Der 8.Mai - Vor zehn Jahren

Vor lauter Mühe, durch fleißiges Grübeln den 8.Mai in ein für Deutschland sinnträchtiges Ereignis umzumünzen, in etwas anderes als das, was es wirklich war, nämlich der Tag der bedingungslosen Kapitulation, eine kompletten Niederlage mit Sieg durch K.o. für die Alliierten, vor lauter Sinnieren über den 8.Mai als hat man schließlich, wie bezweckt, den 8.Mai 1985 ganz vergessen und damit freilich auch die dem Datum innewohnende Chance übersehen. Zwei Jahre zuvor, 1983, wurde der 30.Januar gefeiert, obgleich zwischen der Wahl Hitlers zum Reichskanzler und der bedingungslosen Kapitulation der deutschen Wehrmacht zwölf Jahre liegen und nicht zwei. Falls es nun zur Gewohnheit werden sollte, den Anfang eines Übels an seinem 50.Jahrestag, sein Ende aber an seinem 40. Jahrestag zu feiern, müßte beispielsweise 1989 der Ausbruch des Zweiten Weltkrieg angemessen begangen werden mit Gedenkveranstaltungen für den Anfang des Krieges, dessen Ende gerade zwei Jahre vorher, nämlich 1985, spektakulär gewürdigt worden war.
Abgesehen vom Zeitraffereffekt der Festspieldramaturgie, durch welche die Naziherrschaft auf die Dauer von zwei Jahren zusammenschnurrt, scheint der Film auch noch rückwärts zu laufen, und sind einmal Anfang und Ende des Krieges in der Retroperspektive vertauscht, so bietet es sich an, dieselbe kleine Korrektur auch beim Verhältnis von Ursache und Wirkung vorzunehmen, womit dann der Überfall auf Polen am 20. September 1939 als Präventivschlag gegen den Feind erscheint, der es von vornherein auf die Teilung Deutschland abgesehen hatte, d.h. im Rückspulverfarhen wird der zweite Weltkrieg zur ersten Runde im Kampf um die Wiedervereinigung.
Außerdem hatten die Passionsspiele der Friedenbewegung mit der unwiderstehlichen Suggestivkraft des Genres die letzten Kriegsjahre noch mal erlebt und erlitten Realität werden lassen. Es ergab sich daraus die Notwendigkeit, die in den Straße sich türmenden symbolischen Toten irgendwie unter die Erde zu schaffen. Die Geschichte von Deutschlands Untergang, die nun schon drei Spielzeiten lief, den Höhepunkt hinter sich hatte und sich reichlich zäh hinzuschleppen begann, muß zu einem Ende kommen, und auch dafür bot der 8.Mai sich an. Diesen Tag pompös zu feiern, hatten die Deutschen also gleich zwei Motive, neben dem auf längere Sicht zu erwartenden Gewinn den kurzfristigen Nutzen, außdem kam bald nach der Kapitulation die Währungsreform, danach begann das Wirtschaftswunder, und daran erinnert sich jeder gern.
Trotz hinreichender Motive aber waren die Deutschen in diesem Fall nicht die Anstifter, sondern die Alliierten von einst haben die Initiative ergriffen. Was treibt sie zur Hast, zur Eile, zur Ungeduld, das Jubiläum vorzeitig stattfinden zu lassen? Vielleicht die mehr dumpf empfundene als bewußte Befürchtung, daß dies die letzte Gelegenheit war und es in zehn Jahren keinen Sieg über den Faschismus mehr zu feiern geben wird. Horkheimer schrieb 1939: "Heute gegen den Faschismus auf die liberalistische Denkart des 19.Jahrhunderts sich berufen, heißt an die Instanz zu appellieren, durch die er gesiegt hat". Der Sieg über den Faschismus hat nur die Voraussetzungen wiederhergestellt, unter denen er entstanden ist. Es hat 1945 eine vergleichsweise angenehme, aber von vornherein befristete Zeit begonnen. Die Wirtschaftskrise indiziert den Ablauf dieser Frist, die Schlesier sind eine Begleiterscheinung, die Intellektuellen verhalten sich, wie es schon Horkheimer beschrieben hat: "Jetzt preisen die literarischen Gegner der totalitären Gesellschaft den Zustand, dem sie ihr Dasein verdanken, und verleugnen die Theorie, die sein Geheimnis aussprach, als es noch Zeit war".
aus: Der 8.Mai. Die Unfähigkeit zu feiern. Verlag Neue Kritik 1985

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Most recent revision: April 07, 1998

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