Vom gefräßigen kleinen Dummerchen

Es folgt ein deutsches Märchen (geschrieben 1990 als alle anderen noch anders dachten) So gut wie alles ist mittlerweile eingetreten, so daß man den Texte getrost zu den Prophetien rechnen kann. War die Wiedervereinigung eine Rache von Honnegger oder Gorbi oder Maggi Thatcher? Warum hat man die Deutschen so elendig in den Nationalismus driften lassen und damit aufs Glatteis geführt, damit sie sich endlich selbst zerstören. Haben sie gewußt, daß ein Deutscher nicht eher ruht bis "alles in Scherben fällt" und sich darauf verlassen? Der Nationalismus ist nicht nur für Deutschland der Todesstoß, er hat alles Elend dieses Jahrhunderts fabriziert. Kein Hitler, kein Stalin, kein Polpott ohne ihn. Erst wenn wir uns von Nationalstaat verabscheiden werden, kann die Menschheit vor dem Untergang bewahrt werden. Das hat ja jeder bei den letzten Klimakonferenzen gesehen. Die notwendigen Maßnahmen unterbleiben einzig, weil der Nationalstaat immer noch verhindert, daß global gedacht _und_ gehandelt wird. Immernoch wird entweder national gedacht und gobal gehandelt: Krieg oder global gedacht und national gehandelt: Papiertiger.
Dann viel Spaß beim Märchen

Es war einmal ein gefräßiges kleines Dummerchen, das im Westen saß udn wenn es an sein Breichen dachte, bekam es glänzende Auge. Der politische Zusammenbruch des Ostblocks werde, so träumte ihm, das Territorium samt Bewohnern ökonomisch in ein herrenloses Gut verwandeln, welches auf seinen künftigen Besitzer wartet wie ein Märchen die Braut auf den Bräutigam. Zur Verteilung stünden demnach bereit: Ein riesiger Absatzmarkt ohne Sättigungsprobleme; phantastische Anlagemöglichkeiten; ein unerschöpfliches Reservoir an billigen, willigen Arbeitskräften; ein gigantisches Rohstofflager.
Und viel, viel mehr erwartete unser kleiner Nimmersatt noch. Natürlich würde er den allergrößten Löffel schwingen, weil, wie er dachte, a) die Bundesrepublik wegen ihrer geographischen Lage besonders kräftig zugreifen kann - sie grenzt unmittelbar an den Ostblock an; weil b) die Bundesrepublik die führende Industriemacht Westeuropas ist und der Boß beim gemeinsamen Beutemachen den Löwenanteil kriegt; weil c) in der einverleibten DDR das bundesrepublikanische Kapital paradiesische Bedingungen für seine Entwicklung findet: Leute, die noch keinen Rasenmäher haben, und von diesen Leuten weder durch Zollschranken noch durch Sprachbarrieren getrennt; weil d) aus den genannten Gründen das wiedervereinigte Deutschland ein Kraftprotz und ein Schlaraffenland werden muß, die Nr.1 bei den olympischen Spielen, beim Bruttosozialprodukt, bei der Kohlförderung, Automobilproduktion und so weiter.
So träumte und zählte unser Dummerschen, und lange ist das noch gar nicht her. Heute lesen wir, um die Stuttgarter Zeitung vom Tag nach Kohls Reise nach Moskau zu zitieren: "Aus dem Jubel, der Begeisterung für die friedliche Revolution in der DDR ist längst Sorge, Niedergeschlagenheit, ja Panik erwachsen. Wie sollen wir die Aufgabe bewältigen, ein schier hoffnungslos darniederliegendens Land wieder aufzubauen? (...) Und wir haben gar keine Wahl: Der Schicksalsgemeinschaft mit den Deutschen in der DDR können wir uns einfach nicht entziehen."
Man faßt es nicht, aber man ahnte es: Keine Freudentänze auf Straßen und Plätzen, die Landsleute stattdessen geplättet, wie von der Schicksalskeule niedergestreckt. Die Kommentatoren drehen ihre Orgel und es klingt wenig hoffnungsfroh, eher so, als würde das Waltsterben durchgehechelt: Sorge, Niedergeschlagenheit, Panik und, schlimmer noch: Was wird aus meiner Rente?
Schwer zu sagen, in der Tat, weil unser Trauerklößchen, als es noch ein gefräßiges kleines Dummerchen gewesen war, übersehen hatte, daß a) das wiedervereinigte Deutschland keineswegs eine größere BRD sondern ein weder politisch noch ökonomisch berechenbares Gebilde wäre, und daß b) die vom Kapital benötigten politischen Verwertungsbedingungen sich keineswegs gleichsam naturwüchsig aus dem Zusammenbruch der kommunistischen Herrschaft ergeben werden. Wo das Kapital damals für die Zukunft mächtige Verwertungschancen sah, bilden sich in Wahrheit zwei Krisenherde, die es selbst und mit ihm die Menschheit ernsthaft bedrohen könnten, insofern das alte kapitalistische Entwicklungsprinzip Sanierung durch Konkurs, d.h. Rettung durch Untergang oder das Akkumulationsmodell Überproduktionskrise - Hochrüstung - Krieg - Wiederaufbauboom seit der Existenz von Kernwaffen unkalkulierbare Risiken enthält.
Was den Ostblock betrifft, so sollte man sich an die Bilder aus Rumänien gewöhnen, mit dem Unterschied vielleicht, daß künftige Leichenberge kein propagandistisches Spielgeld sondern bare Münze sein werden. Die Gründe:
1. Massive wirtschaftliche Hilfe wird der Ostblock aus dem Westen nicht bekommen. Die Marshall-Plangelder - heute als Vorbild genommen - wurden seinerzeit gezahlt, um ein Bollwerk gegen den Kommunismus zu errichten. Wenn es keinen Kommunismus mehr gibt, entfällt das Motiv für Marshall-Plan-Hilfe. Die Ostkredite an Jugoslawien oder Polen in der Folgezeit wurden gewährt, um im Ostblock Abtrünnige zu ermuntern. Seit es keinen Ostblock mehr gibt, entfällt das Motiv, ihn durch finanzielle Belohnung von Abtrünnigkeit aufbrechen zu wollen. Als braves Kind bekam Polen seinen Zucker nur, solange es die UdSSR in der Rolle des bösen Buben gab.
2. Auch Marshall-Plan-Gelder in astronomischer Höhe wären kein Ersatz für die Bedingungen, welcher die Industrieproduktion explodieren läßt, setzt einen längeren und umfangreichen Krieg voraus, in welchem vorhandene Sachwerte gründlich zerstört wurden. Kurzfristig ist der Weltmarkt dann Anbietermarkt, auf dem Außenseiter Karriere machen. Heute hingegen bietet der Weltmarkt Newcomern keine Chance, und der Ostblock dürfte bald das ökonomische Schicksal afrikanischer oder lateinamerikanischer Elendsregionen teilen, die für das Kapital nur von minderem Interesse sind, weil man dort nichts verkaufen und deshalb auch nichts produzieren kann.
3. Der Zusammenbruch der kommunistischen Herrschaft im Ostblock bedeutet demnach das Heranrücken der Dritten Welt an die Metropolen, bedeutet auch, daß die nahen Metropolen heineingezogen werden können in Konflikte, von deren Schärfe und bestialischer Verlaufsform man sich angesichts von nacktem Elend und vehementem Nationalismen kaum übertriebene Hoffnungen machen kann. Wo immer in seiner bisherigen Geschichte das Kapital sich nicht innerhalb einer bürgerlichen Gesellschaft entwickelt hat, die stark genug war, seiner Entfaltung die Grenzen zu setzen, ohne die es seine eigenen Existenzbedingungen verschlingt, indem es beispielsweise die Arbeiter in Fabriken dezimiert, statt sie nur auszubeuten; wo immer also das Kapital die freie Bahn hatte, die es sich im Osten erhofft, hat es nach dem Prinzip der verbrannten Erde gewütet. Ein von kommunistischer Herrschaft erfolgreich befreites Ungarn wird Uganda ähnlicher sein als der BRD in ihren besten Zeiten.
Was das wiedervereingte Deutschland betrifft, so sollte man sich an die beiden deutschen Reiche erinnern, die beide weder ökonomisch noch politisch ein Erfolg gewesen sind. Für eine Wiederholung spricht:
1. Irrational war in der BRD bereits das Ziel "Wiedervereinigung" selber. Nie wären die USA bereit, Mexiko als ihren 54.Bundesstaat zu akzeptieren, und die EG weigert sich klugerweise, der Türkei den Status eines Vollmitglieds zu geben. In der BRD hingegen brandete zunnächst nur Jubel bei der Vorstellung auf, den eigenen Komfort, den eigenen Lebenstandard mit den Brüdern und Schwestern aus der Zone endlich teilen zu dürfen. Wiedervereinigung kann zunächst nur Verarmung heißen, und äußerstes Mißtrauen ist gegen Massen geboten, die ohne äußerst triftigen Grund ihre eigene Verarmung bejubeln.
2. Der Verzicht des Kanzlers darauf, die Westgrenzen offiziell anzuerkennen, die öffentlich geäußerte Meinung von Waigel, Czaja und Herzog, Deutschland bestünde immer noch in den Grenzen von 1937 - das alles waren keine Marginalien zum deutschen Nationalismus, sondern sein Wesen. Sein Wesen - von Hitler exemplarisch verkörpert - ist es, jeden möglichen Gewinn unmittelbar aufs Spiel zu setzen, weil die Deutschen die vermeintlich von ihnen ersehnte Nation eigentlich nicht wollen und unfähig wären, den erworbenen Besitz in Frieden zu genießen. Was als politische Dummheit erschien - das Beharren auf Gebietsansprüche in einem Moment, wo dies Beharren die angestrebte Wiedervereinigung hätte gefährden können - war in Wahrheit Ausdruck jener Selbstdestruktivität, welche den deutschen Nationalismus von anderen und Augstein von einem chauvinistischen Agitator französischer oder englischer Provenienz untescheidet. D.h. die Deutschen werden, wenn sie ihre Wiederrvereinigung bekommen, und wenn man ihnen auch noch Polen und die Tschechoslovakei offerierte, so unglücklich über die Erfüllung ihres Herzenswunsches sein, daß sie aus lauter Verzweiflung die Ukraine oder die Südstaaten der USA annektieren würden, weil sie nicht ruhen können, "bis alles in Scherben fällt".
3. Das wiedervereinigte Deutschland wäre ein Gebilde, welches im Unterschied zur BRD und zur DDR gleichsam die kritische Masse besitzt, die notwendig ist, damit die skizzierten irrationalen Prozesse ihre Eigendynamik entwickeln können, unkontrolliert durch Rücksichten auf die Weltmeinung oder das Ausland. Unterstützung erhielte die Irrationalität ferner dadurch, daß sie sich auf Tatsachen berufen könnte. Vereint werden die Deutschen sich erst recht als diejenigen fühlen, die man wieder um den Platz an der Sonne betrogen hat, und die sich ihren Lebensraum deshalb erkämpfen müssen. Den Bundesdeutschen nämlich wird es in einem wiedervereinigten Deutschland schlechter gehen, als sie das jemals gewohnt waren; den DDR-Deutschen längst nicht so gut, wie sie das erwartet und gesehen hatten.
4. Das wiedervereinigte Deutschland wäre demnach eine Gesellschaft von ressentimentgeladenen Enttäuschten, hadernd mit ihrem Schicksal, mit Gott und der Welt nach dem Motto: Gemeinsam sind wir unausstehlich, und daran sind die anderen schuld.
War da nicht so ein hämischer Zug um Mitterands Mund, als er der deutschen Einheit keine Steine in den Weg zu legen versprach? Warum zeigte Gorbatschow sich so konziliant, und warum eigentlich hat die Thatcher nicht höher gepokert?
Ein abgekartertes Spiel also, oder wie es den Alliierten am Ende durch List und Betrug doch noch gelang, die Deutschen aufs Glatteis zu führen, sie gleichsam auf ihren eigenen Einheitsträumen ausrutschen zu lassen, nur um sie demütigen und ausplündern zu können. Wurden die heiligsten Gefühle eines Volkes schamlos ausgenutzt?
Wie dem auch sei: Die Nation, die sie haben wollten, hat den Deutschen nur Kummer gebracht, zumal sie einander partout nicht mögen. Sie brauchen nur einen gemeinsamen Feind, und es macht ihnen wenig aus, die ungeliebte Nation, die ungeliebte Bevölkerung dieser Nation und das ungeliebte Selbst in einem Krieg aufs Spiel zu setzen.
So kamm es dann, daß aus dem gefräßigen kleinen Dummerchen ein Trauerkloß, und aus dem Trauerkloß ein großer Wüterich wurde. Wolfgang Pohrt Vom gefräßigen kleinen Dummerchen, das en Trauerkloß wurde und dan ein großer Wüterich (aus: SZ 28.2.1990)

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Most recent revision: April 07, 1998

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