Nationales und Eigentümliches: größer und dümmer und deutscher
Der Superlativ gehört zur Grundausstattung wie das bald schon permanente Ptolemäer-Festival auf den bundesdeutschen Autobahnen und Flughäfen. Wo der Stau-Bürger zulangt, bleibt wirklich alles stehen.
Der Komparativ, Tendenz zum Superlativ, ist das teutonische Markenzeichen schlechthin, seit der Kanzler "historische Tage"am laufenden Band, die SPD allein deshalb historischere Tage" und die allemal unübertreffliche FAZ "historischste" Tage erfindet. Mit diesem Superlativ werden die Herren so unsterblich und unausrottbar wie jene Pennäler-Witze, die seit Kaiser Wilhelms Zeiten um die "Tötesten" und die "Schwangersten" herum gebastelt werden. Frage: "Wie heißt der Komparativ von peinlich?" Antwort: "Frankfurter Allgemeine Zeitung. Zeitung für Deutschland."
Größer und dümmer und deutscher soll die Republik werden - und wir in ihr mit ihr; dieses größere und dümmere und deutschere Deutschland (GDD statt BRD) wirft zwar allenthalben Schatten voraus(Rentnerarmut, Bauernsterben, Bodenspekulation, Massenarbeitslosigkeit), aber das hindert den von der Staatserhaltung auf die Staatserweiterung umgeschwenkten Chor der Fast-Allparteien-Koalition in Bonn nicht daran, das Feuer zu schüren, mit dem der rohe Stoff aus opportunistischen, indifferenten und abweichenden Interessen, Geschichten und Erwartungen zur ebenso alters-starrsinnigen wie marktschlüpfrigen Zombie-Fusion ("Zusammenwachsen") amalgamiert werden soll, bevor der mäßig kritische Demos sein Votum abgeben darf. Allparteien-Motto: Demokratie ist, wenn Stiere Nasenringe appliziert bekommen, solange sie pennen. Nur ein richtiges "Wahlrecht" ergibt "richtige" Wahlresultate. Die "Falschen" werden im Vorfeld juristisch erledigt: Bismarck hat, bevor er zur Keule des Sozialistengesetzes griff, die sozialdemokratisches Opposition mit ausgetüfftelter Wahlkreisgeometrie niedergehalten. In SPD-Wahlkreisen brauchte man für einen Sitz im Reichstag ein Mehrfaches an Stimmen im Vergleich zu bürgerlichen oder gar konservative-ostelbischen Wahlkreisen. Die Erinnerung daran ist bei der Jet-Set-SPD verloren gegangen. Keine größere Oppositionspartei hat in den letzten 50 Jahren eine so erbärmliche Rolle gespielt wie die SPD in den letzten Monaten.
Neben diesem Sommertheater geht es um Handfestes - also Eigentum. Der Vertreter der "Arbeitsgemeinschaft der Grundbesitzerverbände e.V." in der FAZ-Redaktion - der Berufs-Dresdner F.K.Fromme - bläst die Melodie vor: die Enteignung des agraischen Großgrundbesitzes nach 1945 in der SBZ, also die einzige demokratische Bodenreform auf deutschem Boden, soll revidiert werden. Um das zu begründen, muß die Geschichte des deutschen Großagrariertums umgeschrieben werden. Dieses Junkertum, das spätestens seit der Zoll- und Agrarpolitik Bismarcks in den 70er Jahren zur parasitären Kaste wurde und sich buchstäblich an den überhöhten Lebensmitteln krankfraß, kriegt nun eine zivilisatorische Rolle zugeschrieben (Rittergüter als "kulturelles Zentrum in ihrem Umkreis"). Wie diese Kultur ausgesehen hat, kann man nachlesen: "Reitpferde, ein paar Gespanne Wagenpferde, ein Dutzend Kutschen, ein gefüllter Weinkeller, eine gepflegte Jagd, gute Jagddiners, die Söhne Corpsstudenten oder Kavallerieoffiziere - das galt als "selbstverständlich". Getraute sich ein in "peinlicher Abhängigkeit" gehaltener Hauslehrer den reitenden, jagenden, fischenden und saufenden Jung-Junkern über den engen Horizont der Alt-Junker hinausgehende Aufklärung zu vermitteln, waren seine Tage gezählt. Hellmut von Gerlach ("Erinnerungen eines Junkers", Berlin o.J.) hat das kulturelle Niveau dieser Kaste dargestellt als "Schule zielbewußter Alkoholgewöhung". Sehr viele Rittergutsbesitzer waren nicht einmal ordentliche Landwirte mit entsprechendem Wissen, sondern ausgemusterte Offiziere, die die Landwirtschaft ihren Verwaltern überließen und mit Gütern schamlos spekulierten ohne jede Rücksicht auf "Ihre Leute". An Kultur nichts nennenswertes, und Frommes Bildchen vom Rittergut als Bibliothek findet man nicht einmal in den reichlich sentimentalen Publikationen der interessierten Agrarierpresse im Kaiserreich. Junker wie der vortreffliche Oldenburg-Januschau haben offener gesagt, worum es diesen Herrenreitern ging - z.B. im Verhältnis zu den polnischen Landarbeitern: "Mir genügte es, wenn die Angehörigen des polnischen Volkstums ihre Pflichten als preußische Staatsbürger ehrlich nachkamen. Ich war nicht der Meinung, daß es galt, diese Menschen auszurotten. Sie lieferten für unsere Armee brauchbares Menschenmaterial." Üblicher Junkerton, zu dessen kulturellem Standard paßt, daß die preußischen Konservativen - die parlamentarische Vertretung der Groß-Agrarier - 1900 das Jahrhundertwerk des "Bürgerlichen Gesetzbuches" scheitern lassen wollten, weil es ihre Land und Leute verwüsteten Jagdrechte etwas einschränkte. Die Flinte, die Hunde- und die Reitpeitsche sind die wesentlichen zivilisatorischen Instrumente, mit denen die Junker vertraut waren. Daß es unter ihnen auch ein paar Ausnahmen gab - die unter ihren bornierten Klassengenossen entsprechend zu leiden hatten wie der Glumbowitzer Graf Pourtalès - ist so unbestritten wie die Tatsache, daß nicht gerade allem wenn auch ganz erhebliche Teile der Kaste kräftig mitwirkten bei der Installierung des Nationalsozialismus. Als Reaktionäre von altem Schrot und Korn, hatten zwar viele von ihnen Mühe mit den plebejischen Umgangsformen der Nazis, machten jedoch mit diesen bald ihren Frieden wie ihrer aller Vorbild, der Generalfeldmarschall Hindenburg mit dem Anstreicher und Gefreiten Hitler. Die Formierung des Widerstands der Adligen belegt keineswegs die Regel, die hieß Kollaboration, Opportunismus und Duldung, sondern die Ausnahme. -Die Enteignung und Vertreibung nach 1945, bei der die meisten Junker mit dem Leben davon kamen und im Westen die Hände öffneten für Lastenausgleichs- und andere Zahlungen, nennt Fromme heute "barbarisch"(FAZ 23.7.90) -größer und dümmer und deutscher soll die Welt werden.
Aber wir sollen noch viel dümmer werden, um eingereiht werden zu können im größeren Deutschland. Das neu lackierte Geschichtsbild war nur der Aufgallopp im nationalen Concours. Am gleichen Tag empfahl einer Nationalismus pur als "Medizin" (G.P.Hefty FAZ 23.7.90). Auch der kriegt eine glitzernde Verpackung und soll unter der Firma "zeitgemäßer" bzw. "aufgeklärter Nationalismus" als "die Idee von der Verwirklichung des nationalen Interesses" den Lesern das Bewußtsein vernebeln. Kein Fusel ist mittlerweile zu ordinär und zu billig, um nicht auf der ersten Seite der FAZ wahlweise als Heil- oder Genußmittel aufzutauchen.
Die kosmetische Aufbereitung des Nationalismus vermag allerdings den verbrecherischer Wahnsinn, der in dessen Namen angezettelt worden ist und angezettelt wird, nicht restlose abzudecken. Der Autor behilft sich deshalb mit einem Trick: sowenig der Sozialismus mit dem Leninismus-Stalinismus zusammenfalle, sowenig seien Nationalismus und Nationalsozialismus identisch. Jenes ist richtig, und dieses hat außer der RAF und einigen versprengten Oberlehrer-Leninisten gar niemand behauptet. Zu unterscheiden wäre in historischer Sicht allenfalls zwischen nationaler Befreiung und Nationalismus, und dabei zeigt sich bald, daß bisher noch jede nationale Befreiung ständig in und mit der Gefahr lebte, in den nationalistischen Fahnen- und Blutssumpf abzugleiten. Und die Authentizität nationaler Befreiung wäre allemal daran zu messen, inwiefern es ihr gelungen ist, solcher Versumpfung und Verbiesterung mit geschichtlich angemessenen Mitteln zu wehren. Dagegen dürfte es ziemlich schwer sein zu belegen, daß das nationalistische Beiwerk emanzipatorischer Bewegungen Produktives hervorgebracht hat. Im Gegenteil. Seit der Geburtstunde des Nationalismus in der Französischen Revolution wurde noch jede nationalistische Verpuppung nationaler, politischer und sozialer Befreiung erst zur Verräterin, dann zur Totengräberin der intendierten Befreiung.
Keine Schimäre scheint dauerhafter zu sein als jene, wonach der Nationalstaat die gleichsam natürliche Lebensform der europäischen Völker sei. Erstens waren schon im Jahrhundert der sog. Nationalstaaten die wenigstens Staaten tatsächlich Nationalstaaten, und zweitens impliziert diese Nationalstaatsideologie einige geradezu gemeingefährliche Identifizierung von Staat und Nation, so als ob in Europa - von wenigen isolierten Landstrichen abgesehen - nicht seit Jahrhunderten Menschen verschiedener Nationalität, Abstammung und Herkunft in Staaten oder staatsähnlichen Gebilden zusammenlebten.
Die historische Bilanz des "Rechts" auf nationale Selbstbestimmung muß endgültig erst noch gezogen werden. Jede Diskussion ist hinfällig, wenn man begrifflich nicht unterscheidet zwischen dem Selbstbestimmungsrecht, das man seit Rousseau und Kant vernünftigerweise auf Individuuen bezieht, Volkssouveränität und der fictio juris unter der Firma "nationales Selbstbestimmungsrecht".
Der Begriff "Volk" im Wort "Volkssouveränität" meint kein völkisches, rassisches oder durch Herkunft definiertes Substrat, sondern ein politisches: das Volk im politischen Sinne bilden die autonomen, rechtsfähigen Bürger, die ihre Sache selbst in die Hand nehmen und über sich selbst bestimmen. Nun gibt es natürlich in der realen Geschichte kein politisches Subjekt namens "Volk", das nicht zugleich "völkische Qualitäten" im Sinne von bestimmter Sprache, Tradition und Herkunft besäße. Für den politischen Begriff der "Volkssouveränität" sind die trivialen empirischen Bestände, daß jemand deutsch spricht, deutsch sprechende Vorfahren besitzt und vielleicht über die einen oder anderen kulturellen Traditionsbestände verfügt, jedoch untergeordnete Momente. "Volkssouveränität" meint eben nicht, wie ein langlebiges, keineswegs exklusiv deutsches Vorurteil meint, "völkische Souveränität". Die vulgäre Lesart des politischen Programms der Aufklärung ist hierzulande nur aus durchsichtigen Gründen sehr langlebig und populär. Politische Autonomie, so die Rechtsstaatstheorie der Aufklärung, sollte gerade nicht mehr länger gekoppelt werden mit wichtigen, aber politisch unerheblichen Momenten wie Geburt, Sprache, Tradition und Herkommen, sondern allen Subjekten gleichermaßen zustehen. Am Ursprung der Volkssouveränität - also in der amerikanischen Revolution des 18. Jahrhunderts - standen Subjekte unterschiedlicher Sprache, Abstammung, Tradition und Herkunft, die aber bei der Proklamation des modernen Rechtsstaates keine Rolle spielten. Daß man gleichzeitig versklavten Schwarzen und die eingeborenen indianischen Völker (und allen Frauen) aus der Selbstbestimmung der autonomen Bürger hinausdefiniert, beruht primär nicht auf einem völkisch-nationalistischen Verständnis von Volkssouveränität, sondern auf einem eurozentrisch-patriarachalischen Überlegenheitsgehabe, das sich als alleinigen und kompetenten Verwalter des zivilisatorischen Fortschritts aufspielte.
Die zentrale Frage lautet, ob die Nation als unscharf definiertes Gebilde gemeinsamer Herkunft, Sprache und Kultur überhaupt dazu taugt, politisch verträgliche, kollektive Identitäten auszubilden und zu tragen. Ich bezweifele das; geschichtlich sind so mehr Monstren beschworen, Verbrechen begangen und Phantasmagorien errichtet worden als mit allen Krücken der Identitätsbildung zusammen. So viel zum imfamen Versuch Heftys, die wirklich unzähligen Opfer nationalistischer Politik auf der ganzen Welt, aber besonders die Opfer von deutschen Regierungen entfesselten Weltkriegen, gegen "Die Vernichtungsfeldzüge des Internationalismus" buchhalterisch aufzurechnen, um den neudeutschen Nationalismus salonfähig zu machen. Ganz abgesehen von den trostlosen Erfahrungen mit der Geschichte national begründeter Wahngebilde ist die Frage nach der Nation und ihrer angeblich herstellbaren Einheit heute schlicht anachronistisch und provinziell. Der Nationalismus, vor den Karren der Brüsseler Euro-Bürokraten-Kalküle gespannt, ist weiter nichts als ein ideologisches Beruhigungsmittel für jene, die dereinst merken werden, daß ihnen außer Fahnenschwenken und der Folklore nur die Funktion als Warenloch für den Exportweltmeister übrig geblieben sein wird im Europa der 90er Jahre. Und im Inneren der deutschen Staaten gibt die nationalistische Ideologie den Mist und die Jauche ab, mit denen man das "Zusammenwachsen" fördert.
Ludi Ludovico in: Links 9/90

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Most recent revision: April 07, 1998

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