Zum Jubiläum der Reihe "Argumente gegen rechts ein eigener Vortrag gehalten im Winter 1992 auf einer Tagung zu "Gewalt und Zivilisation" in Hamburg
Stumme Gewalt - Manifeste Gewalt
"Es gehört zum Mechanismus der Herrschaft, die Erkenntnis des Leidens, das sie produziert, zu verbieten, und ein grader Weg führt vom Evangelium der Lebensfreude zur Errichtung von Menschenschlachthäusern so weit hinten in Polen, daß jeder der eigenen Volksgenossen sich einreden kann, er höre die Schmerzesschreie nicht."(Adorno, Minima Moralia, S.75)
Im Wettlauf der Eskalation der Gewalt hat sich eine Situation ergeben, in der die Gewalt von unten mit der staatlichen um den besseren Weg kämpft, die letzten Beschränkungen nationalistischer Souveränität durch die Verfassung aufzuheben. Daher wird im ersten Teil das Gewaltpotential von unten aus der Dialektik der Zivilisation hergeleitet, im zweiten das Verhältnis von Recht und Gewalt thematisiert, um im dritten die Möglichkeit zu diskutieren, daß die Dialektik der Gewalt von unten und der von oben, zur Suspendierung der Rechtsform des Gewaltmonopols führen könnte.

Dialektik der Zivilisation
Die Tabuierung der Gewalt, die strukturell bereits mit der scheinhaften Gewaltlosigkeit der Zirkulationssphäre gesetzt ist, vollendet sich mit der Monopolisierung von Gewalt im bürgerlichen Staat. Norbert Elias beschreibt dessen Funktion für die Zivilisierung:

"Wenn sich ein Gewaltmonopol bildet, entstehen befriedete Räume, gesellschaftliche Felder, die von Gewalttaten normalerweise frei sind. Die Zwänge, die innerhalb ihrer auf den einzelnen Menschen wirken, sind von anderer Art, als zuvor. Gewaltformen, die schon immer vorhanden waren, die aber bisher nur mit körperlicher Gewalt untermischt oder verschmolzen Bestand hatten, sondern sich von dieser; sie blieben für sich und in entsprechend veränderter Form in den befriedeten Räumen zurück; am sichtbarsten sind sie für das Standardbewußtsein der Gegenwart durch die ökonomischen Zwänge verkörpert; in Wirklichkeit ist es noch ein ganzes Gemisch verschiedener Arten von Gewalt oder Zwang, das in den Menschenräumen zurückbleibt, wenn die körperliche Gewalttat langsam von der offenen Bühne des gesellschaftlichen Alltags zurücktritt und nur noch in vermittelter Form an der Züchtung der Gewohnheiten mitarbeitet."(Norbert Elias, Über den Prozeß der Zivilisation, II S.321)
Monopolisierung der Gewalt und funktionale Ausdifferenzierung der Gesellschaft korrespondieren Norbert Elias zufolge und haben ebenso ihre psychischen Niederschlag im Individuum.
"Hier ist der Einzelne vor dem plötzlichen Überfall, vor dem schockartigen Einbruch der körperlichen Gewalt in sein Leben weitgehend geschützt; aber er ist zugleich selbst gezwungen, den eigenen Leidenschaftsausdruck, die Wallung, die ihn zum körperlichen Angriff eines anderen treibt zurückzudrängen. Und die anderen Formen des Zwanges, die nun in den befriedeten Räumen vorherrschen, modellieren Verhalten und Affektäußerungen des Einzelnen in der gleichen Richtung."(ebenda)
Elias hat ein vierphasiges Schema entwickelt, nach der die Zivilisation sich von der ritterlich-höfischen, über die höfisch-absolutistische, über die bürgerlich-industrielle, zur Weltgesellschaft entwickelt. Dem entspechen bestimmte Steuerzentren: Feudalhof, absolutistischer Staat, Nationalstaat und Weltstaat und Verhaltenscodes, courtoisie, civilité, Zivilisation und Weltzivilisation, denen wiederum verschiedene psychische Sozialcharaktere entsprechen, von der undifferenzierten Ich/Es-Einheit über die Ich-Dominaz und Überich-Dominanz zu einem Gleichgewicht von Ich, Es und Überich.
Elias Stärke ist es, die politischen, ökonomischen und psychologischen Momente in ihrer Konfiguration zu begreifen und Herrschaftssoziologie, Theorie der Ausdifferenzierung und Psychoanalyse systematisch vom Gegenstand her zusammenzubringen. Die Schwächen dieser Ansätze teilt er indes auch. Elias sieht in letzter Instanz nur quantitative Unterschiede der Vergesellschaftung, eine Verdichtung und Intensivierung der Interaktionen, also ein Kontinuum, das von der ritterlich-höfischen zur bürgerlich- industriellen Gesellschaft reicht. Daß die Modi der Affektmodellierung auf das bürgerliche Individuum übergehen und immer weitere Kreise einbegreifen, möchte ich nicht bestreiten, auch nicht den Wechsel vom Fremdzwang zum Selbstzwang.
Was problematisch erscheint, ist, daß der Bruch, der durch die kapitalistische Vergesellschaftung entsteht, die im Wesentlichen nicht auf personellen Interaktionen beruht, sondern einen anderen Vergesellschaftungsmodus über den Markt beinhaltet, nicht systematisch thematisiert wird. Qualitative Differenzen gelten Elias als Knotenpunkte der Maßverhältnisse, als qualitative Umschläge von Quantität, was sich am häufigen Gebrauch des Komparativs sprachlich ausdrückt, wenn er den langfristigen Prozeß beschreibt. Der Wesensunterschied einer Warenwirtschaft, in der Warentausch ein untergeordnetes Moment ist und der kapitalistischen Gesellschaft, in der die Individuen real unter das Kapital subsumiert werden, ist daher gegen Elias geltend zu machen. Sonst können die Barbareien des 20. Jahrhunderts nur als Fixierung bzw. Regression der Zivilisierung gedacht werden, nicht als eine Dialektik der Zivilisation selber, die Stefan Breuer folgendermaßen beschreibt:
"Soziale Verknüpfungen, die mit der bürgerlichen Gesellschaft entstanden sind, werden dekomponiert, Solidaritätsbeziehungen ausgedünnt oder ganz gesprengt. Marktvergesellschaftung bedeutet Interdependenz _und_ Atomisierung des Sozialen, Vernetzung _und_ Negation aller Bindungen - asoziale Sozialität. Sie forciert die Differenzierung und zerstört doch zugleich durch die universale Vergleichbarkeit aller Arbeiten im Tauschwert die Bedingungen der Möglichkeit der Differenz. Sie erzwingt eine immer dichter werdene Integration der Gesellschaft und verhindert doch, daß daraus ein gesellschaftliches Subjekt entsteht."(Breuer, Gesellschaft des Verschwindens S.25)
Die Individuen werden nicht bloß integriert, sondern auch desintegiert, der zunehmenden Diffenzierung korrespondieren auch Entdifferenzierungen:
"Der unermeßliche Druck der Herrschaft hat die Massen so dissoziert, daß noch die negative Einheit des Unterdrücktseins zerrissen wird, die im neunzehnten Jahrhundert sie zur Klasse machte."(Adorno, GS 8, S.377)
Diese Diagnose Adornos wird durch die Untersuchung Sennets bestätigt, der aufweist, daß die Menschen in der Tyranei der Intimität, im Ensemble destruktiver Gemeinschaften, die Fähigkeit verloren haben, in Absehung ihrer besonderen Person, in der Selbstdistanz rationaler Interessenverfolgung zu agieren. An die Stelle ist die Suche nach narzißtischen Gratifikationen getreten, die sich im Streben nach der Identifikation mit einer grandiosen Kollektivpersönlichkeit realisiert.
Daß der Umschlag des Zivilisationsprozesses in eine Entzivilisierung, die Erzeugung des Archaischen in der Zivilisation durch die Zivilisation selbt, Elias entgeht, liegt daran, daß er nicht hinreichend Interaktions-, Organisations- und Gesellschaftssysteme unterscheidet und unterschlägt, daß den Interaktionssystemen, der face to face- Kommunikation, keine integrative Aufgabe für die Gesellschaft mehr zukommt, weil die Gesellschaft, obgleich sie aus ihnen besteht, für Interaktionen unzugänglich geworden ist.
Da Elias die Soziogense des Über-Ichs entgegen Freud, auf den er sich beruft, von ihrer triebtheoretischen Fundierung, von dem Naturmoment ablöst, kann er sie nur als gesellschaftlichen Konditionierungsvorgang begreifen. Der Kulturfortschritt verdankt sich Freud zufolge eines asozialen Moments: der Aggression, die von außen nach innen gewendet wird, die in einem Schuldgefühl resultiert, das durch die Glückseinbuße, die mit ihr verbunden ist, noch einmal sich verstärkt. Die ödipalen Muster, nach denen sich die Sozialisation durch Identifikation mit der Imago einer bedrohlich erscheinenden wie idealisierten Person vollzieht, verdankten sich einer Vergesellschaftung, die weitgehend noch interaktionsgesteuerte Organisation der Arbeit voraussetzt, die mit der reellen Subsumtion der Arbeit unter das Kapital verschwindet.
Eine differenzierte Betrachtung, wie das Ich selber durch ein System extrafamiliärer Einrichtungen vorzeitig sozialisiert wird, wie sie bei Marcuse, Mitscherlich und der neueren Narzißmusforschung vorliegt, könnte bestätigen, wie unter diesen Bedingungen die libidinösen Besetzungen an präödipale Objekte fixiert bleiben und reife Ich- und Über-ich-Strukturen gar nicht erst aufgebaut werden. Davon muß ich hier absehen und auf die Konsequenzen verweisen, die Richard Sennet daraus zieht:
"Wir halten eine Gesellschaft nur in dem Maße für "bedeutungsvoll", wie wir sie in ein riesiges psychisches System verwandeln. Uns mag klar sein, daß die Aufgabe eines Politikers darin besteht, Gesetze zu entwerfen und sie auszuführen, aber seine Arbeit beginnt uns erst zu interessieren, wenn wir die Rolle der Persönlichkeit im politischen Kampf wahrnehmen (Verfall und Ende des öffentlichen Lebens. Die Tyrannei der Intimität, S.16)
Die ewige Fragerei danach, "wie ich mich fühle", "kann ich mich einbringen", das ständige Interesse an den heimlichen Motiven anderer, kann zwar auch in den frühen Stadien der Zivilisation aufgewiesen werden, aber sie hat in einer Gesellschaft, die nicht mehr über Interaktionen integriert wird, eine andere Bedeutung, nämlich eine ideologische:
"Es dominiert ein Mythos, dem zufolge sich sämtliche Mißstände der Gesellschaft auf deren Anonymität, Entfremdung, Kälte zurückführen lassen. Aus diesen drei Momenten erwächst eine Ideologie der Intimität: Soziale Beziehungen jeder Art sind um so realer, glaubhafter, je näher sie den inneren, psychischen Bedürfnissen der Einzelnen kommen. Diese Ideologie der Intimität verwandelt alle politischen Kategorien in psychologische."(Verfall...293)
Eine Maske zu tragen, im alten Sinne, also Person zu sein, gilt als verpöhnt. Daß die Leute, die dem braunen Mob in Rostock Beifall klatschten, die Politiker als eiskalt und maskenhaft bezeichneten, weil sie nicht ihre Authentizität zur Schau stellten, ist kein Zufall. Man erwartet heute nicht sachliche Darlegungen, sondern Betroffenheit. Aus dem Satz Ernst Blochs: "Nazis sprechen betrügend, aber zu Menschen, die Kommunisten völlig wahr, aber nur von Sachen."(Erbschaft der Zeit S.153) darf nicht dahingehens mißververstanden werden, es nun den Populisten nachzueifern und Volkes Stimme zu folgen und den Jargon der Betroffenheit zu sprechen.
Sennet bezeichnet die Fähigkeit zur Selbstdistanz, "die anderen mit mit der Last des eigenen Selbst zu verschonen", also eine Maske zu tragen als "Wesen der Zivilisiertheit". Dem ist ihm vollständig zuzustimmen. Eine Kritik der Zivilisation darf hinter diese Einsicht nicht zurückfallen.
Es mag sein, daß die Entzivilisierung zu Erscheinungsformen führt, die an die ritterlich-höfische Gesellschaft erinnern und das hat ja auch liberale Historiker wie Elias dazu verleitet, den Faschismus als ein Relikt zu betrachten, nicht eingedenk der Modernität dieser Erscheinungen. Sie sind aber tatsächlich eine Erbschaft dieser Zeit, obwohl sie an ein Altes erinnern:
"Die größere Triebungebundenheit und das höhere Maß von körperlicher Bedrohung, auf die man überall stößt, wo sich noch keine festen und starken Zentralmonopole herausgebildet haben, sind, wie man sieht, Komplementärerscheinungen. Größer ist bei diesem Aufbau der Gesellschaft die Möglichkeit zum Freilauf der Triebe und Affekte für den Siegreichen und Freien, größer aber auch die unmittelbare Gefährdung des Einen durch die Affekte des anderen, und der hemmungslosen Erniedrigung, falls ein Mensch in die Gewalt eines anderen gerät."(Über den Prozeß der Ziviliation II, S.323)
In einer Zeit, in der man erschossen werden kann, weil man das Radio zu laut angedreht hat, oder weil man schneller in die Parklücke hineingefahren ist als ein anderer oder weil man einfach nur als Fremder erscheint, bricht Gewalt auch jenseits des Gewaltmonopols aus, sie ist heute omnipräsent in allen Formen, obwohl diverse straf- und zivilrechtliche Beschränkungen dagegenstehen.
Gewalt- und Rechtsform
Es ist in Erinnerung zu bringen, daß mit dem Kapitalismus aus Markt und Öffentlichkeit, aus den bürgerlichen, zivilen Verkehrsformen, Gewalt ausgegrenzt wird. Jedenfalls spricht die soziale Konstitution des Rechtsstaats dafür, die mit der Warenform gegeben ist.
"Die Waren sind Dinge und daher widerstandslos gegen den Menschen. Wenn sie nicht will, kann er Gewalt brauchen, in andren Worten, sie nehmen. Um diese Dinge als Waren aufeinandere zu beziehen, müssen die Warenhüter sich zueinander als Personen verhalten, deren Willen in jenen Dingen haust, so daß der eine nur mit dem Willen des andren, also jeder nur vermittels eines, beiden gemeinsamen Willenakts sich die fremde Ware aneignet, indem er die eigne veräußert. Sie müssen sich daher wechselseitig als Privateigentümer anerkennenen. Dies Rechtsverhältnis, dessen Form der Vertrag ist, ob nun legal entwickelt oder nicht, ist ein Willensverhältnis, worin sich das ökonomische Verhältnis widerspiegelt. Der Inhalt dieses Rechts- oder Willensverhältnis ist durch das ökonomische Verhältnis selbst gegeben. Die Personen existieren hier nur füreinander als Repräsentanten von Ware und daher als Warenbesitzer."(MEW 23 99f)
Die Trennung der Politik von der Ökonomie ist wesentlicher Inhalt bürgerlicher Gesellschaften. Die Revolutionierung des Ancien Régime zur bürgerlichen Gesellschaft impliziert die Enteignung personaler Herrschaftsverhältnisse, die zu einer historisch bislang unbekannte Machtfülle führt, die sich im Gewaltmonopol des Staates konzentriert:
"Mit der revolutionären Enteignung personalen Herrschaftsbesitzes wurde der Aneignungscharakter von Herrschaft beseitigt; Herrschaft wurde damit auf Politik reduziert."(Gerstenberger, Die subjektlose Gewalt S.525)
Damit ist zwar aus der Öffentlichkeit und der Zirkulationssphäre prinzipiell und idealiter die Gewalt verbannt, aber noch lange nicht aus der Produktionsspähre. Die ansonsten schrankenlose Gewalt des Warenbesitzers über die Ware findet seine Grenze an _der_ Ware, die im Wesentlichen den Gebrauchswert besitzt, mehr Wert zu produzieren als ihre Reproduktion kostet, der Ware Arbeitskraft:
"Andrerseits schließt die spezifische Natur der verkauften Ware eine Schranke ihres Konsums durch den Käufer ein, und der Arbeiter behauptet sein Recht als Verkäufer, wenn er den Arbeitstag auf eine bestimmte Normalgröße beschränken will. Es findet hier also Antinomie statt, Recht wider Recht, beide gleichmäßig durch das Gesetz des Warentausches besiegelt. Zwischen gleichen Rechten entscheidet die Gewalt."(MEW 23 249)
Auf die Verrechtlichung dieser Gewalt, die Anerkennung eines außerstaatlichen Rechts auf Gewalt, aber auch auf deren Grenzen hat Walter Benjamin hingewiesen.
"Die organisierte Arbeiterschaft ist neben den Staaten heute das einzige Rechtssubjekt, dem ein Recht auf Gewalt zu steht."(Zur Kritik der Gewalt S.183)
Gemeint ist das Streikrecht, das indes vom Staat nur soweit akzeptiert wird, wie dieser selbst dadurch nicht in Frage gestellt wird. Der potentielle Ernstfall, "eine gleichzeitige Ausübung des Streikes in allen Betrieben"(184), der politische Streik, ist selbst in dem heute geltenden Recht verboten. Dies wäre eine Einschränkung der Souveränität, die einen sachlichen Widerspruch beinhaltet:
"Und zwar wird ein solches Verhalten, wo es aktiv ist, Gewalt heißen dürfen, wenn es ein ihm zustehendes Recht ausübt, um die Rechtsordnung, kraft deren es verliehen ist, zu stürzen.."(185)
Der Streik zeigt Benjamin zufolge die Fähigkeit der Gewalt, "Rechtsverhältnisse zu begründen oder zu modifizieren, wie sehr auch das Gerechtigkeitsgefühl sich auch dadurch beleidigt finden möge."(185)
Benjamin zeigt anhand des Kriegsrechts, daß Rechtsubjekte Gewalten sanktionieren und neues Recht begründen:
"Ja, das Wort "Friede" bezeichnet in seiner Bedeutung, in welcher es Korrelat zur Bedeutung "Krieg" ist (...) geradezu eine solche a priori und von allen übrigen Rechtsverhältnissen unabhängige notwendige Sanktionierung eines jeden Sieges. Diese besteht eben darin, daß die neuen Verhältnisse als neues "Recht" anerkannt werden, ganz unabhängig davon, ob sie de facto irgendeiner Garantie für ihren Fortbestand bedürfen oder nicht."(185f)
Das moderne Recht tendiert Benjamin zufolge dahin, der Einzelperson, die auf Naturzwecke gerichtete außerökonomische Gewalt zu nehmen:
"Der Staat aber fürchtet diese Gewalt schlechterdings als rechtssetzend, wie er sie als rechtssetzend anerkennen muß, wo auswärtige Mächte ihn zwingen, das Recht zur Kriegsführung, Klassen, das Recht zum Streik ihnen zuzugestehen."(186)
Den Beispielen von Benjamin lassen sich heute einige hinzufügen. Es haben sich diverse Formen von Gewaltausübung entwickelt, von der Besetzung prospektiver Atomkraftsgelände, bis zur Belagerung von Kasernen, aber auch die jüngsten Pogrome gegen die Wohnstätten von Flüchtlingen, gehören dazu. Die Anwendung von Gewalt zugunsten von Zwecken, die für rechtmäßig oder für wünschenswert gehalten werden, die von begrüßenswerten Aktionen bis hin zum absolut verabscheuungswürdigen Verbrechen geht, ist von ihrer Intention, Recht zu setzen allein nicht zu beurteilen.
Der rechtssetzenden Funktion von Gewalt gesellt sich noch die rechtserhaltende Funktion hinzu. Bis auf das Recht zur Notwehr und das Widerstandsrecht bei Versuchen, die Verfassung außer kraft zu setzen, beschränkt sich die Abwehr der Gewalt nicht bloß auf rechtswidrige Zwecke. Wäre das nicht der Fall, dann wäre neben der Lynchjustiz und der selbsttätigen Ausübung von Gewalt, um sich sein Recht zu holen möglich. Als nicht-revolutionäre, weil partikuläre Formen von Gewalt, würden sie die Gewalt vermehren. Gegen diese Form von Gewalt geht eine "Gewalt als Mittel zu Rechtszwecken" vom Staate aus, die Gewalt zur Sicherung der allgemeinen Unterordnung der Bürger unter die Gesetze.

Rassismus von oben, Rassismus von unten
In Deutschland fehlte schon zur Zeit der Abfassung von Benjamins "Kritik der Gewalt" ein Sinn für die rechtssetzende Gewalt. Daher wurde die Dialektik der Gewalt von unten und der von oben, die mit der Verschlingung von Staat und Gesellschaft sich entfaltet, nicht thematisiert, sondern entweder die eine oder die andere gegen die andere ausgespielt.
Carl Schmitts Souveränitätstheorie bildet eine Ausnahme, indem sie die rechtsetzende Gewalt des Staates vom Ausnahmezustand her begreift. Der Begriff des Politischen kann ihm zufolge nicht mehr vom Begriff des Staates her verstanden werden, weil die Trennung von Gesellschaft und Staat im modernen Staat aufgehoben ist.

"Dagegen wird die Gleichung Staatlich=Politisch in demselben Maße unrichtig und irreführend, in welchen Staat und Gesellschaft sich gegenseitig durchdringen, alle bisher staatlichen Angelegenheiten gesellschaftlich und umgekehrt alle bisher 'nur' gesellschaftlichen Angelegenheiten staatlich werden, wie das in einem demokratisch organisierten Gemeinwesen notwendigerweise eintritt. Dann hören die bisher 'neutralen' Gebiete - Religion, Kultur, Bildung, Wirtschaft - auf, 'neutral' im Sinne von nicht-staatlich und nicht-politisch zu sein. Als polemischer Gegenbegriff gegen solche Neutralisierungen und Entpolitisierungen wichtiger Sachgebiete erscheint der gegenüber keinem Sachgebiet desinteressierte, potentiell jedes Gebiet ergreifende totale Staat der Identität von Staat und Gesellschaft. In ihm ist infolgedessen alles wenigstens der Möglichkeit nach politisch, und die Bezugnahme auf den Staat ist nicht mehr imstande, ein spezifisches Unterscheidungsmerkmal des 'Politischen' zu begründen."(Begriff des Politischen, 24)
Das Totale des Staates ist freilich nicht im Sinne eines Leviathan zu verstehen, sondern in einem quantitativen Sinne, daß der Staat immer totaler in den Funktionszusammenhang der Gesellschaft einbezogen ist, immer mehr gefordert ist zu handeln.
Da die staatliche Souveränität immer prekär bleibt, weil die Rückkehr zu einem echten Primat des Politischen die Gesellschaft selbst zerstören würde, macht sich die Souveränität des Staates erst in der Zusammenbruchskrise geltend, wenn derjenige als Souverän sich herausstellt, der über den Ausnahmezustand entscheidet, der freilich nicht mit Chaos zu verwechseln ist.
"Weil der Ausnahmezustand immer noch etwas anderes ist als Anarchie und Chaos, besteht im juristischen Sinne immer noch eine Ordnung, wenn auch keine Rechtsordnung. Die Existenz des Staates bewährt hier seine zweifellose Überlegenheit über die Geltung der Rechtsnorm"(Carl Schmitt, Politsche Theologie, 13).
Die jederzeitige Möglichkeit eines Krieges nach innen wie außen, definiert den Schmittschen Begriff des Politischen, die existentielle Freund-Feind-Beziehung, um die schließlich die Mythen der Nation sich zentrieren. Die staatliche als nationale Identität ist anders als über die Diskriminierung die radikale Scheidung der Herrstellung einer repressiven Gleichheit gegen die Ungleichen zu realisieren.
In den letzten Wochen ist der Ausnahmezustand vom Bundeskanzler Kohl mehrmals beschworen worden, freilich nicht zum Zwecke der Errichtung der rechtserhaltenden Gewalt gegen die Gewalt des Mobs auf der Straße, sondern mit der Begründung, daß das Grundrecht auf Asyl die Souveränität des Staates bedrohe und daß deswegen endlich gehandelt werden müsse. Die inhaltlich identische Forderung des Ausländerrauschaffens von Staat und Mob verweist darauf daß eine Staatskritik, die sich auf das Volk beriefe, nur die Kehrseite einer Politik wäre, die Anstalten macht auf des Volkes Stimme zu hören.
Die Verschlingung von Staat und Gesellschaft ist also in der Tat ein Signum unserer Epoche und die Präferenz von Schmitt für den italienischen Faschismus eines starken Staates ein Anachronismus angesichts seiner treffenden Analysen des totalen Staates, die mit der Marxschen Kritik der Politischen Ökonomie zusammen zu einer Kritik der Politik umzuwenden wäre, was ich heute nicht annäherungsweise leisten könnte. Ich beschränke mich nur darauf, die Antiquiertheit einer Kritik aufzuweisen, nach der die Emanzipation vollbracht wäre, "wenn der wirkliche individuelle Mensch den abstrakten Staatsbürger in sich zurücknimmt".(MEW 1, 370)
Der junge Marx hatte in seiner Kritik des hegelschen Staatsrechts noch die Trennung von bürgerlicher Gesellschaft und Staat vorausgesetzt und Hegel vorgeworfen, daß dieser einen Staat, der über den Not- und Verstandesstaat hinausginge, nicht ableiten würde:
"Die Trennung der bürgerlichen Gesellschaft und des politischen Staates erscheint notwendig als eine Trennung des _politischen_ Bürgers, des Staatsbürgers, von der bürgerlichen Gesellschaft, von seiner eigenen, wirklichen, empirischen Wirklichkeit, denn als Staatsidealist ist er ein _ganz anderes_ von seiner Wirklichkeit _verschiedenens_, unterschiedenes, entgegengesetztes Wesen."(MEW 1, 281)
Der Vorwurf Hegel verwechsle "den Staat als das Ganze des Daseins eines Volkes mit dem politischen Staat"(MEW 1, 282) hat sich durch den Fortgang der Geschichte entkräftet, da die Atomistik der bürgerlichen Gesellschaft nicht mehr den Modalitäten der formellen Subsumtion der Arbeit unter das Kapitals analog zu denken ist, die Individuen, um mit Günther Anders zu reden in Deviduen sich verwandelt haben. Zwar läßt sich das Verhältnis von Allgemeinem und Besoderem auch heute nur als eines der Gewalt denken, aber nicht mehr eines gegen deren Bürger. Eine negative Einheit von öffentlichen, privatem und Berufsleben, der die diversen Motivationstechniken des der Einsicht Luhmann zufolge "psychiatrischen Führungsstils" entsprechen, ermöglicht eine erpreßte Versöhnung von Staat und Individuum, von der Hegel Marx zufolge nur hat träumen können.
Der Historikerstreit, Kohls Bitburger Rede mitgesamt seiner Variierungen durch Richard Weizsäcker, die vielen kleinen Skandale, an die sich die Öffentlichkeit gewöhnt hat, alles das trägt in den letzten Monaten blutige Früchte. Nachdem monatelang die Gefahr herbeigeredet wurde, die von einer vermeintlichen "Asylantenflut" ausginge, nehmen die Bürger die vermeintliche Gefahr nun wörtlich.
Mag der Volkszorn regierungsfeindlich sich geben, wenn er die selber xenophobe Souveränität des Staates einklagt, so spricht das nicht gegen die inhaltliche Identität der Ziele, obwohl er den Rechtsstaat herausfordert, sein Monopol auf legitime Gewaltausübung zu verteidigen und den Wettkampf zwischen Faustrecht und Gewaltmonopol zu beenden.
Ob dies so weit gehen wird, dieses Ziel auch durch Abstreifung seiner Rechtsform zu verwirklichen, hängt davon ab, wie rechtsetzende und rechtserhaltende Gewalt sich gestalten, dessen dialektisches Auf und Ab Walter Benjamin folgendermaßen auf den Begriff brachte:
"Dessen Schwankungsgesetz beruht darauf, daß jede rechtserhaltende Gewalt in ihrer Dauer die rechtssetzende, welche in ihr repräsentiert ist, durch die Unterdrückung der feindlichen Gegengewalt indirekt schwächt. (...) Dies währt solange, bis entweder neue Gewalten oder die früher unterdrückten über die bisher rechtssetzende Gewalt siegen und damit ein neues Recht zu neuem Verfall begründen."(Kritik der Gewalt 202)
Daß in der Öffentlichkeit nur noch darüber gestritten wurde, welcher Rassismus sich denn nun durchsetzen soll, derjenige der möglichst nur die profitbringenden Ausländer behalten möchte, der den ökonomischen und politischen Verhältnissen innewohnenden Rassismus oder derjenige, der dem Modell der feigen Pogromhelden von Rostock oder Mölln folgt, ist ein Zeichen dafür, daß die Opposition gegen den Rassismus bereits schon verloren hat.
Daß die rechtserhaltende Gewalt in den letzten Tagen ankündigt, gegen den Mob nun massiv vorzugehen, der mit Steinen und Brandsätzen vorgeht und eine faschistische Machtergreifung nicht kurz bevorsteht, ist dann als ein Zeichen zu werten, daß _die_ Vertreibungspolitik, die mit Gesetzen und Verordnungen vorgeht und nicht mit gewalttätiger Aggression, sich als die effektivere Form durchsetzen wird. - Daß die alte Bonner Republik wiederkehren wird, ist sodenn nicht mehr als ein vergeblicher Wunsch.
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Most recent revision: December 27, 1998
E-MAIL: Martin Blumentritt