Die (ver)harmlose(nde) Hitlerkritik

Der Gestus mit dem die unverbindliche Kritik sich mit leeren Phrasengedresche als Widerstandskämpfer gegen Nazideutschland mit mehr als fünfzig Jahre Verspätung ins Zeug wirft, ist umgekehrt proportional zu der Verbreitung von Naziideologie, wie sie in zunächst homöopathischen Dosen durch beispielsweise die Schülerzeitung "Junge Freiheit" betrieben wird.
Würde man Otto Normalverbraucher fragen, ob er gegen Nazis sei, dann würde er diese Frage ohne Zweifel bejahen. Auf die Frage, was er denn dagegen hätte, erhält man nur betretendes Schweigen, vielleicht ein "das was sie mit den Juden gemacht haben, das war nicht so gut" und man kann froh sein, wenn dann kein "aber" folgt, wie er hat aber Autobahnen gebaut und die Frauen konnten - was ja nachweislich nicht stimmte - nachts allein auf die Straße gehen. Er hat allenfalls den Exzeß der Nazideutschen im Gedächtnis, nicht jedoch die Bedingungen und Ursachen, die ihn ermöglichten und hat allenfalls Assoziationen mit der Nazipropaganda, wenn er von Rassen, von Nation und Volksgemeinschaft, hört.
So ist er hilflos, wenn dieselben Inhalte heute wieder publiziert werden, von denen er so gut wie nichts weiß und die er spontan ablehnen, wenn er sie auf die möglichen Folgen abklopfen würde. Als das ansatzweise, nicht mit großem rhetorischen Geschick, mal geschah, als tatsächlich mal von den Täter die Rede war, wandte man sich nicht bloß kopfschüttelnd ab. Bei der damals Aufsehen erregenden Rede des Bundestagspräsidenten Phillip Jenninger, liefen die ersten entrüstet raus, als noch nicht einmal die Worte gefallen waren, die man für anstößig erklärte. Dabei hatte er sich nur eines schuldig gemacht, er hatte sich ernsthaft mit den sich jährenden Dingen beschäftigt und verweigerte sich der Betroffenheitsheuchelei und vermied die üblichen Weizsäckereffekte, die die unkritische Öffentlichkeit erwartet, um sein Wir-Gefühl zu stärken. Dies hat Roger Willemsen triftig erläutert:
"Wenn ein Politiker wirklich einmal von etwas erschüttert wäre und eine Sache rasch und einschneidend verändern wollte, würde man unweigerlich sagen: er ist für sein Amt nicht geeignet. Insofern ist ein Politiker per definitionem alles andere als glaubwürdig. Er sagt, er trauert, aber er trauert nicht, er sagt er ist betroffen, aber betroffen ist er nicht. Er darf nie beim Wort genommen werden, denn er redet Fiktion, und mehr als jeder andere ist der Präsident das Produkt seiner eigenen Erzählung.
In Wirklichkeit bestand der Weizsäcker-Effekt darin, daß es niemand kümmert, ob er die Wahrheit sagt, die wenigsten wissen ja überhaupt, was er sagt, sind aber so sicher, es ist das Gute, weil sie begriffen haben, was eine schöne Geschichte bei Zuhörer voraussetzt, damit sie wahr wird: Glaube. Weizsäcker versteht sich darauf, ein Verhalten herauszufordern, das man nur als Glaube bezeichnen kann. Wenn aber Glaube eine eigene Vernunft besitzt als eine Form des Nicht-Wissen-Könnens, dann ist er eine Form von Ignoranz als Nicht-Wissen-Wollen. Exakt dieses Verhalten fördert der Präsident sich und der Welt gegenüber, wie ich an Beispielen zeigen kann.
Weizsäcker wurde in massenpopulärer Weise gut durch beherzte Kritik am Nationalsozialismus. Nun ist in Deutschland kein Titel so billig zu haben wie der, ein aufrechter Demokrat zu sein, wenn man nur hingeht und natürlich ohne kritische Verbindlichkeit gegenüber dem eigenen Staat, Hitlerdeutschland kritisiert: "Gewaltherrschaft", "Unrechtsregime", "menschenverachtendes Regime", "Irrweg der deutschen Geschichte", eine rhetorische Steigerung des Drastischen wie bei den Titeln von Kung-Fu-Filmen: "Die Killerkralle" oder "Täglich knirschen die Knochen". In den letzten Jahren ist diese Form der saftigen Hitlerkritik immer heftig geworden, und es könnte garadezu der Eindruck entstehen, keine Zeit habe Hitler mehr gehaßt wie unsere, die wie zum Beleg ihrer Harmlosigkeit zeitgleich die Republikaner hervorbringt und exakt deren Gesinnungen ja seit Jahrzehnten in der FAZ und anderenorts publiziert. In Wirklichkeit besitzt die Kritik am Nationalsozialismus für die Demokraten vor allem einen unschätzbaren Vorteil: sie ist völlig folgenlos, trifft auf keinen nennenswerten Widerstand, wirft aber ein starkes moralisches Profil ab. Deshalb werden in der populären Faschismuskritik nur noch rhetorische Schlachten um die Prädikate geschlagen: eloquent bereut, virtuos verurteilt, brilliant verabscheut, und da Weizsäcker als der Titelverteidiger im deutschen Volkstrauern mit der gravitätischen Unverbindlichkeit spricht, die man als Ausdünstung seines Amtes regelrecht genießt, erlaubt man ihm ein Palaver von Machtworten, in dem die Geschichtsschreibung sachlich wieder auf ihre Vor-Hitler-Statuten zurückgebracht wird: da gibt es verbrecherische und paranoide Einzeltäter, Machtergreifungen, nicht: Machtübernahmen, gibt es "Gewalt, Not und Tod" und eine völlig erneuerte glanzvolle Epoche der Demokratie, die als das schlechthin Andere und Gute aus dem Trümmerstaat der Kriegszeit aufsteht.
Die Wunde Auschwitz besteht für die Patrioten darin, daß der Deutsche nicht in Identität mit seiner Geschichte leben, daß er sich nicht positiv herleiten kann. Weizsäckers Aufgabe besteht darin, die Wunde zu schließen und diese Identität zu stiften, etwas, das nur gelingt, indem man an Auschwitz erinnert, um es durch Erinnerung zum Verschwinden zu bringen. Sicherlich gehört es zu den fatalsten Folge-Lasten Hitler-Deutschlands, daß es den Begriff der politischen Kritik in der BRD völlig ausgehöhlt und durch Sentiment und Gutwilligkeit ersetzt hat, weshalb die schlimmsten Ideologen unser Zeit die Hitler-Kritik als Gütezeichen auf der Stirn tragen und man geradezu erwarten kann, daß die Radikalen des Inhumanismus, sondern aus der Kritik am Nationalsozialismus aufstehen werden. Ohne öffentlich wenigstens einmal richtig böse auf Hitler gewesen zu sein, kann man in Deutschland nicht gut werden. Deshalb ist hier keine Gesinnung so leer wie diese."(Roger Willemsen, zitiert aus: Denn Dein ist das Reich. Richard Weizsäcker, in: Gemeinsam sind wir unausstehlich. Die Wiedervereinigung und ihre Folgen)
Die berechtigte Frage, wie der "Völkische Beobachter" aussehen würde, die Broder in "Erbarmen mit den Deutschen" stellte, daß "Verlag und Redaktion" versucht hätten "sich den Verhältnissen anzupassen, ohne allzuviel Substanz aufzugeben", dürfte sich leicht beantworten lassen, so wie die Schülerzeitung "Junge Freiheit", die so etwas wie "Nationalsozialismus mit menschlichem Antlitz" propagiert, freundlichen Rassismus und Antisemitismus und völkischen Nationalismus, der sich vom dem der 20er Jahre nicht unterscheidet, aber sich für neu ausgibt. Er wenn Ausländerwohnheime abgefackelt werden hat man diese Art von Propaganda überhaupt bemerkt und man macht sich Gedanken darüber, ob CDU-Abgeordnete es nicht lieber unterbleiben lassen sollten, im neudeutschen völkischen Beobachter Interviews zu geben oder gar eigene Beiträge.
Natürlich sind die Deutschen nicht ausländerfeindlich, wenn 15 Millionen jährlich nach Spanien, die griechischen Inseln, in die Türkei oder auf die Bahamas in den Urlaub fahren. Keine Mühe wird gescheut, um auf Mykonos Calamares oder im Iran Falafeln zu essen, aber wehe wird die deutsche Bratwurstkultur mit artfremden Delikatessen wie Döner oder Falafeln vor der eigenen Haustür provoziert. Im griechischen Restaurant schwelgt man dann in den Träumen vom nächsten Urlaub und kann dann über den Sieg des US-Imperialismus im Kulturkampf zischen Hamburgern und Eisbein mit Sauerkraut sich beklagen, die zum Symbol für eine Eßkultur geworden wären, angesichts dessen Zustand Macdonalds ein kulinarische Bereicherung und Entwicklungshilfe in Sachen deutscher Küche darstellt.
Daß bevor der letzte "Ausländer-raus"-Ruf verhallt die deutsche Wirtschaft zusammenbrechen würde, wenn keine Ausländer mehr sich in Deutschland aufhielten, weiß jedes Kind. Und auch für den psychischen Haushalt wäre das abträglich, wenn es keine Ausländer gebe, auf die man herabsehen könnte, man müßte sich zum Diskriminieren Finanzbeamte, Männer mit langen Bärten, Frauen mit kurzen Röcken oder was auch immer für die kollektiven Affekte aussuchen.
Broders Vorschlag, den Nazis wenigstens probeweise mal sechs Wochen zu folgen und alle Ausländer aus dem Lande zu bitten und dann in der Zeit alle Demoskopen auf die Bevölkerung anzusetzen, ob es den Leuten dann besser ginge, dürfte - nachdem das Asylrecht faktisch abgeschafft wurde - ja schon abschlägig beantwortet werden können. Aber wenn der Rest auch noch für kurze Zeit auf einmal abwesend wäre, dann könnten sie angesichts dessen, daß die Unzufriedenheit keinen Deut geringer wäre und die Deutschen sich gegenseitig an die Gurgel gehen müssen, beruhigt zurückkehren und den Vorschlag unterbreiten, "Deutsche raus", damit endlich mal Ruhe und Ordnung herrsche. Denn an ihnen - so wird man dann gar nicht mehr abweisen können - hat die Unzufriedenheit nicht gelegen.
Daß die Rechte eine Feigheitsideologie vertreten, sieht man allein schon daran, daß ihre Lieblingsobjekte ihrer aggressiven Gelüste stets Schwächere, Hilflose, Minderheiten sind, stets such ein abstraktes Kollektiv sich zu konkretisieren, indem es sich im gemeinsamen Draufschlagen Gemeinsamkeitserlebnisse schafft und es ist zu erwarten, daß die Eigenen dran sein würden, wenn die Fremden schon ausgemerzt oder vertrieben wären. Die Feigheit zeigt sich auch daran, daß es meistens Männer sind, die vor Frauen Kastrationsängste haben, insbesondere, wenn sie sich nichts gefallen lassen und selbstbewußt auftreten. Latente, vor sich verborgene, Neigungen zur Homosexualität, können sie nicht wie Schwule oder Lesben zärtlich, sondern nur aggressiv ausleben, indem sie üble Späße treiben.
Ihre Gegner müssen sie immer etwas kleiner machen, um sich selber die Angst auszureden oder sie müssen sie gewaltig in ihrer Macht überschätzen.
Da die Wiedervereinigung, die die Bürger haben wollten, nur Kummer gebracht hat, weil sie Exemplare ihresgleichen ohnehin partout nicht ausstehen können, hilft nur noch ein gemeinsamer Feind, um die ungeliebte Bevölkerung und ihr ungeliebtes Selbst im nächsten Krieg aufs Spiel zu setzen. Und dazu muß es erst einmal die Schuld für die letzten Weltkriege mindern und relativieren, um vor sich nicht ganz so mies dazustehen. Denn die Wahnidee der Nation ist keinesfalls eine manische, sondern eine depressive und der Wüterich ist auch ein Trauerkloß, der die anderen für unausstehlich hält und gern den Anderen die Schuld dafür gibt, daß er sie verfolgt und diskriminiert.
Da die subjektlose Krise des Weltsystems endgültig dem Nationalismus die Substanz geraubt hat, die sie im Rahmen der frühen Industrialisierung noch hatte, kann sie auch nur manische Erscheinungen zeitigen, wenn sie die Individuen am depressivsten sind, wenn sie am unschuldigen Opfer ihrem Selbsthaß exekutieren.

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Most recent revision: April 07, 1998

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