Nationalsozialismus und KZ-System
Die Verdrängung selbst der Geschichte des deutschen Faschismus aus dem allgemeinen
Bewußtsein behindert nachhaltig die Möglichkeit, einen Begriff davon
zu erarbeiten. Denn jede Diskussion setzt voraus, daß die Beteiligten viel
mehr über den Gegenstand wissen, als jeweils zur Sprache kommt. Die Diskussion
verschiedener Faschismustheorien setzt z.B. immer die Kenntnis nicht nur dieser
Theorien, sondern auch der von diesen Theorien noch einmal verschiedene Realität
voraus. Nur im Verhältnis von Sache und Begriff läßt sich dessen
Wahrheit vernünftig beurteilen.
Auch die Sache aber stellt sich für das Bewußtsein stets nur in Begriffen
dar. Wo die Sache an sich selbst unbegreiflich ist, weil ihre eigene Struktur die
Voraussetzung aller Erkenntnis; die "adaequatio rei et intellectus", die
Übereinstimmung von Gegenstand und Einsicht prinzipiell ausschließt,
dort tendiert sie dahin, sich der Darstellung und dem Bewußtsein überhaupt
zu entziehen. Das Unbegreifliche ist am deutschen Faschismus aber gerade das Wesentliche.
Ihn zeichnet aus, daß er von keiner Theorie mehr wirklich erreicht werden
kann. Nicht einmal die Konstruktion eines strafenden Gottes - das erste Tasten wie
der letzte Ausweg der Vernunft - vermag die planmäßige, fabrikmäßige
Vernichtung von mindestens 6 Millionen Menschen in jenen sinnvollen Zusammenhang
zu stellen, in dem der Gegenstand allein erkannt werden kann. Die Theorie setzt
einerseits stets ein die Sache unter seinen eigenen, subjektiven Bestimmungen setzendes
Subjekt voraus. Sie beginnt also erst jenseits der Konzentrationslager, in denen
das Subjekt planmäßig vernichtet wird. Die Theorie setzt andererseits
eine Sache voraus, die von den Denkbestimmungen eines auf sie reflektierenden menschlichen
Subjekts nicht völlig verschieden ist: was real keiner menschlichen Logik gehorcht,
kann auch kein Mensch begreifen. Vor einer Institution, in welcher die Unmenschlichkeit
zum Prinzip erhoben ist, muß die Theorie daher kapitulieren.
Das Zurückweichen der Theorie vor dem deutschen Faschismus ist auch Darstellungen
anzumerken, die nicht vorrangig theoretische Ambitionen haben. Z.B. Kogon, dessen
Thema Beschreibung systematischer Menschenvernichtung ist, spricht eigentlich immer
von etwas anderem: von der Organisation des Lagers, von der komplizierten Hierarchie
unter den Henkern, von der ähnlich komplizierten Hierarchie unter den Opfern,
von Kompetenzstreitigkeiten, Kommunikationsproblemen usw. Die Beschreibung erreicht
gewissermaßen nicht den Gegenstand selbst, sondern sie hält bei der minutiösen
Protokollierung der Organisation und Technik inne, die ihn hervorgebracht haben.
Weil aber Organisation und Technik der Menschenvernichtung von der allgemein herrschenden
kaum verschieden sind, erscheint das Lagerleben selbst bestürzend alltäglich
und gewöhnlich. Die Probleme der Opfer und Henker ähndeln einander und
den Schwierigkeiten, die das gewöhnliche Leben so mit sich bringt. Fast könnte
man vergessen, daß es sich bei dem geschilderten organisatorischen Gebilde
um ein Vernichtungslager handelt, und die Schilderung selbst erzeugt auf die Dauer
jene Mischung von Faszination und Langeweile, die Handbüchern und Gebrauchsanleitungen
eigen ist: Man liest begierig weiter, um zu erfahren, wie das Unbegreifliche zustandegekommen
ist, aber was man dabei erfährt, ist eigentlich immer trivial und als Trivialität
unerschöpflich. Am Ende weiß man über die KZ vor allem eins: wie
man sie macht. Der deutsche Faschismus zwingt offenbar das Denken zur funktionalistischen
Regression: statt zu fragen, was er ist und wie er zu beurteilen sei, fragt man,
wie er funktioniert. Die Anpassung der Theorie an ihren unbegreiflichen Gegenstand
und damit ihre Kapitulation ist vermittelt durch einen besonderen Mechanismus der
Angstbewältigung: zum organisatorischen und technischen Problem neutralisiert
und reduziert, verliert die planmäßige Menschenvernichtung ihre Schrecken.
Das Unbegreifliche wird scheinbar nicht begreiflich, es wird sogar gewöhnlich,
und das beruhigt.
Die Pointe dabei ist nun, daß diese lähmende, abstumpfende Alltäglichkeit
des unbegreiflichen Verbrechens tatsächlich nationalsozialistische Realität
ist, und gerade dies macht die Differenz der planmäßigen Menschenvernichtung
zu all den Untaten aus, die in der Geschichte immer wieder begangen worden sind.
Der nationalsozialistische Henker war gerade nicht der mittelalterliche, der zur
Strafe für sein entsetzliches Handwerk außerhalb der Stadtmauern leben
mußte und von jedem gemieden wurde. Die Menschenvernichtung der Nationalsozialisten
war kein Blutbad, kein grausamer Racheakt, kein sadistischer Exzeß: an den
Händen eines Himmler klebt nicht einmal Blut. Vielleicht das Erschreckenste
an den KZ ist die geradezu aufopfernde organisatorische Fürsorge, mit der die
Henker ihre Opfer bedachten. Bevor man sie umbrachte, wurden sie immerhin ordnungsgemäß
verbucht. [Das gilt allerdings nicht für die Menschen, die direkt in den Tod
gingen, ohne Aufenthalt im Lager MB]
Es ist die planmäßige technische und organisatorische Rationalität
dessen, was jeglicher Vernunft spottet und prinzipiell unbegreiflich ist, wodurch
sich der deutsche Faschismus von allen vorausgegangenen, auch grausamen und terroristischen
Gesellschaftsformationen unterscheidet: Das Fortdauern der Zivilisation in der Barbarei,
das Fortdauern der Rationalität im Wahn. Die barbarische und wahnhafte Regression
bezieht genau aus dem Fortschritt der Produktivkräfte - Inbegriff von Zivilisation
- ihre apokalyptische Macht. Die Regression ist stets unausdenkbar viel schlimmer
als der ursprüngliche Zustand, zu dem sie zurückführt. Die Wahngebilde
und die Barbarei der Primitiven waren verhältnismäßig harmlos. Den
Untaten der Kannibalen waren durch die Reichweite der Füße, ihrer Waffen
und durch die Kapazität ihrer Mägen enge Grenzen gesetzt. Erst der Wahn,
auf den eine hochkapitalistische Gesellschaft regrediert, kann 6 Millionen Menschen
planmäßig und weitere 44 Millionen außerplanmäßig vernichten.
Ein paranoischer amerikanischer Präsident schließlich, der neben dem
roten Telefon sitzt und sich vom Rest der Welt angefeindet fühlt, könnte
sich leicht dieses Rests und seiner selbst entledigen. Wie ernst diese Gefahr in
den letzten Tagen von Nixons Amtsperiode genommen wurde, beweist der Befehl des
damaligen US-Verteidigungsministers Schlesinger an alle Truppenteile, keine ungewöhnlichen
militärischen Kommandos ohne seine Konsultation auszuführen. (Vgl. FR
vom 11.1.76, S.2: Was tun, wenn ein Präsident "durchdreht")
Die nationalsozialistische Barbarei, die gerade aus dem Fortschritt ihre vernichtende
Kraft bezieht, bringt keine Realität hervor, die ebenso unbegreiflich wie _kein_
Mythos ist. Die vorfaschistischen Untaten standen unter dem unmittelbar nicht aufzulösenden
Bann der Hilflosigkeit, mit der die noch ganz in Natur befangenen Menschen ihre
Geschichte machten. Man kann diese Untaten daher erklären, wenn man die ihrerseits
unbegreifliche, schlicht vorgegebene Prämisse akzeptiert, daß die fortschreitende
Emanzipation schleppend und stolpernd durch ein Meer von Blut, Schweiß und
Tränen waten muß. Die NS-Verbrechen hingegen beginnen an dem Punkt der
Geschichte, wo die Befangenheit der Menschen in Natur materiell aufgehört hat:
wo die Produktivkräfte so weit entwickelt sind, daß alle glücklich
leben könnten, ohne daß einer den anderen zu diesem Zweck erniedrigen,
unterdrücken, ausbeuten oder gar abschlachten muß. So ist der Faschismus
gerade kein auf der Menschheit lastendes Verhängnis, kein unabwendbares Schicksal
wie die historische Arbeit, die stets ihre Opfer gefordert hat. Die Opfer des Nationalsozialismus
zählen nicht zu denen in der Geschichte, die ebenso notwendig, wie nicht zu
rechtfertigen sind. Trauervolles Eingedenken allein ist ihnen gegenüber fehl
am Platz. Sie sind nicht der furchtbare, aber offenbar unvermeidlich gewesene Preis
des Fortschritts, nicht vergleichbar den maltraitierten Sklaven,, die man beim Betrachten
der großartigen Dinge, die sie schufen, nie ganz vergessen sollte. Die Opfer
des deutschen Faschismus sind gleich auf doppelte Weise erledigt: sie sind nicht
einmal Opfer.
Der Nationalsozialismus ist nicht wie etwa der Zwang zur Arbeit, wie die Kriege
naturwüchsiger Gemeinwesen ein Produkt der Natur, welche die Menschen nicht
selbst gemacht haben, sondern er ist Produkt einer Geschichte, welche die Menschen
sehr wohl selbst gemacht haben. Es fehlt gewissermaßen der Rest _objektiver_
Unvernunft, jener Rest unmittelbar nicht aufhebbarer Abhängigkeit vom Naturzwang,
der in allen vorfaschistischen Gesellschaftsformationen die unbegreiflichen Untaten
gleichzeitig als mythisches Verhängnis und als sinnvoll und notwendig erscheinen
ließ. Die Unvernunft ist hier nicht eine Bestimmung der Sache, mit der das
Subjekt sich abfinden muß, sondern eine Bestimmung des Subjekts selbst. Für
den deutschen Faschismus tragen die Menschen, die ihn gemacht, und diejenigen, die
ihn geduldet haben, allein die Verantwortung; sie können sich auf kein Schicksal
herausreden. Es ist zwar nicht zu rechtfertigen, aber es ist einsichtig, wenn der
eine, um sich nicht selber schinden zu müssen, den anderen dazu zwingt. Es
ist hingegen völlig absurd, wenn ein Staat, in dessen Autarkiepolitik gehorchenden
Entwicklungslaboratorien das Plastic-Zeitalter schon begonnen hat, für die
Isolation der U-Boote das Haar der KZ.Opfer verwendet und mir ihrer Asche die Felder
düngt.
Gerade daran, daß der deutsche Faschismus grundlos verbrochen wurde, daß
er nicht unter der Herrschaft eines der Vernunft allein unzugänglichen Zwangs
entstand, beißt sich die Theorie die Zähne aus. Theorie setzt immer den
Gegenstand unter die Denkbestimmungen der Vernunft. Sie kann ihn nur erreichen,
wenn er selbst diese Vernunft, zumindestens partielle und gebrochen, real verkörpert.
Indem beispielsweise Marx das Kapitalverhältnis als Ausbeutungsverhältnis
kritisiert, rechtfertigt er es zugleich als Produktionsverhältnis, welches
für die Entwicklung der Produktivkräfte, auf welcher sich die Abschaffung
von Ausbeutung und Unterdrückung allein gründen kann, notwendig gewesen
war. Das falsche gesellschaftliche Verhältnis der Menschen, wofür diese
selbst verantwortlich sind, findet hier seine Erklärung und seinen Grund im
falschen Verhältnis des Menschen zur Natur, wofür jene nicht verantwortlich
sind: sie haben weder die Natur so eingerichtet, daß man sich an ihr abplagen
muß, um sie essen zu können, noch haben sie sich selbst als hilflose
Naturwesen in die Welt gesetzt. Ratio und Rationalisierung hängen offenbar
unauflöslich zusammen, und jede Kritik setzt die Rechtfertigung des kritisierten
Gegenstands schon voraus.
Der Umstand, daß man die Vernunft in der Geschichte stets unterstellen muß,
wenn man die unterstellte Vernunft mit der Realität verwechselt. So kommt es,
daß ausgerechnet Vulgärmarxisten, welche die Unterscheidung von Begriff
und Sache und also den Unterschied zwischen der wirklichen Idiotie der wirklichen
Geschichte und der Vernunft, mit der Marx diese idiotische wirkliche Geschichte
begreift, nicht gelernt haben - daß ausgerechnet Marxisten dem deutschen Faschismus
die weltgeschichtliche Absolution erteilen, und zwar gerade dort, wo sie ihn als
besonders ausgekochten, besonders teuflischen Trick des Kapitals verdammen.
Der Faschismus war nichts als Menschenwerk, dies offenbar sich noch in der jeglicher
Dämonie spottenden "Banalität des Bösen". Er kann sich
real auf keine höhere Gewalt berufen. Damit aber schlägt jede gesellschaftstheoretische
Kritik des Faschismus, die, wie gezeigt wurde, ohne die Konstruktion einer höheren
Gewalt nicht existieren kann, in Affirmation um, in reine Rechtfertigung dessen,
was um keinen Preis zu rechtfertigen ist. Die Theorie sucht nach Gründen. Für
die planmäßige Vernichtung von 6 Millionen Menschen, die noch nicht einmal
zum Vorteil irgendeines anderen ausgebeutet, sondern einfach nur vernichtet werden,
gibt es aber keine Gründe. Und jeder Versuch, sie dennoch zu konstruieren,
muß zurückgewiesen werden.
aus: Wolfgang Pohrt, Ausverkauf. Von der Endlösung zu ihrer Alternative
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Most recent revision: April 07, 1998
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Martin Blumentritt