Arbeitslosigkeit
Wie intensiv die seelische Bindung der Heutigen an den Arbeitsvertrag geworden ist,
zeigt sich erst dort, wo Arbeitslosigkeit sie durchschneidet. Wenn arbeitslos Gewordene,
auch wo sie finanziell noch einigermaßen über die Runden kommen, rapide
an Ausdauer, Konzentration und geistiger Beweglichkeit verlieren und, ähnlich
wie Rentner, beginnen apathisch zu werden, so kommt nur an dem Tag, daß der
Arbeitsvertrag ein Tropf war, an dem ihre Seele hing und aus dem sie all die Tatkraft
und Energie zogen, die als ihr Eigenstens erschien. Die vom Tropf Abgesetzten sind
die Verworfenen, der Auswurf des Kapitals, der nicht länger in der Lage ist,
sich sein Leben zu verdienen und daher nicht zu leben verdient. Die Arbeitslosenunterstützung,
die gezahlt wird, solange noch genügend andere arbeiten, ist das Gnadenbrot
für die in Ungnade stehenden, das äußere Zeichen ihrer Verworfenheit.
Das innere Zeichen ist Leere. Das Gefühl unnütz zu sein, trügt die
Arbeitslosen nicht. Indem ihre brachliegenden seelischen Kräfte wie ungenutzte
Maschinen und unverkaufte Produkte vergammeln, stellt sich heraus, daß der
Antrieb, der die Psyche einst in Schwung hielt, kein anderer war als der, der auch
Maschinen laufen und Waren zirkulieren läßt. Ein Subjekt, das durch Arbeitslosigkeit
zerfällt, war schon vorher keines mehr; seinen Zusammenhalt stiftete dasselbe
ökonomische Gesetz, das ihn nun auflöst.
So plaudert die Arbeitslosigkeit die Wahrheit über die Arbeit aus. An den Arbeitslosen
zeigt sich ungeschminkt der Fluch der Arbeit, der sich den Arbeitenden als der Segen
präsentiert, den es festzuhalten gilt. Die Arbeitslosigkeit ist aber nicht
nur der Ernstfall der Arbeit, sondern auch die erzwungene Parodie auf die Kontemplation.
Zeit zur Versenkung ins an sich Wahre hätten die Arbeitslosen schon, und von
daher die Möglichkeit, sich einen angemessenen Begriff von gesellschaftlichen
Leben zu machen - aber es fehlt ihnen an den entscheidenden äußeren und
inneren Voraussetzungen. Wo die dauernde Sorge ums Materielle quält, kann sich
kein spekulativer Gedanke entfalten, und nur aus dem gefestigten Ich, das seine
Reflexion nicht davon abhängig macht, was sie einbringt oder abwirft, kann
er hervorgehen, nicht aus einem Bündel anwendbarer Qualifikationen, als das
die Individuen heute gewöhnlich die Ausbildungsstätten verlassen. So findet
die Seelenruhe, aus der einst die kontemplative Versenkung nährte, ihr Zerrbild
im dumpfen Dahinbrüten derer, die sich zur Hingabe an eine Sache nicht mehr
zusammennehmen können. War die vita contemplativa mehr ein imaginiertes Glück
als ein wirkliches, so kann die vita passiva sich nicht einmal mehr zur Imagination
von Glück aufschwingen.
Die Arbeitslosen merken daher gewöhnlich nichts von der beglückenden Möglichkeit
der Kontemplation, die in ihrem Dasein steckt. Die Arbeitenden aber wittern sie.
Der hartnäckige, durch gute Zureden nicht zu beseitigende Verdacht, Arbeitslose
seien im wesentlichen Faulpelze und Schmarotzer, entspringt dem Neid auf die, die
nicht schuften müssen. Die Sehnsucht nach der Erlösung von der Arbeit,
die sich die Arbeitenden nicht eingestehen dürfen, weil Arbeit doch ein Segen
ist, schafft sich Luft im Ruf nach Arbeitslagern für die, denen der Segen vorenthalten
bleibt.
In der kapitalistischen Arbeitsgesellschaft findet eine denkwürdige Verkehrung
statt. Der Fluch der Arbeit realisiert sich als Segen, die Freistellung von der
Arbeit realisiert sich als Fluch, und der Mechanismus, der diese Verwirrung stiftet
und darin doch so klar und unerbittlich begnadet und verwirft wie ein calvinistischer
Gott, ist nicht ein bloßes Denkprodukt, sondern produzierte Realität,
die jeder zu spüren bekommt. In ihrer Gottähnlichkeit wie in ihrer Kraft
zu Konfusion und Verblendung vereinigt sie die beiden zentralen Prädikate auf
sich, die die Theologie einst dem Widersacher Gottes zugedacht hatte, und es ergibt
sich der erstaunliche Sachverhalt, daß der Teufel, von dem während der
christlichen Gesellschaftsepoche nur der Begriff existierte, sich in der nachchristlichen
auf originelle Weise inkarniert. Und ausgerechnet während das geschieht, geben
die offiziellen Vertreter der Theologie immer häufiger die Parole aus, an den
Teufel müsse man, aufgeklärt wie man heute sei, nicht mehr glauben. Im
Geist dieses neuen Unglaubens sind auch die jüngsten kirchlichen Verlautbarungen
über Arbeit und Arbeitslosigkeit verfaßt. Der Teufel kommt in ihnen nicht
vor - wohl aber das Recht auf Arbeit. Wer es fordert ist schon den diabolischen
Schein aufgesessen, mit dem das Kapitalverhältnis die Arbeit umgibt. Sie wird
als Segen, als Gnade anerkannt - und soll zugleich ein Recht werden, während
es doch zum kleinen Einmaleins der Theologie gehört, daß auf ein Recht
jeder Anspruch hat, auf Gnade niemand. Das Kapital, das nicht davon abläßt,
nach seinen Fähigkeiten und nach seinen Bedürfnissen Lohnarbeit zu kaufen
oder liegenzulassen, muß den Menschenrechtlern daher selbst Nachhilfeunterricht
erteilen und klarstellen, daß Gnade nie Recht werden kann, aber stets von
Verwerfung begleitet ist: Arbeitslosigkeit ist kein Betriebsunfall, sondern gehört
zu den laufenden Betriebskosten; keine Krise oder Rationalisierung ohne Entlassungen,
und kein Kapitalprozeß ohne Krise und Rationalisierung.
Das wissen alle Machthaber ebenso wie alle kirchlichen Würdeträger. Wenn
letztere daher auf eine Solidargemeinschaft von Arbeitenden und Arbeitslosen dringen
und die Gleichwertigkeit beider proklamieren, so fordern sie nicht eine solidarische
Gesellschaft, sondern die Bereitschaft, die ökonomische Verwerfung als alternative
Gnade zu akzeptieren und sich so von dem schrecklichen Los zu befreien, mit seinem
Los hadern zu müssen. Der Gott, von dem man sich da mit und ohne Arbeit gleichermaßen
angenommen wissen soll, ist zwar als der biblische gemeint, aber er sieht der Macht,
die tatsächlich Arbeit austeilt und vorenthält, verteufelt ähnlich.
An den Fluch, den er einst über die Arbeit verhängt hat, kann er sich
nicht mehr so recht erinnern; sie ist sein gnädiges Geschenk. Und mit der vita
kontemplativa als einem Fingerzeig für ein heute realisierbares Jenseits von
Arbeit hat er nichts im Sinn; das ist Kirchengeschichte. Gegen die gesellschaftliche
Konfusion, die Fluch als Segen erscheinen läßt und Segen als Fluch realisiert,
hat er hingegen nichts einzuwenden, er bereichert sie vielmehr durch die Einladung,
den Fluch als alternativen Segen anzunehmen - ohne ihn dadurch zu bagatellisieren,
versteht sich. Wenn wundert es, wenn sich für die moderne Theologie der Teufel
erübrigt? Er ist von ihrem Gott nicht mehr zu unterscheiden.
Nicht die Preisgabe der Idee des Teufels ist aufklärerisch, sondern die geistige
Durchdringung des diabolischen Charakters, den das gesellschaftliche Ganze angenommen
hat. Diabolos heißt wörtlich übersetzt, Durchbringer, Durcheinanderbringer,
Entzweier, Zerrütter, und daß die bestehende Weltordnung nicht nur zahllose
Menschen in materielles Unglück stürzt, sondern auch ihren Geist in Verwirrung
über die Ursachen und Art ihres Unglücks - dafür ist die weltweit
erhobene Forderung eines Rechts auf Arbeit nicht das schlechteste Beispiel. Sie
illustriert schlagend, was Horkheimer und Adorno meinten, als sie die hochentwickelte
kapitalistische Gesellschaft einen "Verblendungszusammenhang" nannten.
Gott ernstnehmen heißt den Teufel ernstnehmen. Der nämlich ist immerhin
objektive Realität. Das Diabolische im Bewegungsgesetz der modernen Gesellschaft
läßt sich beweisen, Gott läßt sich nicht beweisen. Aber den
Teufel beim Namen nennen kann man nicht, ohne daß die Idee Gottes mitschwingt.
Deren Quintenssenz, die Versöhnung von Geist und Natur, ist der Fluchtpunkt
unverkürzten Denkens. Aber durch keine Hirnakrobatik läßt sich dartun,
daß diese Versöhnung auch wirklich zuteil wird, wenn man nur aufs richtige
Pferd, den richtigen Glauben, die richtige Religion setzt. Gewiß ist lediglich,
daß ihre volle Verwirklichung alle menschlichen Kräfte übersteigt.
Zur Versöhnung gehörte, daß das Seufzen der Kreatur glücklich
verstummte, daß der Fluch der Vergänglichkeit, Gebrechlichkeit, Bedürftigkeit
und Arbeit verschwände, und das können Menschen nicht leisten. Aber ihre
Spezies hat durchaus genügend geistige und materielle Kräfte entwickelt,
um ihr Dasein der Versöhnung ungleich näher zu bringen als es ist. Es
müßte nicht sein, daß der von Menschen in Gang gesetzte Diabolos
sich zum Schlußpunkt der Weltgeschichte setzt, wie es nicht sein müßte,
daß die Freistellung von Arbeit als Schrecken und der Fluch der Arbeit als
Segen erfahren wird. Solange die Mehrheit sich freilich nicht entschließen
kann, dem diabolischen Bewegungsprinzip der Gesellschaft ins Auge zu blicken, solange
sie nicht wahrhaben will, was doch offensichtlich ist, nämlich daß Arbeitslosigkeit
zur kapitalistischen Lohnarbeit gehört wie die Rückseite der DM zur Vorderseite,
und daß entweder beide verschwinden oder keine - solange bleibt der Exorzismus,
auf den es ankäme, aus.
aus: Christoph Türcke, Kassensturz 114ff
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Most recent revision: April 07, 1998
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Martin Blumentritt