Drei Fragen zu den Rätseln der Abtreibungsdebatte
Frage 1: "warum wird das Tötungsverdikt des Bundesverfassungsggerichts
zur Abtreibung kritiklos hingenommen?"
Als im Mai 1975 das Bundesverfassungsgericht die Fristenregelung der sozialliberalen
Regierung für unvereinbar mit dem Grundgesetz erklärte, begründete
es sein Meinung im wesentlichen mit Ergebnissen der Embryologieforschung. Danach
müssen eine Abtreibung als Tötung eines Menschen gelten, weil mit der
Verschmelzung von Samen und Ei das typisch Menschliche bereits gegeben sei. (1)
In anderen Ländern, die in diesen Jahren ihre einschlägigen Gesetze liberalisierten,
wurde die Frage der "Tötung" entweder gar nicht aufgenommen oder,
wie in den USA, als wissenschaftlich nicht entscheidbar vom Supreme Court verworfen.
Statt dessen wurde die moralische Bewertung jedem einzelnen im Rahmen seines Kulturverständnis
überlassen.
Unserer Abtreibungsregelung von 1976 liegt die Vorstellung zugrunde, daß Abtreibungen
verabscheuungswürdige Tötungen sind, die öffentlich zu mißbilligen
seien. Zugleich sieht das Gesetz vor, daß es "zulässige" Tötungen
geben dürfe, und zwar nach dem Modell der Indikationsregelung. Die wichtigste
Abtreibungsbegründung ist seither die "Notlagen"-Indikation, die
um zulässig zu sein, so schwer wiegen muß, daß der Frau die Austragung
der Schwangerschaft nicht zugemutet werden darf. Fast 90% aller Abtreibungen begründeten
Ärzte mittlerweile mit der "schweren Notlage" (2).
Mit seiner embryologischen Definition vom Beginn des Lebens verkündete das
Bundesverfassungsgericht ein Tötungsverdikt, das die individuelle und kulturelle
Bedeutung von Abtreibungen für unerheblich erklärt. Eine äußere
Instanz, die Gerichtsentscheidung, wurde an die Stelle der "inneren" gesetzt.
Das Gewissen, und um dieses handelt es sich, das nur persönlich sein kann,
wurde als Instanz der endlosen Wachsamkeit beansprucht, das Wesen von Abtreibungen
"ein für alle mal geklärt" zu haben. Wer seinem Gewissen trotzdem
noch folgen will, gerät deshalb - zumindestens formal - mit dem Grundgesetz
aneinander. Deshalb wagt es inzwischen keine der Parteien mehr, in den Debatten
über die Neuregelung des 218 StGB - vom Bündnis 90 /Grüne abgesehen
(3) - das Tötungsverdikt als eine partikulare Sicht in Frage zu stellen. So
gesehen, scheint die kulturelle Bedeutung der Abtreibung bei uns "ein für
alle mal geklärt".
Weil die Diskussion über Abtreibungen immer Schmerzliches berührt, setzt
sie in jeder Kultur, (4) wenn es um die Änderung von Regelungen, große
Toleranz für widerstreitende Gefühle voraus. Sehr oft handelt es sich
um verdrängte Gefühle, um solche, die schmerzhaft, angstmachend oder peinlich
sind und über die sich nur schwer reden läßt. Sie unbedacht aufzudecken,
löst Ärger und nicht selten sich gewaltsam äußernde Affekte
aus. Solange über sie jedoch nicht offen geredet werden kann, kommt es zu wahrhaft
anmutenden Reaktionsformen, die allein dem Zweck diesen, die unerträglichen
Gefühle daran zu hindern, bewußt zu werden.
Auch das höchstrichterliche Urteil dient diesem Zweck. Es entlastet wie ein
Kirchenspruch von der individuellen Verantwortung, die Entscheidung über die
Abtreibung selbst treffen zu müssen - das Gewissen muß nicht befragt
werden, an seine Stelle tritt der medizinische Experte. Das heißt, obwohl
zur Zeit eine embryologisch begründete Lebensschutzmoral die Diskussion beherrscht,
geht es in der Abtreibungsfrage nicht darum, "wann Leben beginnt".
Es geht nicht um den Schutz des ungeborenen Lebens, sondern ironischerweise
darum, den bereits Geborenen die Auseinandersetzung mit wichtigen Episoden ihrer
eigenen Lebensgeschichte zu ersparen - Erlebnissen nämlich vor allem mit der
höchst bedeutsamen Mutter in unseren frühen Lebensphasen. Deshalb sind
Abtreibungsmeinungen, seien sie nun individuell von Parteien oder Kirchen vorgetragen,
prinzipiell immer hochgradig "emotional" und deshalb verletzend, weil
sie peinliche Gefühle bewußt machen könnten. Eine Abtreibungsmeinung
ist meist um so überzeugender, je mehr sie sich dafür eignet, die Angst
vor unerfreulichen Kindheitserfahrungen verdrängt zu halten. Das kann durch
ein Bekenntnis zu einer wissenschaftlich deklarierten Wahrheit oder zum Urteil des
Bundesverfassungsgerichts ebenso geschehen wie durch die bedingungslose Propagierung
straffreier Abtreibungen.
Mit anderen Worten: Obwohl die Abtreibungsbewertung von den Konservativen als Diskurs
über Moral und Unmoral, von der Bürgerrechtsbewegung als Diskurs über
Freiheit und Unfreiheit und von der Frauenbewegung als Streit über Selbst-
und Fremdbestimmung geführt wird, handelt es sich zugleich um Symptombildungen
- durchaus im klinischen Sinne-, die die peinlichen und angstmachenden Aspekte eines
Konflikts von der bewußten Wahrnehmung fernhalten sollen und damit die Realität
verzerren.
Diese Zwieschlächtigkeit sowohl bei den "Abtreibungsgegnern" wie
bei ihren "Befürwortern" ist nicht ohne Folgen geblieben. Das Nebeneinander
von vermeintlich ewigen Gewißheiten und verdrängten Affekten führte
zu einer Verdrängung des Individuellen wie des Historischen in der Debatte.
In erster Linie wurde damit der verborgene affektive Anteil, den jeder, wenn er
will, letztlich fühlen kann, in Schach gehalten. Die damit verbundene Einsichts-
und Veränderungshemmung manifestiert sich im ermüdenden Wiederholen der
immergleichen alten Meinung, die Gegner und Befürworter zwischenzeitlich gleichermaßen
charakterisiert.(5)
Die suspendierte Selbstreflexion (die um Tötungs- und Verletzungsphantasien
kreisen müßte, wenn sie Lebensgeschichte bedenken wollte), zieht es heute
vor, abtreibende Frauen die Eigenschaft der Hilflosigkeit anzudichten. De facto
jedoch werden auf die Frauen die Probleme ihrer Beschützer projiziert. In der
Abtreibungsdebatte hat sich in den letzten Jahren in diesem Sinne ein klar konturiertes
Schema von Opfern und Tätern, Schuldigen und Unschuldigen entwickelt: abtreibende
Frauen sind Opfer und unschuldig! Als Sozialfälle sind sie "anständige"
Frauen. Entweder sind sie arme Opfer partnerschaftlicher Konflikte, rücksichtsloser
Männer, ungeduldig drängender Eltern, unnachsichtiger Freunde, unduldsamer
Nachbarschaftskulturen oder sie sind arbeitslos und beziehen Sozialhilfe: sie sind
Kostgängerinnen der "schweren Notlagenindikation".
Dabei ist zu beachten: Je versorgungsbereiter und sozialdemokratischer die Orientierung
der Frauenschützer, um so größer ist die Neigung, das Begehren von
"anständigen" Frauen als Ausdruck vielfältiger Not anzuerkennen.
Die äußere Welt verkörpert das Zerstörerische und Böse,
das sich gegen das Leben in der Frau richtet. Und umgekehrt, je biologischer und
unsozial-demokratischer die Sicht vom Wesen der Frau, um so rigider wird der Opferstatus
geleugnet. Hier wird die Frau rasch zur Täterin, die aus falsch verstandener
Wesensbestimmung - diese Frauen denken zu sehr an sich selber - sich "selbst
verletzt" und "Kinder tötet". Das ist dann die "unanständige"
Frau: das Zerstörerische geht aus ihr hervor.
Beide Sichtweisen schließen jedoch aus, daß Frauen "Es"
tun können, weil sie "Es" begehren, und daß sie sich gerade
deshalb als "Frau im eigenen Hause fühlen. Unsere geheimen Phantasien
vom Arrangement der Geschlechter sehen solche Autonomie gar zu selten vor.
Wir alle sähen abtreibende Frauen - vielleicht sogar ausnahmslos - lieber als
hilflose Opfer, denn als Täterinnen, denn als Täterinnen sind sie beängstigende
durch die Selbstständigkeit, mit der sie darüber entscheiden, ob Leben
entsteht und wie es sich nach der Geburt entwickelt. Nicht die einzelne abtreibende
Frau ist bedrohlich, sondern das, was wir als verschüttete traumatische Erfahrung
unserer Kindheit mit der vagen Ahnung mütterlicher Tätigkeit verbinden.
Deshalb muß weitgehend alles, was unserer Wunschwelt von der grenzenlos guten
Mutter widersprechen könnte, verleugnet werden. Nur so läßt sich
das Bild idealer Mütterlichkeit gegen den Beweis einer rauheren Wirklichkeit
bewahren. Wenn "die Mutter" zur reinen, letztlich marienähnlichen
Gestalt in uns erhoben wird, dann entspricht das weder den guten noch den schlechten
Seiten von Frauen. Dennoch ist die Gestale ablgemein akzeptiert. Sie ist keineswegs
nur ein katholisches, sondern inzwischen ein allgemeines säkulares Ideal, das
in der Frauenbewegung im Wunschbild der "friedfertigen Frau"(6) und "täterunfähigen
Frau"(7) nicht weniger auftaucht als in den Schriften von Ernst Bloch.
Wenn wir die Mutter unserer Kindheit nicht idealisieren, sondern neben den
guten ihr auch die bösen Seiten lassen, können Kinder sich dann immer
noch der seligen Phantasie hingeben, daß die Mutter sie durchweg geliebt und
ihnen nicht zeitweise oder sogar ganz ihre Liebe entzogen hat? Was ist mit Mädchen,
die zu früh gezeugt wurden oder gar gegen den Willen ihrer Eltern das Licht
der Welt erblickten?
Noch bedrückender ist die Frage: Hätte die Mutter ihre heute lebenden
erwachsenen Kinder abgetrieben, wenn sie die Möglichkeit dazu gehabt hätte?
Die wenigsten Personen können diese Frage beantworten, und die wenigsten wollen
die Antwort darauf wissen. Denn wäre die Antwort "ja", würde
das die Kindheitserinnerungen entwerten und die Idealisierungen des Erwachsenenalters
zerstören; gleichgültig ob die Kinder erst 5 oder bereits 60 Jahre alt
sind. Wir alle ertragen den Gedanken kaum, daß die Mutter in den Phasen unserer
größten Abhängigkeit uns phasenweise ohne ihre Liebe gelassen hat
und wir uns tödlicher Verlassenheit ausgesetzt sahen. Allein schon die Vermutung,
daß wir möglicherweise unsere Existenz nur dem Abtreibungsverbot verdanken,
ist für die meisten Menschen eine kaum erträgliche Vorstellung.
Es sind diese realen frühkindlichen Verlassenheitserfahrungen, die dazu beitragen,
daß Erwachsene gegen "die Kindestötung durch Abtreibung" sind.
Und der Widerstand gegen die Autonomie der Mutter ist verständlich, wenn man
der Einschränkung dieser Autonomie sein Leben verdankt. Anstatt über die
nichtideale Mutter zu trauern, wird der Schmerz und die Enttäuschung über
sie verdrängt. (8) Unter dem Banner des Lebensschutzes sollen die Frauen statt
dessen gezwungen werden, unerwünschte Schwangerschaften auszutragen. Die Lebensschützer
wiederholen damit tragischerweise das Schicksal, das sie allzu oft ihr Leben lang
selber tragen müssen. Ihr gut gemeinter Schutz sorgt dafür, daß
unerwünschte Kinder weiterhin geboren werden und daß sie die bedrückenden
Erfahrungen der "Lebensschützer" wiederholen müssen. Die Abwehr
der verschollenen Erinnerungen macht den Ruf nach ewigen Gewißheiten über
den Lebensbeginn dann nur zu verständlich. Frage 2: Warum übersieht
unsere Gesellschaft beim Reden über das "Kindeswohl", daß das
Abtreibungsverbot unerwünschte Kinder lebenslang benachteiligt?
In Modernen Gesellschaften werden unerwünscht geborene Kinder nicht getötet.
Dieser kulturelle Fortschritt war von der Vergesellschaftung der Kindeserziehung
und der Geburtenkontrolle begleitet. Fallen diese Voraussetzungen weg, so wird das
Tötungstabu abermals in Frage gestellt.
Unerwünschte Kinder sind in diesem Sinn der Preis des Kulturfortschritts. Sie
stellen eine Kompromißbildung zwischen der archaischen Kindestötung und
der modernen Kindesaussetzung dar. Es ist inzwischen erforscht, daß Kinder,
die aus sehr unterschiedlichen Gründen unerwünscht sein können, nach
ihrer Geburt einem schleichenden Prozeß der psychischen Deprivation ausgesetzt
werden, der zu Beziehungsunfähigkeit, Glücklosigkeit, Neurotisierung oder
psycho-somatischer Erkrankungen führen kann. (9)
Mit der Idealisierung der Mütterlichkeit wird versucht, diese alltägliche
Widersprüchlichkeit zu verleugnen. Als Reaktionsbildung darauf entstand die
Kulturforderung nach einem absoluten Liebesgebot von Kindern, das besonders Müttern
vorschreibt, ihre Kinder mehr zu lieben als sich selbst.
Vor allem Frauen, die ein unerwünschtes Kind geboren haben, werden unnachsichtig
mit diesem universalistischen Liebesgebot konfrontiert. Sie dürfen das Kind
nicht nur nicht töten, nicht hassen und nicht verstoßen, sie sollen es
vielmehr vorbehaleslos lieben, als gäbe es nichts in ihnen und um sie herum,
das dem entgegenstehen könnte.
Dem zerstörerischen Impuls der Kindesablehung steht deshalb der inständige
kollektive Wunsch entgegen: "Wenn das Kind erst einmal da ist, dann wir die
Frau es auch lieb haben!" Angesichts der hohen Zahl unerwünscht geborener
Kinder (10) ist diese Hoffnung nur zu verständlich. Aber die mit der Geburt
verschwundenen oder abgeflachten Gefühle von Ablehnung und Verstoßung
haben sich nur scheinbar in Zuneigung zum Kind verwandelt. Sie sind vielmehr zur
innerpsychischen Geschichte der Frau und des Mannes des unerwünschten Kindes
geworden. Als verdrängte Geschichte gehören sie dem Unbewußten an
und prägen mit unsichtbarer Hand die harmonisch erscheinenden Eltern-Kind-Beziehung
zu einer höchst widersprüchlichen Welt der ambivalenten Gefühle.
"Mütterlich sein" ist keineswegs eine naturhafte Ausstattung, wie
die anatomische Fähigkeit von Frauen zu gebären. (11) "Mütterlich
sein" ist eine entstandene Beziehungsunfähigkeit, die an vielfältige
Voraussetzungen gebunden ist. Sie kann vollständig oder zeitweise fehlen. Als
eine Beziehungsunfähigkeit kann sie auch Männern eignen.
Die normative Gleichsetzung der anatomischen Gebärfähigkeit mit "natürlicher
Zuneigung zum Kind" umstellt Frauen nachhaltiger mit dem Tötungstabu und
illusionären Mütterlichkeitserwartungen als Männer. Diese Einsicht
hat weitreichende Folgen für alle, die den illusionären Wunsch von der
"naturhaft guten Frau" über die Kränkungen obsiegen lassen,
die eben dieser Frau durch den Zwang zugefügt werden, eine unerwünschte
Schwangerschaft auszutragen. Frauen nehmen unerwünschte Kinder keineswegs selbstverständlich
an. Die gefühlsmäßige Annahme der Kinder nach der Geburt ist überhaupt
keine Selbstverständlichkeit.
Die "Eltern mit dem unerwünschten Kind" bilden vielmehr eine tragische
Einheit, die unter dem Verbot der Kindestötung Anpassungsmechanismen an eine
höchst widersprüchliche Gefühlslage entwickelt. Sie ziehen das Kind
so auf, daß sie vor dem Gesetz nicht strafbar und vor dem eigenen Gewissen
nicht schuldig werden. Nach einer Auswertung von 500 Studien aus den vergangenen
40 Jahren (12) wissen wir, daß viele unerwünschte Kinder ein schwereres
Leben als erwünschte Kinder führen. Ihr Schicksal verläuft leidvoller,
kennt mehr Beziehungsstörungen und ist anfälliger für Krankheiten.
Die Nachteile beginnen mit der Schwangerschaft; sie beeinflussen das Todesrisiko
während und kurz nach der Geburt und die Wahrscheinlichkeit, Opfer elterlicher
Gewale zu werden. Sie reichen über die Säuglingszeit und die Kindheit
bis ins Erwachsenenaleer. Sie können ursächlich den jeweiligen Gesetzen
zugeschrieben werden, die Frauen daran hinderten abzutreiben.
Es wäre allerdings höchst irrig, Erwünschtheit mit Glück und
Sorgenfreiheit gleichzusetzen. Erwünschte Kinder haben vergleichbare Symptome
aus anderen Beziehungsstörungen, aber statistisch gesehen weniger häufig.
Die Beziehungswelt unerwünschter Kinder ist hingegen von tiefem Zerrissenheit
der elterlichen Gefühlswelt geprägt, die es zumeist verhindert, daß
es zur Entwicklung von "Urvertrauen", nämlich tragfähigen Objektbeziehungen
kommt. Das unterscheidet sie wesentlich von erwünschten Kindern.
Wie werden Eltern damit fertig, daß sie ein unerwünschtes Kind zur Welt
gebracht haben? Zwei Formen der Kompromißbildung will ich skizzieren:
(a) In einer Studie wurde eine Frau mit folgender Äußerung zitiert: "Seit
der Geburt wußte mein Kind, was ich ihm angetan habe. Wirklich, ich glaube,
es ist irgendwie geschädigt worden. Jedenfalls lehnte mein Kind mich von Anfang
an ab, das heißt, es verweigerte, die Brust anzunehmen, zu essen oder auf
meine Bemühungen einzugehen.". (13)
Der Frau fiel es ganz offensichtlich schwer, die Äußerungen ihres Kindes
von ihren eigenen Phantasien über den erlittenen Zwang zu trennen. Sie verkannte
die kindliche Realität und interpretierte Schreien und Nahrungsverweigerung
als gezielte Strafe für ihren zurückliegenden Abtreibungswunsch und ihre
gegenwärtigen feindseligen Gefühle. Die Mutter fühlte sich in ihrer
Phantasie bei "unmütterlichen" Wünschen ertappt und durch das
Schreien der kindlichen Rache ausgesetzt. Sie geriet mit ihren angst- und schuldgetriebenen
Zwangsvorstellungen in einen hochambivalenten Gefühlsclinch und verlor zeitweise
die Realität aus dem Blick. Zunehmend gewann ihre innerpsychische Realität
Gewalt über sie.
Damit beginnt das "Crying Child Syndrome". Hört das Kind zu schreien
auf, erlebt das die Mutter als Ende der "Strafaktion und als Versöhnungschance",
schreit es neuerlich, so wähnt es sie sich wiederum ertappt, bestraft und zurückgewiesen.
In diesem Clinch kann es passieren, daß die Säuglinge aus mütterlichen
Ohnmachtsgefühlen wie Wut- und Haßausbrüchen "ruhiggestellt"
werden. Kinder werden geschlagen (14) - und im Extremfall sogar erschlagen. Damit
wird verständlich, daß die schrecklichsten Mißhandlungen an Säuglingen
von ihren Müttern begangen werden.
(b) Im zweiten Beispiel taucht das Phänomen der Kindesablehnung in der Verkleidung
der mütterlichen Überfürsorglichkeit auf. Diese Reaktion stellt eine
häufige und sozial äußerst angepaßte Form der verdrängter
Kränkungs- und Wutgefühle dar: Sie ist eine Kompromißbildung zwischen
dem feindseligen Pol der innerseelischen Gefühlswidersprüchlichkeit und
der gesellschatlichen Mutteridealisierung.
Durch ihre ständige Verfügbarkeit entspricht die überfürsorgliche
Frau vorbildlich der Phantasie von der "idealen Mutter". Unbewußt
dienen Aufopferung und Überfürsorglichkeit jedoch nicht dem Kind, sondern
dem Wunsch, Schuldgefühle abzuwehren, die bei der Mutter aus dem ursprünglichen
Abtreibungswunsch offen geblieben sind. Die Überfürsorglichkeit soll auch
latente Verstoßungs- und Haßgefühle abwehren. Typischerweise zeigen
überbehütende Mütter deshalb häufiger Ängste, daß
sich ihr Kind verletzen oder daß ihm etwas zustoßen könnte. Der
unbewußte Zerstörungswunsch tritt in der Verzerrung der Sorge und Angst
auf.
Konsequenterweise versorgt die überfürsorgliche Frau ihr Kind nach allen
Regeln der mütterlichen Kunst, aber sie raubt ihm zugleich "innerlich
die Luft", die es zum Großwerden benötigt. Die "Destruktivität
der Überfürsorglichkeit" läßt sich zum Beispiel daran
erkennen, daß ärztliche oder psychologische Hilfe für das erkrankte
Kind nicht oder zu spät in Anspruch genommen werden. Die größere
Säuglingssterblichkeit unerwünschter Kinder hängt damit zusammen.
Beide Eltern glauben, daß allein ihre Liebe und die aufopfernde Hingabe das
Kind heilen können. Unbewußt "fürchten" sie, die Erkrankung
des Kindes könnte Außenstehenden etwas von ihren feindseligen Affekten
und dem ursprünglichen Abtreibungswunsch verraten. Dramatisch verschärft
sich die Psychodynamik dieser Familien immer dann, wenn das unerwünschte Kind
für materielle Probleme oder zerstörte Lebenspraktiken verantwortlich
gemacht wird, die spätestens seit dessen Geburt sich einstellten. Nicht die
sozialen Umstände oder die Eltern sind dann schuld, sondern das störende
Kind. Frage 3: Warum wollen einige Parteien den Frauen die Freiheit der Fristenregelung
gewähren, aber sie zugleich der Unfreiheit der Zwangsberatung unterwerfen?
Abtreibung ist "Tötung", ist "verwerflich", zeugt von "Gewissenslosigkeit",
von "widernatürlicher Verweigerung der Mutterschaft" und ist obendrein
eine "virtuelle Wiederholung nationalsozialistischer Greuel"; so der Tenor
des Bundesverfassungsggerichts in seinem Urteil zur Fristenlösung im Jahre
1975.
Das Gericht hat nicht nur kühn definiert, wann menschliches Leben beginnt,
sondern zugleich versucht, die nationalsozialistische Vergangenheit aufzuarbeiten.
Insofern hat es nicht nur embryologisch argumentiert. Es hat eingeräumt, daß
die naturwissenschaftliche Lebensdefinition - und damit ein Unwerturteil über
eine Abtreibung - zugleich eine politische Interpretation sei:
"Dem Grundgesetz liegen Prinzipien der Staatsgestaltung zugrunde, die sich
nur aus der geschichtlichen Erfahrung und der geistig-sittlichen Auseinandersetzung
mit dem vorausgegangenen System des Nationalsozialismus erklären lassen. Gegenüber
der Allmacht des totalitären Staates(..) hat das Grundgesetz eine wertgebundene
Ordnung aufgerichtet (..) Dem liegt die Vorstellung zugrunde, daß der Mensch
in der Schöpfungsordnung einen eigenen selbstständigen Wert besitzt, (..)
der es deshalb ausschließt, solches Leben ohne rechtfertigenden (Herv.
G..A:) Grund zu vernichten (..)". (16)
Es geht also darum, die "Verwerflichkeit der Abtreibung" als Zulässiges
und Verbotenes zugleich zu begründen; es geht um zulässige Tötung
aus der Sicht des Staates und um den Kampf gegen die Wiederkehr nationalsozialistischer
Greuel.
Zugleich wird ein bemerkenswertes Feindbild kreiert: Frauen, die ohne gewichtigen
Grund abtreiben wollen. Sie seien durch "Gleichgültigkeit oder reine(r)
Bequemlichkeit", durch "willkürliche Entscheidungen" (17) charakterisiert,
und ihr Abtreibungswunsch verkörpere dunkle deutsche Traditionen. Sie seien
"von vornherein zum Schwangerschaftsabbruch entschlossen (...), ohne daß
ein der Wertordnung der Verfassung achtenswerter Grund für den Abbruch vorliegt...
Sie lehnen die Schwangerschaft ab, (..) den damit verbundenen Verzicht und die natürlichen
mütterlichen Pflichten (...)".(18)
Hier liegt eine eigentümliche Verschiebung vor, die auf verdrängte Geschichte
verweist: Individuelle Abtreibungsentscheidungen werden mit den Abtreibungskriterien
des nationalsozialistischen Staates verglichen, ja gleichgesetzt. Es entsteht der
verrückte Eindruck, als hätten die Lebensentscheidungen von Frauen in
einem demokratischen Gemeinwesen etwas mit nationalsozialistischen Kriterien von
"werten und unwerten" Leben zu tun. Konsequenterweise wird nahegelegt,
daß die Wiederkehr nationalsozialistischer Greuel durch die Kontrolle der
Frauen verhindert werden könne: Wehret dem weiblichen Abtreibungsbegehren,
wehret den Anfängen der Wiederholung!
Vor diesem Mischmasch aus Geschichtsverdrängung und Schuldverschiebung spitzt
sich die Neuregelung des "218 StGB" auf die Frage der "Beratung"
zu. Die vom Bundesverfassungsggericht vorgesehene "zulässige Tötung"(19)
nach der Notlagenindikation ist nämlich nur dann straffrei, wenn an die Stelle
der früher üblichen Strafen eine andere Maßnahme tritt, die das
Zulässige und zugleich das Verwerfliche zum Ausdruck bringt: die obligatorische
Unterweisung, die Zwangsberatung nach 218 StGB. Unverständlicherweise wird
heute nicht mehr über das Tötungsverdikt diskutiert. Um das "werdende
Leben" gegen die destruktiv phantasierende Frau zu schützen, wird nur
noch darüber gestritten, wie die Zwangsberatung aussehen soll.
Dieses Vorgehen hat eine eigenartige Logik. Sie legt nahe, daß die moralische
Zulässigkeit von Abtreibungen in dem Maße wächst, wie es durch Zwangsberatung
gelingt, sich ins Leben der Frau einzumischen und ihr Selbstbewußtsein zu
unterminieren. Denn was bedeutet Zwangsberatung anderes, als die moralischen und
intellektuellen Fähigkeiten der Frauen zur eigenen Urteilsbildung in Frage
zu stellen, ihre Verantwortungskompetenz zu bezweifeln?
Mit anderen Worten: die Auseinandersetzung darüber, ob Frauen sich einer Zwangsberatung
unterziehen sollen und wie "präskriptiv" diese sein muß, entspricht
einer weit verbreiteten Angst vor selbstbewußten Frauen, insbesondere solchen,
die die männliche Versorgungsbereitschaft nicht mehr in Anspruch nehmen wollen.
Es ist eine Angst, die im übrigen auch viele Frauen haben. In der Beratungsdiskussion
geht es jedoch nicht darum, die Lebensentscheidungen von Frauen unter Staatsaufsicht
zu stellen. Es geht viel grundsätzlicher darum, ob Frauen überhaupt entscheidungsfähig
sind und über die Voraussetzungen für Selbstständigkeit verfügen:
über Gewissen und Kultur. Kein Gewissen zu haben hieße in der Tat, kulturunfähig
zu sein.
Für die Situation einer ungeplanten Schwangerschaft hat das Bundesverfassungsgericht
das ernsthaft in Frage gestellt. Beratung nach 218b StGB soll Frauen gleichsam
nachträglich auf das Kulturniveau reifer Gewissensentscheidungen heben. Die
erzwungene Beratung basiert nicht darauf, daß eine Frau sich etwas holt,
was sie braucht, sondern, daß sie etwas erhält, was sie nach Meinung
des Höchsten Gerichts gar nicht hat: eine ausgebildete Gewissensinstanz, die
in der Lage ist, ohne fremde Hilfe zuverlässig zu funktionieren. Frauen wird
von "staatswegen" ein Ersatzgewissen beigeordnet. Dieses Ersatzgewissen
wird in den staatlich anerkannten Beratungsstellen "vorrätig gehaleen",
betrieben von den Verbänden freier Wohlfahrt.
Aufs Ganze gesehen ist die Beratung nach "218" eine moderne Form der Geschlechterdiskriminierung,
weil die "Beratungsbedürftigkeit" von einer auf Anatomisches reduzierten
Fähigkeit zu gebären ausgeht und, damit verbunden, von "weiblicher
Gewissensunfähigkeit". Es ist bemerkenswert, daß die strikte Freiwilligkeit
der Beratung an sich in demokratischen Gesellschaften respektiert wird. Noch bei
schweren Suchterkrankungen wird auf Zwangsberatung verzichtet, selbst wenn sie mit
schweren Nachteilen für die Gesellschaft verknüpft sind. Denn alle Bemühungen
bleiben vergeblich, wenn Kranke nicht gesund und Klienten nicht beraten werden wollen.
Das gilt erst recht für die Abtreibung - die keine Krankheit ist, sondern
Ausdruck von Autonomie und aktiver Lebensgestaleung. Zwangsberatung ist eine Perversion
des Sozialstaatsgedanken und ein Indiz für den "bevormundenden Staat".
Gerhard Amendt, Drei Fragen zu den Rätseln der Abtreibungsdebatte in: Leviathan
Jg. 1992 S. 281ff die Anmerkungen können dort nachgelesen werden.
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Most recent revision: April 07, 1998
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Martin Blumentritt