet die faschistische Gesellschaftspolitik, neben bestimmten sozialpolitischen Konsolidierungsmaßnahmen, mit einem politischen Doppelgriff aus Terror und Konsens, Drohung und Lockung, Ausgrenzung und Integration. Die öffentliche Inszenierung magischer Rituale mit Fahnen, Feuer, Musik, Appellen und Marschkolonnen spielt eine wesentliche Rolle dabei, massenhafte Überwältigungsschübe, Einverleibungsphantasien und Rauschzustände zu organisieren, um rationale Strukturen und normative Schranken der Individuen zu zerbrechen. Auf diesem Weg werden im Lauf der Zeit große Teile der Bevölkerung zugleich zu Tätern und Opfern einer ihnen sowohl äußerlichen als auch innerlichen Macht.
Gemäß seiner Struktur haben der faschistische Staat und besonders der Diktator weitreichende, gemäß der Propaganda sogar allumfassende Entscheidungsgewalt. Das Funktionieren des sozioökonomischen und politischen Systems im Sinn der strategischen Zielsetzungen erfordert aber, daß die politischen Entscheidungen im Wesentlichen den bestimmenden gesellschaftlichen Interessen entsprechen und daß in Konfliktfallen nach dieser Maßgabe Kompromisse organisiert oder Präferenzen festgelegt werden. Damit stehen die Grundlinien des zu Entscheidenden weithin fest - solange und soweit eben die funktionale Logik und die Effektivität des Systems das Kriterium seiner Tätigkeit bilden.
Jedoch sind die faschistischen Machthaber aus denselben Gründen durchaus nicht die Marionetten, Lakaien oder Büttel des Großkapitals. Eine solche Sichtweise verkennt allgemein das Verhältnis von Ökonomie und Staat im Kapitalismus und mißachtet insbesondere die politischen Handlungsspielräume und das Risikopotential, die in der diktatorisch-terroristischen Form des Faschismus selbst angelegt sind. In Wirklichkeit gehen die verschiedenen Führungsgruppen dieses Systems ein komplexes Verhältnis ein, in dem keine für das Ganze steht und das für alle neben den erwunschten auch unerwünschte Effekte produziert. Notwendigerweise aber entwickelt sich unter diesen Bedingungen ein enger systemischer Verbund zwischen Ökonomie und Staat.
Mit alledem ist das faschistische System eine besondere Mischung von Einheitlichkeit und Fragmentierung, von Kompetenzkonflikten und Reibungsverlusten einerseits, konzentrischem Durchgriff und machtstaatlicher Potenz anderseits. Es ist weder Monolith noch Anarchie, sondern ein widersprüchliches Ganzes und enthält Paradoxien in Fülle. Planung und Konfusion, Kapitalverwertungs-Logik und Agrarromantik, extensive Techniknutzung und vorkapitalistische Utopie, systematische Manipulation und geglaubte politische Religion, sowie viele andere unstimmige Ingredienzen haben in ihm Platz. Es ist durchorganisiert und funktionell und zugleich voller irrationaler, auch extrem funktionswidriger Züge. Aus dieser Heterogenität bezieht der Faschismus sowohl erhebliche Spannungen und Störpotentiale, als auch seine Anziehungskraft und Bindungswirkung, seine tödliche Durchschlagskraft und damit insgesamt seine enorme systemische Energie.
Zwangsläufig wächst in ihm der öffentliche Sektor, vor allem durch die maßlose Expansion des Kontroll-, Terror- und Militärapparats, extrem an. Mit der Hypertrophie des Gewaltsystems selbst, mit seinem höchst unproduktiven Mittelverbrauch baut sich indes in wenigen Jahren eine schwere Finanz- und Staatskrise auf, zu deren Beherrschung es um so mehr propagandistischer Deckung, terroristischer Sicherung und imperialistischer Erfolge bedarf. Somit entwickelt der Faschismus, der zur Krisenlösung installiert wurde, mit und gerade wegen seiner ungeheuren Machtfülle unvermeidlich einen Krisenzirkel besonderer Art, der zur ständigen Erhöhung der Funktionskosten und der Gewalttätigkeit des Systems drängt.
Moralisch betrachtet, ist Menschenverachtung die Basis des Faschismus. Der Mensch wird vollends zur Verfügungsmasse, zu einer Sache ohne Wert. Der Sinn des Lebens besteht nur in Herrschaftsdienst, Töten und Sterben. Das faschistische System ist der Inbegriff des organisierten Verbrechens und der Exzeß der funktionalisierten Sekundärtugenden. Minderheitenhaß, Mord und Krieg sind seine Signatur, massenhafte Vernichtung von Menschen und massenhafte Akkumulation von Kapital sein Doppelgesicht. Seine Perspektive ist die Feinderklärung an die Menschheit.
Diese Ultima ratio des Systems, die letzte Möglichkeit nämlich, mit einer Staatsordnung des systematischen Terrors und der Unterdrückung jeglichen Widerstands die Eigentumsverhältnisse zu stabilisieren, Massenloyalität zu erzwingen und in einer neuen Qualität der Verschränkung von Ökonomie und Politik den sozioökonomischen Prozeß voranzutreiben, ist als Grenzform bürgerlicher Herrschaft auch für die Interessenten und Nutznießer prekär, weil mit beträchtlichen Risiken und Nachteilen behaftet. Die mit dem Faschismus angestrebte Generallösung der Systemkrise ist auf Dauer nicht zu erreichen. Diese wird lediglich verschleiert, verschleppt und verlagert, und die Probleme drängen schließlich potenziert zur Eruption. Ein in diesem Sinn als funktionsunfähig sich erweisendes oder politisch aus dem Kurs laufendes faschistisches System kann aber nicht nach Belieben wieder außer Dienst gestellt werden, weil es diesem Versuch seine terroristischen Mittel entgegenzusetzen vermag. Damit kann das Ganze in einer nicht mehr abzuwendenden Katastrophe enden.
V. Faschismus ist somit in seiner Gesamtheit ein legitimes Produkt des entwickelten Kapitalismus, das aus dessen Bedingungen und Strukturen notwendig zu bestimmen ist. Aber er ist nicht dessen selbstläufige, unvermeidliche, quasi naturgesetzliche Perspektive. Zum einen gehen in die Disposition jeweiliger Gesellschaften spezifische Bedingungen ein. Die sozioökonomische Stärke und die politische Tradition des Bürgertums, die Verbreitung demokratischer Positionen im herrschenden Bewußtsein, d. h. die Stabilität und Elastizität der jeweiligen politisch-ideologischen Systemsicherungen sind ganz unterschiedlich. Damit ist es auch die Resistenz gegen eine oder die Neigung zu einer faschistischen Lösung. Zwar gibt es überall ein latentes faschistisches Potential, jedoch fallen, wie seine Anziehungskraft, auch seine politischen Erscheinungsformen in den verschiedenen Ländern sehr verschieden aus. Demgemäß wäre ein krisenfester Grundbestand demokratischer Einstellungen, Überzeugungen und Handlungsmuster eine essentielle Sperre gegen die faschistische Durchdringung einer Gesellschaft.
Zum andern aber, und dies vor allem, hängt die Frage von Aufstieg und Etablierung des Faschismus in der kapitalistischen Systemkrise elementar vom Stand der Klassenauseinandersetzungen, vom proletarischen Klassenbewußtsein, vom Organisationszustand und von der Entscheidungsfähigkeit der Arbeiterbewegung ab. In Ländern mit einem in dieser Hinsicht voll entwickelten und schlagkräftigen Proletariat könnte sich schwerlich Faschismus etablieren und behaupten. Umgekehrt fehlte bei einem schwachen Proletariat das als Feind abgrenzbare Massenpotential, dem gegenüber das Interesse an dieser Grenzform vor allem anderen sich konstituierte.
Die Verbindung von - tatsächlicher oder vermeintlicher - Kalkulierbarkeit der Risiken einer faschistischen Lösung und Unkalkulierbarkeit der Entwicklung ohne diese, insbesondere wenn sich die akute Gefahr einer entscheidenden Verstärkung der systemkritischen Kräfte zeigt, macht deshalb den Punkt aus, an dem das Großbürgertum zur Behauptung seiner Herrschaftsgrundlagen den Schritt in den Faschismus tut.
Keineswegs hilft somit gegen Aufstieg und Etablierung des Faschismus die vorauseilende Transformation des parlamentarisch-demokratischen Systems in ein autoritäres, also die Auflösung der in langen, schweren Kämpfen durchgesetzten emanzipatorischen Positionen und rechtsstaatlichen Sicherungen. Das Interesse des Großbürgertums an politischen Systemen ist ausweislich der Geschichte ein funktionales: ob sie die gemeinschaftlichen Geschäfte angemessen verwalten oder an ihnen versagen. Der Abbau demokratischer Rechte arbeitet deshalb dem potentiellen Übergang zu einer faschistischen Lösung zu, da er die Resistenzkräfte schwächt, das Risiko für die Akteure vermindert und ihnen damit selbst die Bahn macht. Das Einreißen der Dämme hat noch vor keiner Flut bewahrt. Im Gegenteil können die verbliebenen Sicherungselemente dann um so leichter beseitigt werden. Das entscheidende, strukturelle Gegenmittel gegen Faschisierungsprozesse ist gemäß dem Gesagten allein die gesellschaftliche Verankerung und der politische Ausbau der Demokratie.
VI. So wenig wie diejenige des Kapitalismus ist die Epoche des Faschismus beendet. Da dieser in seiner Substanz sich den herrschenden gesellschaftlichen Verhältnissen und Interessen verdankt, kann er nur um den Preis der Entmündigung der Nachgeborenen für tot erklärt werden.
Seit 1945 hat es in der Welt schon eine ganze Reihe radikal rechter Gruppierungen gegeben, die, soweit die politischen Verhältnisse es erlaubten, die vergangenen Erscheinungsbilder direkt zu kopieren oder sich wenigstens an sie anzulehnen versuchten und die damit - wie etwa in der BRD die NPD in den 1960er, die REPs ab den späten 1980er Jahren, oder in Österreich zur selben Zeit die FPÖ unter Haider - beachtliche Erfolge erzielten. Vor allem in dem Krisenbündel, das sich in den frühen 1990er Jahren entwickelte, bekam in vielen Ländern Faschistisches in unterschiedlichen Gestalten wieder Konjunktur.
Auch hier entstanden keineswegs neue Potentiale aus dem Nichts, sondern bereits angelegte wurden mobilisiert. In der Folge kam es vielfach zu Gewaltakten gegen Einzelne, zu Brandstiftungen und pogromartigen Übergriffen. Auch hier wurde von bedeutenden Kräften des etablierten Systems selbst der Krisendruck dazu genutzt, demokratische Rechte abzubauen, die Machtstaats-Instrumente zu schärfen und insgesamt die politischen Koordinaten nach rechts zu verschieben. Diese Erfahrung kann wenigstens lehren, wie nahe an der sogenannten Normalität der Übertritt zu anderen Formen des Politischen liegt und daß Dispositionen zu autoritären, antidemokratischen und faschistischen Krisenlösungen in Individuen, in Gruppen und im gesellschaftlichen Ganzen dicht unter der Oberfläche verborgen sind.
Aufs Ganze gesehen kann Faschismus jedoch nicht einfach mit seiner geschichtlich greifbaren Gestalt identifiziert werden. Er stellte sich ja niemals in beliebig gegriffenen Inhalten und Mustern dar, sondern transportierte im wesentlichen das, was an Frustration und Aggression, an Feinderklärungen und antidemokratischen Optionen massenhaft-gesellschaftlich verbreitet war. Von der faschistischen Propaganda wurde dies lediglich aufbereitet und so verdichtet, daß damit alle Hemmschwellen überwunden werden konnten. Daran ist beispielhaft die Anpassungsfähigkeit des faschistischen Politikmodells an jeweilige Gegebenheiten abzulesen. Auch die geschichtlichen Umstände von Aufstieg und Etablierung des Faschismus geben keinen überzeitlichen Begriff her. Es bedarf also der Unterscheidung zwischen situationsgebundenen und konstitutiven Zügen.
Von der Herrschaftsfunktion als der zentralen Dimension des Faschismus aus geurteilt, drängt sich der Fall Chile als eine faschistische Variante unter heutigen Bedingungen auf. In diesem Land verschoben sich seit 1970 durch die Politik der Regierung Allende und mit der wachsenden Anziehungskraft der Unidad Popular die Herrschaftsgrundlagen in Kapitalverhältnis und Massenloyalität. Dies eröffnete die Möglichkeit, daß die sozialistischen Kräfte auch parlamentarisch ausschlaggebend würden. In dieser Situation akuter Systemgefährdung und nach dem Scheitern diverser Versuche, in Chile eine echt aussehende kleinbürgerlich-radikale Protestbewegung zustande zu bringen, griff das aus seiner hegemonialen Position verdrängte US-Kapital im Verbund mit dem CIA und mit der einheimischen Reaktion im Jahr 1973 zu den äußersten Mitteln. Gestützt auf den größten Teil des Exekutivapparats, vor allem des Militärs und der Geheimpolizei, wurden in einem blutigen Staatsstreich der Präsident gestürzt, die sozialistische Bewegung liquidiert, ein Terrorsystem etabliert und massive Feind- und Ordnungspropaganda organisiert, um die Kapitalinteressen zu wahren, Massenloyalität um jeden Preis zu erzwingen und die gesellschaftlichen Eigentumsverhältnisse zu sichern. Das Kapital realisierte unter diesen Bedingungen hohe Gewinne; breite Massen der Bevölkerung verelendeten. Wie anders sollte dieses Ganze begrifflich gefaßt werden - wenn nicht als Faschismus.
Vor dieser Wirklichkeit, wie der des geschichtlichen Faschismus, fallen auch die im Umfeld der 1968er Bewegung geübten Spekulationen hin, denen zufolge schon parlamentarisch-demokratische Systeme mit autoritären Zügen und Formierungstendenzen - wie etwa in den USA. der BRD, Frankreich - faschistisch sein sollen (so etwa Glucksmann u. a. 1972; Clemenz 1973). Die Unfähigkeit zwischen diesem Typus und der neuen Qualität eines auf Liquidation gerichteten Terrorsystems zu unterscheiden, hat schon einmal wesentlich zur Desorientierung und zum Versagen der Gegenkräfte beigetragen.
Der Schluß aufs Ganze heißt: Faschismus bleibt als Ausdruck, Faktor und terroristischer Lösungsversuch kapitalistischer Systemkrise virulent, solange das Gesellschaftsverhältnis selbst andauert. Die Dimension der Sache zu fassen, bedarf es theoretischer Anstrengung die den Faschismus weder aus dem Begriff historischer Erfahrung entläßt, noch den Blick auf Gegenwart und Zukunft abschneidet und sich seiner vollen Wirklichkeit stellt. Nachdem mit Blochs Wort "der fascistische Betrug in bar an den Tag gekommen" ist, könnte in der Tat "viel Unwissenheit [...] vergehen". Weder andere Schrecken. die die Gesellschat'tsgeschichte reichlich hervorgebracht hat und hervorbringt, noch Zeitablauf, noch Verdrängung vermögen jedenfalls die Schrift an der Wand zu löschen. Das Menetekel und die Aufgabe bleiben.(aus: Franz Neumann, Handbuch, Politische Theorien und Ideologien, Stuttgart 1998; Artikel Faschismus von Klaus Fritzsche, S. 320-380, hier: S. 356-367)