Rassismus und Rechtsextremismus
Der Streit um die Ursachen - von Birgit Rommelspacher
Die Frage nach den Ursachen rassistischer und rechtsextremer Gewalt in der BRD hat
inzwischen eine Geschichte: Zunächst waren sich alle relativ einig, daß
der Ausbruch der Gewalt viel mit Arbeitslosigkeit, Wohnungsnot und Orientienngslosigkeit
zu tun habe. Dies Bild hat sich inzwischen differenziert. So gibt es vielfältige
Erklärungen: Rassistische Gewalt als Protest, als Ausdruck von Jugendproblemen,
als männlicher Chauvinismus, als aktiver Beitrag zum Aufbau der "Festung
Europa", als Ausdruck psychosozialer Problemlagen, als Angst vor dem Fremden
oder als Folge des Versagens der Eltern und Pädagoginnen der 68 Generation.
Es wird viel gestritten und die Konfliktlinien. So unübersichtlich sie auch
sind, machen sich m.E. immer wieder daran fest, ob Rassismus und Gewalt ein Symptom
der herrschenden Gesellschaft ist, ein aus ihrer Logik und ihren Interessen heraus
erklärbares Phänomen, oder aber eher eine Krisenerscheinung, die vorübergeht
und in der besondere Problemlagen und Belastungssituationen von Randgruppen zum
Ausdruck kommt.
Um dies genauer zu beleuchten, werde ich die wichtigsten Erklärungsansätze
aus der Soziologie, der Psychologie und von Seiten der Feministinnen einander gegenüber
stellen und fragen, welchen Stellenwert sie dem Rassismus im gesellschaftlichen
Kontext geben.
1. Die Individualisierungsthese
Zentral in der soziologischen Diskussion ist die These von der Risikogesellschaft
(Beck 1986), die besagt, daß die klassischen Werte immer mehr zerfallen, sich
traditionelle Lebensformen immer weiter auflösen und unsichtbare Gefahren,
wie die drohende ökologische Katastrophe, zunehmend das Leben bestimmen. Darüberhinaus
hat die Auflösung der politischen Blöcke zu einer Krise der Weltbilder
und einem Verlust traditioneller Feindbilder geführt, so daß viele nun
Verläßlichkeit und Halt in rechtsextremen Bezügen suchen.
Völlig unstrittig ist, daß ein solcher Individualisierungsprozess seit
Jahrzehnten, wenn man es genau betrachtet sogar seit der Industrialisierung, in
Gang ist. Keine Frage, daß die Kapitalisierung aller Lebensbereiche inzwischen
zu einer Situation geführt hat, in der die Einzelnen wie nie zuvor auf sich
selbst zurückgeworfen sind. daß nun allerdings diese Vereinzelung und
Auflösung allgemein verbindlicher normativer Bezüge zwangsläufig
zur Suche nach stabilen, rechten Denkmustern führt, ist m.E. keineswegs zwingend.
Denn die Individualisierung kann zugleich auch zu einem Mehr an Selbstbestimmung
und damit auch an Respekt für die Eigenart führen. Die Pluralisierung
der Lebenswelten wird zugleich auch Toleranz und Offenheit fördern und es erleichtern,
selbstverständliche Normen und Ausgrenzungen zu hinterfragen. D.h. der Individualisierungsprozess
kann sowohl zu einer zunehmenden Orientierungslosigkeit wie auch zu einer wachsenden
Fähigkeit führen, Uneindeutigkeiten und Widersprüche besser auszuhalten.
Auffallend ist aber, daß in den vorliegenden Analysen, der Individualisierungsprozess
primär oder gar ausschließlich negativ gewertet wird. Bei einer solchen
Diagnose liegt dann die Therapie bereits auf der Hand: Eine Wiederherstellung traditioneller
Bindungen und Orientierungen.
Gehen wir aber von einer durchaus widersprüchlichen Entwicklung aus, so läßt
sich die Frage, in welche Richtung der Prozeß ausschlägt, nicht abstrakt
beantworten, hier ist dann die Empirie gefragt.
Zunächst einmal zeigt die Untersuchung von Heitmeyer (1989), dem bekanntesten
Vertreter der Individualisierungsthese, daß sich kein Zusammenhang zwischen
den von ihm vermuteten Faktoren finden läßt. D.h. weder soziale Einbindungen
bezüglich Arbeit und Familie, noch das eigene Selbstkonzept, sei es nun positiv
oder negativ, wie auch allgemein Orientierungsschwierigkeiten korrelieren mit autoritär-nationalisierenden
Sichtweisen. Auch in seiner neueren Untersuchung, der Bielefelder Rechtsextremismusstudie
(1992), ist kein Zusammenhang zwischen den einzelnen Faktoren herzustellen.
Es gibt nur einen signifikanten Zusammenhang, und der besteht zwischen einer instrumentalistischen
Arbeitsorientierung, d.h. der vorrangigen Orientierung an Geld, Aufstieg und Status
und rechtsextremen Orientierungen. D.h. bei denjenigen Jugendlichen, für die
Geld in ihrer Arbeitsorientierung eine hohe Wichtigkeit besitzt, ist die Gewaltbilligung
und Gewaltbereitschaft besonders ausgeprägt. Stärke und Überlegenheit
sind hier die wichtigsten Normen, und die anderen Menschen werden vorrangig unter
dem Aspekt ihres Nutzens beurteilt. Eine solche auf Leistung und Erfolg fixierte
Ideologie führt zur Mißachtung all derer, die in diese Verwertungslogik
nicht hineinpassen.
In dieselbe Richtung geht die Tübinger Untersuchung von Held, Horn, Leiprecht
und Marvakis (1992): Sie befragten repräsentativ für den Tübinger
Raum Jugendliche und junge Arbeitnehmer nach ihren politischen Orientierungen und
teilten sie in Benachteiligte und Nicht- Benachteiligte auf nach den Faktoren Arbeitsplatz,
berufliche Zukunft, Bildung, ökonomische Absicherung und soziale Einbindung.
Es zeigte sich, daß die Benachteiligten signifikant weniger rassistisch waren
als die Nicht-Benachteiligten. Diese auch für die Forscher überraschenden
Ergebnisse versuchten sie genauer zu ergründen und stellten fest, daß
sich bei diesen Jugendlichen vor allem Aufstiegs- und Leistungsideologie mit rigiden
Ausgrenzungsforderungen gegenüber Einwanderinnen verbinden. Sie fassen diesen
Komplex in den Begriff des "Wohlstandschauvinismus", in dem die ökonomische
Überlegenheit mit politisch-kulturellem und persönlichem Vormachtsanspruch
identifiziert wird. Er zeigt sich in einer Überidentifikation mit "deutschen
Wirtschaftsinteressen" nach dem Motto: Wir sind die besten und es ist unser
Verdienst. Wie bei Heitmeyer herrscht bei diesen Jugendlichen ein instrumentelles
Nutzendenken vor: Einwanderer und Flüchtlinge werden ausschließlich danach
beurteilt, ob sie schaden oder nützen. Sie selbst sind meist in gutsituierten
Positionen und fühlen sich nicht realiter, aber allgemein und diffus von den
Einwanderinnen bedroht.
Wie ist diese Diskrepanz zwischen Bedrohtheitsgefühlen und realer Absicherung
zu erklären?
Hier hilft eine neue Untersuchung von Hoffmeister und Sill (1993) weiter: Auch sie
gingen von der Individualisierungsthese aus und untersuchten knapp 500 Jugendliche
und junge Erwachsene hinsichtlich der Frage, ob Verunsicherungen zu autoritären
Einstellungen führen.
Auch diese Forscher erlebten, wie sie selbst sagen, bei der Auswertung eine Überraschung,
als sie feststellten, daß es keinen Zusammenhang zwischen Versorgtsein und
Autoritarismus gibt. Erfreulicherweise halten sie dann - im Unterschied zu Heitmeyer
- nicht mehr an ihrem theoretischen Konzept fest, sondem untersuchen weiter die
zwei voneinander unterschiedlichen Variablen von Autoritarismus und Instabilität.
D.h. die Instabilen sind nicht notwendig autoritärer, in der Summe sogar etwas
weniger als die Stabilen. Demgegenüber sind relativ viele Jugendliche, die
aus gut situierten stabilen Verhältnissen kommen und mit einem entsprechend
stabilen Selbstbild ausgestattet sind, autoritär und neigen zu rechten und
rassistischen Einstellungen.
Diese Jugendlichen haben die Forscher nun genauer betrachtet und festgestellt, daß
sie durchweg unter einem sehr hohen Leistungsdruck stehen, den sie unkritisch von
ihren Eltern übernommen haben. Sie bewundern und idealisieren ihre Eltern ob
ihres beruflichen und ökonomischen Erfolgs, und für sie ist selbstverständlich,
daß sie selbst auch einmal zu den Erfolgreichen gehören werden. Allerdings
widerspricht das oft ihren Erfahrungen, etwa wenn sie schlechte Noten in der Schule
haben oder auch Alkoholprobleme etc. Dennoch halten sie ihr Ideal aufrecht und projizieren
ihre Versagensängste auf alle anderen: auf unfähige Lehrer, korrupte Politiker
und arbeitsscheue Ausländer. Diese müssen alle abgewertet werden, um sich
selbst und das Prinzip von Leistung und Disziplin hochzuhalten. Die Jugendlichen
haben sich selbst (noch) nicht bewährt, gehören aber ihrer Meinung nach
selbstverständlich zur Elite, und diese Diskrepanz mündet in einem allseitigen
Bedrohtheitsgefühl. Alle könnten ihnen irgendwie ihren Platz streitig
machen. So werden sie mißtrauisch beäugt, und das Leben als ein ständiger
Kampf aller gegen alle erlebt, in dem der Stärkste sich durchsetzt.
Es gibt natürlich auch die instabilen Jugendlichen, die autoritär sind.
Auch sie empfinden ihre Umwelt überwiegend als feindselig. Aber das Motiv ist
ein anderes: Sie hatten i.d.R. in ihrem Leben ständig mit einer Unzahl von
Widrigkeiten zu kämpfen. Sie haben meist eine sehr schwierige Familiengeschichte
und viel negative soziale Erfahrungen hinter sich. Insofern hat ihr Mißtrauen
auch viel mit der Realität zu tun. Dahei werden ihre Auffassungen auch durch
neue Erfahrungen wieder verändert. Das geht bis hin zu einer extremen Außenorientierung
und einem ständigen Schwanken zwischen widersprüchlichen Einschätzungen.
Dementsprechend lassen sie sich auch leicht beeinflussen. Wohingegen sich bei den
Stabil-Autoritären Mißtrauen und Kriegermentalität zu einem allgemeinen
Weltbild verfestigt haben, die sie gegen alle kämpfen läßt, die
ihren Vormachtsanspruch in Frage stellen könnten.
D.h. hier schließt sich also die obige Verständnislücke: Ein solcher
gut situierter Jugendlicher ist real z.B. nicht von den Einwanderinnen bedroht,
sondern viel eher von seinem eigenen Versagen, dem Unvermögen, das er sich
nicht zugestehen kann und will. Er muß es auf andere projizieren. Je größer
also die Kluft zwischen Anspruch und Wirklichkeit, je stärker die Realität
in Idealisierungen gepreßt wird, desto größer ist der Projektionsbedarf,
um sich in diese idealisierte Gemeinschaft hinein zu definieren und sich der Zugehörigkeit
zu dieser Elite zu vergewissern.
An der Stelle ist also die Psychologie gefragt. Zuvor aber noch eine zusammenfassende
Einschätzung der soziologischen Analysen:
1. Übereinstimmend wird festgestellt, daß ökonomische Notlagen,
kein erhöhter Risikofaktor für rechtsextreme Einstellungen sind. Die Annahme,
rassistisches Denken wäre vorwiegend in unteren Schichten zu finden, erweist
sich, wie schon in früheren Untersuchungen, als Mittelschichtvorurteil.
2. Auch soziale Integration im Bezug auf Arbeitsplatz, Familie und Freundeskreis
schützt nicht vor rechten und rassistischen Orientierungen.
3. Und schließlich ist auch kein Faktor Orientierungslosigkeit oder Instabilität
auszumachen, der für autoritär-nationalistische Einstellungen prädestinieren
würde.
In allen drei genannten Untersuchungen kristallisiert sich aber ein relevanter Komplex
heraus, den Heitmeyer eine instrumentalistische Arbeitsorientierung, die Tübinger
Wohlstandschauvinismus und die Münsteraner Leistungsvergötterung und Kriegspfadmentalität
nennen. Darin zeigt sich eine forcierte Identifikation mit den Werten von Leistung,
Wohlstand, Karriere und Geld aus der heraus sich die Abwehr gegen alle die begründet,
die als leistungsunfähig gelten oder anscheinend ohne eigene Anstrengung versorgt
werden.
Für die Relevanz dieses Einstellungskomplexes spricht die Tatsache, daß
die Eskalation rassistischer Gewalt in Deutschland in den letzten 2-3 Jahren nicht
nur Flüchtlinge, Migrantinnen und schwarze Deutsche getroffen hat, sondern
auch Behinderte, Schwule und Lesben, Obdachlose und Linke, vor allem wenn sie sich
als Anti-Rassisten exponiert haben.
Darüberhinaus setzte sich diese Gewalt auf die bereits "normale"
sexistische Gewalt auf, die es bei uns zum Alltag gemacht hat, daß Frauen
vergewaltigt, mißhandelt und umgebracht werden.
Das Gemeinsame in dieser Gewalt ist, daß es sich hier nicht um individuelle
Verbrechen im Sinne gewöhnlicher Kriminalität handelt, sondern um das,
was im angloamerikanischen Raum als "Hate-Crimes", Haß-Verbrechen,
bezeichnet wird. In diesen Verbrechen kommt in erster Linie ein Haß gegenüber
einer bestimmten Gruppe von Menschen zum Ausdruck. D.h. sie sind in erster Linie
_instrumentelle_ und nicht _expressive Akte_, wie wir in der Psychologie sagen.
Sie haben nicht einfach ihren Sinn in sich selbst, indem Gefühls- und Triebspannung
ausagiert werden, sondern mit ihnen soll etwas gezeigt und bewiesen werden.
Gezeigt werden soll mit diesem Gewalthandeln, daß die Täter sich eine
weiße, heterosexistische, patriarchale Gesellschaft wünschen, in denen
nur die Leistungsfähigen, Angepaßten und Erfolgreichen die Macht und
das Sagen haben und beweisen wollen sie, daß sie diejenigen sind, die dazu
gehören.
Angegriffen werden alle, die diesen Vorstellungen widersprechen und sie tatsächlich
oder scheinbar in Frage stellen. Sie werden auf "ihren Platz" verwiesen
an den Rand der Gesellschaft oder ganz aus ihr hinaus gedrängt.
Insofern hat der daß auf die sog. Fremden sehr viel mit der eigenen Selbstvergewisserung
zu tun, mit der Angst nicht zu genügen und zu denen zu gehören, die erfolgreich
und mächtig sind.
Dies Motiv greift, wie gesagt, die psychologische Debatte auf: Für sie sind
es nicht die Fremden da draussen, die uns bedrohen, sondern die abgespaltenen, verdrängten
Anteile in uns selbst: Wir sind uns selbst fremd, und nur wenn wir diese Spaltung
in uns überwinden, ist ein Zugang zu den Fremden möglich.
2. Die Fremdenangst
Wie bereits die Münsteraner Untersuchung zeigte, ist es vor allem die Angst
zu versagen, die verdrängt werden muß. Es sind die eigenen Schwächen,
die Wünsche nach Versorgtwerden, sich gehen lassen zu können, diese passiven
Bedürfnisse, die durch eine Fixierung aufs Leistungsprinzip abgespalten werden
müssen. Die "Fremden" spiegeln nun diese verdrängten Impulse
wieder: Sie sind es scheinbar, die unbekümmert in den Tag hinein leben können,
sich um nichts zu sorgen haben und nur die "Hand aufhalten" müssen
und reichlich bekommen. Der aggressive Neid ist hier unverkennbar. Insofern ist
es m.E. nicht zufällig, daß vor allem Sinti und Roma besonders reizen.
Sie sind es, bzw. ihr Bild von ihnen ist es, das unsere Werte wohlanständiger
Seßhaftigkeit und die Dominanz des Leistungsprinzips besonders effektiv in
Frage stellen.
Dem Bedürfnis nach Versorgtwerden steht das harte "Selbst ist der Mann"
entgegen, der alles nur alleine sich selbst zu verdanken hat und mit Tüchtigkeit
und Disziplin alle Abhängigkeiten und Verwöhnungswuensche von sich weist.
Diese Selbstdisziplinierung und Haerte gegen sich, wendet sich in Haß all
denen gegenüber, die angeblich sorglos und vor allem auf Kosten anderer ihr
Leben genießen.
Auch im Falle der Behindertenfeindlichkeit bzw. des eugenischen Rassismus sind solche
Abspaltungen zu beobachten: Hier ist es vor allem die Angst vor eigener Verletzlichkeit,
die Angst vor sozialer Isolation und vor Abhängigkeit. Diese Ängste werden
uns in der Begegnung mit Behinderten zurückgespiegelt. Um diese Ängste
zu bearbeiten, läge es durchaus nahe, sich mit den Behinderten zu solidarisieren,
wenn sie für menschenwürdige Lebensbedingungen und gleichberechtigte Chancen
kämpfen. Schließ,slich muß jede/r damit rechnen, irgendwann einmal
zum Pflegefall zu werden. Insofern gäbe es durchaus gemeinsame Interessen.
Dieser Solidarisierung mit den Behinderten steht aber die Gefahr entgegen, aus dem
Kreis der Privilegierten ausgeschlossen zu werden. Insofern muß die eigene
Angst vor Beschädigung mit allen Mitteln versucht werden abzuwehren, um sich
der Zugehörigkeit zu den Leistungsfähigen, Mächtigen und Privilegierten
zu vergewissern.
D.h. es genügt offensichtlich nicht zu fordern, wie in den meisten psychologischen
Analysen (vgl. beispielsweise Kristeva 1990 oder Bauriedl 1992), sich mit sich selbst
auseinanderzusetzen und seine Verdrängungen aufzuheben und die abgespaltenen
Anteile zu integrieren, sondern es muß gleichzeitig nach dem Warum der Verdrängung
gefragt werden. Warum sind so viele bereit, so elementare Bedürfnisse zu unterdrücken
und sich selbst zu disziplinieren? Warum machen soviel freiwillig an ihrer eigenen
Unterdrückung mit?
Hier können wir m.E. aus der Geschlechterpsychologie eine Menge lernen: Die
Disziplin und der Erfolgsdruck, unter dem die meisten westlichen Männer von
Kindheit an stehen, scheint sich für sie wohl zu lohnen. Auch wenn die Sensibleren
unter ihnen über Defekte in ihrer Persönlichkeitsstruktur klagen, darüber
daß ihnen vieles sozial und emotional versperrt sei, so ist das für kaum
einen Mann Grung genug, seine Situation zu ändern. Gesellschaftliche Macht
und Ansehen scheinen reichlich für die beklagten Defizite zu entschädigen.
D.h. die psychologischen Analysen, die allein den Verdrängungsprozess betrachten,
sind an dem Punkt verkürzt, an dem nicht die Rolle materieller und sozialer
Privilegien mitgedacht wird. Nur dann ist zu verstehen, warum die Selbstdisziplinierung
so eine große Rolle bei uns spielt und warum vor allem diejenigen Aggressionen
provozieren, die Werte wie Autonomie und Leistungsfähigkeit in Frage stellen.
So wenig in diesen psychologischen Analysen die Privilegierung gesehen wird, sowenig
wird hier auch die Machtbeziehung zwischen den Mehrheiten und Minderheiten angesprochen.
Ja es hat sogar den Anschein, daß die Psychologisierung diese Dimension direkt
auszublenden versucht. So wird z.B. so gut wie nie gefragt, ob z.B. das Unbehagen
der Weissen gegenueber ethnischen Minderheiten, vor allem denen mit dunkler Hautfarbe,
nicht auch etwas mit der Kolonialgeschichte zu tun hat, ob dies Unbehagen nicht
auch aus verbotenen Überlegenheitsgefühlen resultiert. Gefühle sind
nicht einfach abstrakte oder gar natürliche Gegebenheiten, die uns überkommen.
Sie sind ein Niederschlag der persönlichen Erfahrungen, in die auch die Geschichte
der Nation oder des Volkes eingegangen ist.
Sehr deutlich wird dieser Niederschlag der Geschichte bei uns z.B. im Verhalten
und in den Gefühlen in der Begegnung mit Juden und Jüdinnen. Die meisten
nicht-jüdischen Deutschen empfinden dabei Beklommenheit und diffuse Schuldgefühle.
Dies Unbehagen kommt nicht von Ungefähr, denn in diesen Gefühlen kommt
die Erinnerung an unsere Zugehörigkeit zu diesem Volk und seinen Untaten unbegriffen
zum Ausdruck.
Wenn hingegen ein solcher Kontakt in der psychologischen Analyse zu einer Begegnung
zwischen "dem Selbst" und "dem Fremden" abstrahiert wird, dann
wird das hierin wirksame Machtverhaeltnis und deren konkrete Geschichte negiert
und die Beziehung zwischen den Dominanten und Diskriminierten zu einer Episode der
Selbsterfahrung entwirklicht. Da wird Fremdheit zum Spiegel der Selbstentfremdung,
zu einer Aufforderung, sich umso intensiver mit sich selbst zu beschäftigen
und die Tiefe der eigenen Tragik auszuloten.
Frantz Fanon (1986), der schwarze Psychoanalytiker aus der Karibik, spricht in dem
Zusammenhang von einem Superioriätskomplex der Weißen, die Schwarzen
dazu benützen, um ihr Selbst aufzublasen.
Eine solche Funktionalisierung des Anderen ist nach dem Muster eines männlichen
Selbstverständnisses gestrickt, das sich vor allem in Abgrenzung zum Anderen
und in Unterwerfung der Anderen selbst bestätigt. Insofern sagen die Feministinnen
m.E. zurecht, dass dieses Dominanzstreben tief in unserer patriarchalen Tradition
verankert ist.
Auch der Augenschein spricht für diese These: Sind es doch Männerhorden,
die Flüchtlingsheime stürmen, Minderheiten überfallen und ermorden.
Die Frage also, ist Rassismus ein Männerproblem?
Zuvor aber noch eine zusammenfassende Einschätzung der psychologischen Argumentation:
1. Zweifellos bildet sich im Rassismus und Fremdenhass auch die eigene Problematik
der dominanten Mehrheit ab. Sie externalisiert ihre Widersprüche und inneren
Konflikte und benützt bzw. funktionalisiert die anderen um die eigenen Probleme
auszuagieren. In diesem Sinn kann man auch von einer psychologischen Ausbeutung
sprechen.
2. Die Problematik der Mehrheitsgesellschaft rührt vor allem aus den Anstrengungen,
die zur Absicherung ihrer Dominanz und ihrer Privilegien notwendig sind. Insofern
sagt eine psychologische Analyse nur die halbe Wahrheit, wenn sie Verdrängung
und Selbstentfremdung als Ursache erkennt, nicht aber auch den Gewinn mitbenennt,
der daraus gezogen wird. D.h. wenn nicht nach dem Warum der Verdrängung gefragt
wird und welche Vorteile sie mit sich bringt.
3. Die Einstellungen und Gefuehle "dem Fremden" gegenueber sind nicht
abstrakte, anthropologische Konstanten, die über Raum und Zeit sich gleich
bleiben, sondern sie haben ein je konkret historisches Gesicht: In der Beziehungen
zu EinwanderInnen und ethnischen Minderheiten bildet sich auch unsere Geschichte
mit ab, die vor allem auch vom Kolonialismus und Holocaust geprägt ist. Eine
psychologische Abstraktion, die nur "das Fremde" sieht, trägt zur
Verdrängung dieser Geschichte bei und sieht nicht, wie sehr auch ökonomische,
kulturelle und psychologische Ausbeutung die Beziehung zwischen Mehrheit und Minderheiten
prägt.
Angesichts der realen Machtverhältnisse zwischen Einheimischen und Einwanderinnen
hier in Deutschland entpuppt sich die Angst vor "dem Fremden" in erster
Linie als Angst vor der Infragestellung der hier herrschenden Normen und Lebensgewohnheiten,
in denen zugleich auch die ökonomische und politisch-ideologische Vormachtstellung
der westlichen Welt verankert ist.
Die Angst vor Machtverlust und Infragestellung von Dominanz wird in der Diskussion
aber meist gleichgesetzt mit den existentiellen Ängsten um Arbeit, Wohnung
und Lebensperspektive. Ängstliche Besitzstandswahrung wird hier zum Kampf ums
Überleben umgedeutet.
Je mehr einer zu verlieren hat, desto mehr ist er auf Absicherung bedacht. Nur so
läßt sich erklären, warum die armen Laender ein Vielfaches an Flüchtlingen
im Vergleich zu den reichen aufnehmen. Und genauso wie wir die Mauern um das reiche
Westeuropa immer höher ziehen, so ziehen wir auch die Mauern um uns selbst
immer höher mit Hilfe der Ansprüche, was uns zusteht im Vergleich zu den
Einwanderinnen.
Nun aber zur Frage ueber den Zusammenhang von Rassismus und Sexismus.
3. Rassismus = Männergewalt?
Wenn wir die gewalttätigen rassistischen Ausschreitungen betrachten, ist der
Zusammenhang offensichtlich: Es sind in der Tat fast ausschließlich Männer,
nämlich zu 95%. In den rechtsextremen Cliquen herrscht protziges Männergebaren.
Frauen agieren, wenn, dann als Freundinnen unterstützend im Hintergrund.
Diese brutale Gewalt der Männer ist allerdings nicht neu. Hunderte von Frauen
werden jährlich Opfer sexistischer Gewalt. Neu ist, dass sie sich öffentlich
zeigt und explizit Bestandteil eines politischen Konzepts ist.
Zweifellos besteht ein enger Zusammenhang zwischen Rassismus und Sexismus. Allein
im Begriff "Herrenrasse" wird deutlich, daß in erster Linie die
Herren davon zu profitieren gedenken. Auch sind die Ausgrenzungsmechanismen gegenüber
Frauen und ethnischen Minderheiten in der Konstruktion der/des "Anderen"
kulturgeschichtlich in vielen Dimensionen nahezu identisch (kindlich, emotional,
sexualisiert im Sinne von bedrohlich und verführerisch zugleich).
Daraus nun in der Umkehrung zu schließen, Frauen seien weniger rassistisch
ist keineswegs zwingend. Gerade ihre Unterdrückung innerhalb der patriarchalen
Herrschaft könnte für sie Grund genug sein, sich nun ihrerseits wiederum
an den Schwächeren schadlos zu halten. Zudem ist es gerade das Kennzeichen
"herrschender" Ideologien, daß sie Teil des Selbstverständnisses
der Unterdrückten werden. Und die Geschichte zeigt - zumindest die deutsche
Geschichte - daß Frauen weder in Zeiten des Kolonialismus noch im NS in besonderer
Weise gegen Rassismus und Antisemitismus immun waren oder gar aktiv dagegen gekämpft
hätten.
Insofern müssen wir die Äußerungsformen von Rassismus auf ihre geschlechtsspezifischen
Erscheinungsformen hin untersuchen. Dabei ist festzustellen, daß Gewalttaten
fast ausschliesslich von Männern verübt werden. Beim Wahlverhalten jedoch
sind die Unterschiede nicht mehr so krass: Rechtsextreme Parteien werden zu 2/3
von Männern und zu einem Drittel von Frauen gewählt. Das gilt nicht nur
für Deutschland, sondern auch für alle westlichen Industrienationen, ein
internationaler gender gap. Schliesslich finden sich bei Einstellungsuntersuchungen
zur Ausländerfeindlichkeit meist keine Unterschiede mehr zwischen Frauen und
Männern. (Roth, 1989. Das gilt auch fuer die oben zitierten soziologischen
Untersuchungen, die i.d.R. zwar immer eine etwas geringere ausländerfeindliche
Einstellung bei Mädchen und jungen Frauen im Vergleich zur männlichen
Vergleichsgruppe feststellen. Diese Differenz erreicht aber nie ein relevantes Signifikanzniveau.)
Frauen gehen also dann offensichtlich in Distanz, wenn rassistisches Verhalten mit
männlich-chauvinistischem Gebaren amalgiert. Ebenso haben sie wenig Interesse
an einer Partei, die vornehmlich Männerinteressen vertritt. Aber in ihrer rassistischen
Programmatik wird auch eine rechtsextreme Partei für Frauen interessant. Daraus
erklärt sich z.B. der zwar verminderte aber durchaus relevante Anteil von Frauen
an den Wahlerfolgen der Republikaner.
Aber Frauen hängen sich nicht nur an Männer an, sondern es gibt durchaus
auch frauenspezifische Formen des Rassismus, so wenn Tagesmütter sich weigern,
schwarze Kinder in Pflege zu nehmen, oder im schwarzen Mann den Prototyp des Vergewaltigers
ausmachen. Das hat für sie die Entlastungsfunktion, sich nicht selbst mit der
Gewalt und Mißachtung der "eigenen" Männer auseinandersetzen
zu müssen - auch hier eine Form der psychologischen Ausbeutung, die letztlich
selbstschädigend ist, da sie der Auseinandersetzung mit den konkreten Gewalttätern
aus dem Weg geht.
D.h. nur solange wir uns allein auf den gewalttätigen Rassismus konzentrieren,
läßt er sich mit Sexismus identifizieren. Dann wird Rassismus in erster
Linie zur Männersache, für die Frauen nicht verantwortlich zu machen sind.
Der Entlastungsgewinn ist hier offensichtlich.
Dennoch stimmt, daß es eine enge Verwandtschaft zwischen Rassismus und Sexismus
gibt, denn beidesmal werden Unterschiede zur Diskriminierung benützt, die an
biologischen Merkmalen festgemacht werden. Auch verweist die männliche Selbstdefinition
ueber Abgrenzung und Entwertung anderer, das Primat von Autonomie und Leistungsstreben
in ihrem Selbstverstaendnis auf diesen Zusammenhang. Aber das macht Rassismus nicht
zu einer exklusiven Männersache, denn insoweit weiße Frauen Teil dieses
Systems sind und ihre Interessen sich mit denen des weißen Mannes verknüpfen,
insoweit ist er genauso auch ihr Problem.
Resümee
Wenn wir nun die verschiedenen Erklärungsansaetze Revue passieren lassen, so
wird in ihren jeweiligen Argumentationen und vor allem in der Verabsolutierung ihres
Standpunktes ihr Abwehrcharakter deutlich:
Bei den Feministinnen liegt in der Überbetonung des männlich chauvinistischen
Anteils die Abwehr, daß Rassismus im wesentlichen Sache der Männer sei.
In der psychologischen Argumentation erscheint die Abwehr in der Internalisierung
"des Fremden" als Eigenes, als Widerspiegelung des Verdrängten. Damit
wird die Fremdenangst zu einer ahistorischen, anthropologischen Konstante abstrahiert
und die konkreten Interessen und Machtverhältnisse ausgeklammert.
Und schließlich verschieben die soziologischen Analysen in Form der Individualisierungsthese
das "Problem" auf die unteren Schichten, Randgruppen, und vor allem machen
sie es zu einem Jugendproblem. Jugend und Gewalt heißt dann das Thema, das
so seines politischen Charakters beraubt zur Verzweiflungstat oder zum Hilfeschrei
der Modernisierungsverlierer hochstilisiert wird.
Zugleich kristallisiert sich in all diesen Ansätzen ein gemeinsamer Nenner
heraus: Anfällig fuer autoritär-nationalistische und rassistische Einstellungen
sind vor allem die Jugendlichen und jungen Erwachsenen, die sich mit den herrschenden
Werten von Geld, Karriere und Erfolg identifizieren und unkritisch die Anforderungen
ihrer Eltern übernehmen, das Leistungsprinzip verabsolutieren und die zwischenmenschlichen
Beziehungen auf ihre Funktionalität für die Eigeninteressen hin reduzieren.
D.h. entgegen der Erwartungen der meisten Forscher ist dies kein vorrangiges oder
gar ausschliessliches Problem der Zukurzgekommenen, sondern in seiner systematischen
Erscheinungsform vor allem ein Problem der Etablierten, bzw. jener, von denen erwartet
wird und die es von sich selbst erwarten, daß sie einmal dazu gehören
werden - mit aller Gewalt. Einer Gewalt, die sich gegen sie selbst und gegen die
anderen richtet.
Insofern kann wohl kaum von Protest gesprochen werden, sondern eher von dem verbissenen
Versuch, mitzuhalten.
Angesichts dieser Gewaltträchtigkeit muß die Gesellschaft sich fragen,
wie hoch sie eigentlich die Latte hängen möchte, um ein Entree zu gewaehren,
wie eng die Lebensentwürfe sich allein auf Leistungsstreben und Erfolg reduzieren
müssen, um in die vorgegebenen Raster hineinzupassen und wie selbstverständlich
überall in unserer westlichen Dominanzkultur, ökonomischer Erfolg mit
kultureller, politischer und menschlicher Überlegenheit gleichgesetzt wird.
So erscheint es geradezu kontraproduktiv, wenn nun nach einer Rückbesinnung
auf die alten Werte von Fleiß, Ordnung und Familie gerufen und den 68ern vorgeworfen
wird, sie hätten die Autoritäten zu sehr in Frage gestellt und damit die
nachfolgende Generation sich selbst überlassen. Nicht zuviel, sondern zuwenig
68 möchte ich dagegen halten. Denn wo hat sich denn tatsächlich die Kritik
von damals an der Wirtschaftswundermentalität durchgesetzt, die tüchtig
und fleißig "die Vergangenheit weggeschafft" hat? Gerade diese Reduktion
auf den homo oeconomicus und die elterlichen Verdrängungsbemühungen wurden
von den 68ern angegriffen. - Was nicht bedeutet, daß sich in ihrer Bewegung
teilweise analoge Einstellungen in Form eines moralischen Rigorismus und Autoritarismus
widerspiegelten.
Auch war z.B. die ganze sog. Ausländerpolitik der Nachkriegszeit nichts anderes
als Wirtschaftspolitik, d.h. die Immigrantinnen wurden auf wirtschaftliche Faktoren
reduziert. Und diese funktionalistische Denkweise kommt nun in den Einstellungen
der Jugendlichen zurück - verschärft unter dem Druck, den Erfolgsansprüchen
der Elterngeneration genügen zu müssen.
Und vor allem: Analysen, die so unbefangen nach Familie, naturwüchsigen Milieus
und Arbeitstugenden hier in Deutschland als Bollwerk gegen Rassismus rufen, sind
nicht nur unpolitisch, sondern gefährlich geschichtsvergessen. Wenn die Aufarbeitung
der Vergangenheit sich nicht an der Anzahl der Gedenkfeiern und der Buchpublikationen
bemißt, sondern daran, wie gegenwärtig die Vergangenheit in unserem Denken
ist, so kann man nur sagen, daß solche Autoren von dieser Aufarbeitung weitgehend
unberührt geblieben sind. Dazu paßt die Tatsache, daß in all den
zitierten Untersuchungen nach den politischen Traditionen in den Familien nicht
gefragt wurde.
D.h., daß in der Tat eine Wertediskussion geführt werden muß, nämlich
eine solche, die die Werte dieses Wohlstandschauvinismus in Frage stellt.
Dazu gehört z.B. die entschiedene Kritik der Frauenbewegung an der Dominanz
des sog. Produktionsbereichs und der wirtschaftlichen Verwertungslogik gegenüber
der Bedeutung von Beziehung, Mitmenschlichkeit und Privatheit. Oder aber die Ökologiebewegung
mit ihrer Distanzierung von einem Fortschritts- und Wachstumsdenken, an dessen Stelle
sie Verantwortlichkeit für uns, die nachfolgende Generation und die Natur einfordert.
Dabei müssen wir im Besonderen aber auch unsere Verantwortung fuer die Ausbeutung
von Menschen aus anderen Ländern und Kontinenten wahrnehmen.
Das erfordert eine kritische Reflexion des eigenen Dominanzanspruchs, der nicht
zuletzt auch durch die Verdrängung der NS-Vergangenheit genährt wird.
Denn die spezifische deutsche Variante des Rassismus, die sich durch eine besondere
Brutalität auszeichnet, ist nicht zuletzt auch durch diese Vergangenheit bestimmt,
die uns einmal suggerierte, es gäbe ein ethnisch homogenes Deutschsein. D.h.
die Vorstellung, deutsch können nur diejenigen sein, die weiß, christlich
sozialisiert und von deutschen Vorfahren abstammen, diese Vorstellung lebt heute
bei uns noch weiter fort und legitimiert die Gewalttäter, Menschen aus dem
Lande zu jagen, die diesen Vorstellungen nicht entsprechen.
Damit wird aber auch deutlich, daß allein eine Wertediskussion nicht genügt,
sondern diese nur bei einer gleichzeitigen Veränderung der politischen Realität
Bestand haben kann. Dazu gehört in erster Linie ein gleichberechtigter Umgang
mit allen Menschen, die hier leben, gleich welcher ethnischer Herkunft sie sind,
sowie die aktive Unterstützung ihrer politischen und gesellschaftlichen Partizipation.
D.h. hier ist nicht nur die Politik im engeren Sinn gefragt, sondern in gleicher
Weise Gewerkschaften und Arbeitgeber und andere gesellschaftliche Institutionen,
um die faktische Diskriminierung ethnischer Minderheiten am Arbeitsplatz, in den
Schulen, im Wohnbereich, in den Medien etc. abzubauen. Denn eines der wichtigsten
Ergebnisse der sozialwissenschaftlichen Forschung in Bezug auf ein produktives interkulturelles
Zusammenleben ist, daß eine ungleiche Repräsentanz der ethnischen Gruppen
auf verschiedenen Statuspositionen die Ungleichheit und damit ein entsprechendes
Über- bzw. Unterlegenheitsgefühl tagtäglich reproduziert und so alle
wohlmeinenden Bemühungen um Antirassismus und Interkulturalität letztlich
unterläuft. Erst wenn die türkische Professorin genauso selbstverständlich
geworden ist wie der deutsche Putzmann oder der schwarze Politiker genauso wie seine
islamische Kollegin, kann davon ausgegangen werden, daß sich auch die Einstellungen
der Einheimischen verändert haben.
Das bedeutet aber auch, daß alle, die hier als Mitglieder der Mehrheit aufgewachsen
sind, die Dominanzerfahrungen als Einstellungen internalisiert haben. Diese Haltungen
und Gefühle sind bewußt zu machen und einer kritischen Bewertung zu unterziehen.
Insofern ist auch je individuell notwendig ein "unlearning of racism/antisemitism",
wie das im englischen Sprachraum benannt und mit entsprechenden Programmen umgesetzt
wird. Hier stehen wir noch ganz am Anfang, z.B. auch was die kritische Prüfung
der Schulbücher und anderer Sozialisationsinstrumente anbetrifft.
Wir leben in einer Dominanzkultur und haben uns daran gewöhnt, einen Vormachtsanspruch
geltend zu machen und andere für unsere Interessen zu funktionalisieren. Eine
Gegenstrategie, den den Anspruch auf Gleichheit und Freiheit auch nur im Ansatz
gerecht werden möchte, muß deshalb gleichzeitig an den verschiedenen
Ebenen der individuellen, sozialen und politischen Verstrickung ansetzen.
Literatur:
Bauriedl, Thea: Wege aus der Gewalt. Analyse von Beziehungen. Freiburg: Herder 1992
Beck, Ulrich: Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne. Frankfurt:
Suhrkamp, 1986
Fanon, Frantz: Schwarze Haut, weiße Masken. Frankfurt: Syndikat, 1980
Heitmeyer, Wilhelm: Rechtsextremistische Orientierungen bei Jugendlichen. Muenchen:
Juventa, 1989
Ders.: Die Bielefelder Rechtsextremismusstudie. Muenchen: Juventa 1992
Held, J. & Horn, H.W. u.a.: "Du mußt so handeln, daß Du Gewinn
machst...". Diss. Text Nr. 18, Duisburg 1991
Herek, Gregory M. & Berrill, Kevion T.: Hate Crimes. Confronting Violence Against
Lesbians and Gay Men. London: Sage, 1992
Hoffmeister, Dieter & Sill, Oliver. Zwischen Aufstieg und Ausstieg. Autoritäre
Einstellungsmuster bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen. Opladen: Leske u. Budrich,
1992
Holzkamp Christine und Rommelspacher, Birgit: Frauen und Rechtsextremismus. Paed.
Extra, H1991, S.33-39
Kristeva, Julia: Fremde sind wir uns selbst. Frankfurt: Suhrkamp, 1990
Senatsverwaltung f. Jugend u. Familie (Hg): Gewalt gegen Schwule - Gewalt gegen
Lesben. Ursachenforschung und Handlungsperspektiven im internationalen Vergleich.
Dokumente lesbisch-schwuler Emanzipation des Referats für gleichgeschlechtliche
Lebensweisen Nr. 6 Berlin 1992
Rommelspacher, Birgit: Ethnischer und eugenischer Rassismus. Aspekte psychologischer
und kultureller Dominanz. In: Randschau Zeitschrift für Behindertenpolitik
Nr.2193
Dies.: Rechtsextremismus und Dominanzkultur. In: Foitzik A. u.a.: "... ein
Herrenvolk von Untertanen" Rassismus-Nationalismus-Sexismus Duisburg: Diss,
1992
Dies.: Nationale Identität und Größenwahn. In: B. Schoch (Hg): Deutschlands
Einheit und Europas Zukunft. Frankfurt: Suhrkamp, 1992.
Roth, Dieter. Forschungsgruppe Wahlen: Charakteristische Einstellungsunterschiede
zwischen Männern und Frauen. Unv. Manuskript 1989
Willems, Helmut: Strukturen und Ausbreitungsmuster fremdenfeindlicher Gewalt. Vortrag
Soziologentag v. 28.9.-2. 10.92 in Düsseldorf
aus: Rechte Gewalt und der Extremismus der Mitte, herausgegeben vom Referat fuer
Öffentlichkeitsarbeit des Bundesvorstands von Bündnis90/Die Grünen
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Most recent revision: April 07, 1998
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