RICHTER ORLET IM TREND DER ZEIT
Richter Orlet ist wieder in Amt und Würden. In Amt und Würden ist damit
auch die Begründung, mit der er der Holocaust-Leugnung von NPD-Chef Deckert
etwas abgewinnen konnte: Sie sei "von dem Bestreben motiviert, die Widerstandskräfte
im deutschen Volk gegen die aus dem Holocaust abgeleiteten jüdischen Ansprüche
zu stärken."
Daß Menschen mit einer solchen Gesinnung in diesem Land hohe und höchste
Positionen bekleiden, ist keineswegs untragbar, wie es in der Einladung zur heutigen
Kundgebung heißt, sondern kommt seit der Wiedervereinigung leider nur allzu
häufig vor.
Erinnern wir uns: Noch am 9.November 1988 mußte Phillipp Jenninger seinen
Hut nehmen, als bei seiner Rede zum Jahrestag der Reichspogromnacht im Bundestag
seine Stimme vor lustvoller Erregung vibrierte.
[Anmerkung M.Blumentritt: Hier teile ich die Auffassung des Autors nicht, die Rede
Jenningers war weniger schlimm als die Reaktionen darauf. Er hatte nur entgegen
den Erwartungen der Parlamentarier, die irgendwelche Weizsäckervariationen
von Kohls Bitburger Rede hören wollten, in denen die Versöhnung über
den Gräbern eingeklagt wurde, über die Täter gesprochen. Im Hause
des Henkers redet man nicht vom Strick. Vielleicht hatte Weizsäcker in dem
Moment gedacht und womöglich redet er auch noch über meinen Vater. Wenn
in deutschen Schulbüchern der Inhalt der Jenningerrede stehen würde, so
wäre sie ein Deut besser als die wir jetzt haben. Hier hat Wolfgang Neuss recht,
der sagte, Weizsäcker solle die Rede noch mal halten,d ann versteht man sie
besser.]
Nach dem 9.November 1989 änderte sich das Klima: Der Antisemitismus ist seither
aus den Stammtischrevieren ausgebrochen und auch bei den gesellschaftlichen Eliten
ehrbar geworden:
- Im November 1989 sprach Kohls Regierungssprecher Klein in der Terminologie
des "Stürmer" vom "internationalen Judentum";
- Im Januar 1990 rüpelte "Der Spiegel" gegen Elie Wiesel und zeichnete
Gregor Gysi als hakennasigen "Drahtzieher";
- Im September 1990 forderte der Filmregisseur Syberberg dazu auf, "Hitler
neu (zu) bedenken";
- Im Sommer 1991 sollte die Gedenkstätte des KZ Ravenbsbrück durch einen
Supermarkt geschändet werden;
- Im März 1992 traf sich Kanzler Kohl mit dem als NS-Kriegsverbrecher international
isolierten Kurt Waldheim und kanzelte den Jüdischen Weltkongreß ab;
- Im Mai 1992 leitete die Hamburger Polizei im Zusammenhang mit Demonstrationen
für den Erhalt eines jüdischen Friedhofes eine "Judenfahndung"
- so die Kritik in der "Allgemeinen Jüdischen Wochenzeitung" - ein.
Mit der Gepflogenheit, Vorschläge und Einwände des Zentralrates der Juden
zu berücksichtigen und die Rituale des "Gedenktag- Antifaschismus"
pflichtschuldig einzuhalten, war es genau ab dem Zeitpunkt vorbei, als der Abschluß
der 4+2-Verhandlungen den internationalen Widerstand gegen die Wiedervereinigung
gebrochen hatte.
- Schon die dringlichen Bitten des Zentralrates, in der Präambel
des Einigungsvertrages die deutsche Verantwortung für den Holocaust zu erwähnen,
wurden kalt ignoriert.
- Im August 1991 folgte die erste Attacke auf die Vertretung der Juden in Deutschland:
Norbert Geis, der rechtspolitische Sprecher der CDU, bezeichnete die Forderung von
Heinz Galinski nach strengerer und schnellerer Bestrafung von Neonazis als "abenteuerlichen
Rückgriff auf jene Praktiken, unter deren Deckmantel auf deutschem Boden in
den vergangenen sechs Jahrzehnten unsägliches Unrecht geschehen ist."
- Im selben Monat entschied das Oberverwaltungsgericht Berlin, daß sich ein
jüdisches Ehgepaar aus Riga nicht auf seine deutsche Herkunft berufen könne
und zog ihre "Vertriebenenausweise" ein. Das Urteil machte aus der völkischen
Halluzination eine juristische Tatsache: Der Mensch ist entweder Deutscher oder
er ist Jude, beides zusammen geht nicht.
- Die Angriffe steigerten sich, als Ignatz Bubis zum Vorsitzenden des Zentralrats
gewählt wurde - und sich sofort sehr offensiv für den Erhalt des Artikel
16 des Grundgesetzes engagierte. Anfang Oktober denunzierte der Berliner CDU-Politiker
Lummer die Meinung von Bubis, eine Verschärfung des Asylrechts provoziere weitere
rechtsextremistische Gewalttaten, als "haarsträubenden Unsinn" und
forderte ihn dazu auf, seine politische Tätigkeit mit der Arbeit im Kabarett
zu vertauschen. Denn, so Lummer weiter: "Kabarettisten sind in Deutschland
die einzigen, die ungestraft und unbegrenzt Unsinn reden dürfen". Das
heißt im Umkehrschluß, wenn der Jude so weitermacht, ist es mit der
Straflosigkeit vorbei. Kein Wunder, daß der Pöbel dies als Ermutigung
zu kriminellen Taten begreift: Im ersten Halbjahr 1994 registrierte das BKA insgesamt
701 antisemitische Straftaten, im Vergleich zum Vorjahr ein Anstieg von über
100%
Wesentlicher Katalysator dieser Entwicklung ist eine Umbewertung der jüngsten
deutschen Geschichte. Rund um die 50.Jahrestage der letzten beiden Kriegsjahre 1944/45
verwandeln sich die Deutschen, die Nation der Täter und ihrer Kinder, simsalabim
in die eigentlichen Opfer der Geschichte.
- Beispiel 20.Juli: Die ungerechtfertigte Glorifizierung der Offiziere,
die eigentlich nichts anderes als frustrierte Nazis waren und die Judenfrage durch
Deportation nicht nach Madagaskar, sondern nach Kanada endlösen wollten, wird
verbunden mit einer Kritik an der Alliierten Kriegführung, die auf der bedingungslosen
Kapitulation Deutschlands beharrte und damit angeblich - so ein Beitrag von Gräfin
Dönhoff in der "Zeit" - die Chancen der 20.Juli-Verschwörer
minderten
- Beispiel 9.November: Das Gedenken an die Pogromnacht spielt bei den Staatsfeierlichkeiten
und Medienspektakeln kaum noch eine Rolle, Ignatz Bubis wird ins Vorprogramm abgedrängt,
danach wird der armen Deutschen in der DDR gedacht, für die der 9.November
die Erlösung gebracht hat. "Wir sind heute das glücklichste Volk
der Welt", meint Walter Momper, und tatsächlich, was sind schon 6 Millionen
Juden gegen 16 Millionen endlich befreiter Ossis?
1995 wird diese Selbststilisierung der Deutschen als Opfer mit Sicherheit einen
Höhepunkt erreichen. Beim Jahrestag der Bombardierung vonm Dresden werden die
Geschichtsfälscher versuchen, die Luftangriffe der Royal Air Force als Terror,
und nicht als notwendigen Beitrag zur Zerschlagung des Nazismus darzustellen.
Und zum Jahrestag der Befreiung des KZ Buchenwald im April wird man sich erdreisten,
die Todeslager der Nazis gleichzusetzen mit den Internierungslagern, die alle Alliierten
- nicht nur die Sowjets - nach 1945 zur Beauf- sichtigung von Nazi-Werwölfen
in Buchenwald und anderswo eingerichtet hatten.
Wenn aber, so die Logik hinter diesen Fälschungen, die Deutschen die eigentlichen
Opfer der Geschichte oder zumindest auch Opfer der Geschichte waren, ist es dann
nicht wirklich ungeheuerlich, daß sie dann bis heute als Täter betrachtet
werden und Wiedergutmachungszahlungen leisten müssen?
So gesehen ist das von Richter Orlet gewürdigte Bestreben Deckerts, "die
Widerstandskräfte im deutschen Volk gegen die aus dem Holocaust abgeleite-
ten jüdischen Ansprüche zu stärken", im Bunde mit mächtigen
Kräften in der staatsoffiziellen Umdeutung der deutschen Geschichte; und so
gesehen ist das milde Urteil für Deckert und die Wiedereinsetzung von Orlet
nur folgerichtig.
Am Schluß wird es dann drohend heißen, das deutsche Volk trage dem jüdischen
nichts nach, da sei es nur recht und billig, wenn umngekehrt dasselbe gelte.
Der Auschwitz-Überlebende Jean Améry hat diese Entwicklung vorausgesehen
und ist daran zu Tode verzweifelt. Er schrieb: "Das Reich Hitlers wird zunächst
weiter als geschichtlicher Betriebsunfall gelten. Schließlich aber wird es
Geschichte schlechthin sein, nicht besser und nicht übler als es dramatische
Epochen nun einmal sind. Alles wird untergehen in einem summarischen "Jahrhundert
der Barbarei". Als die wirklich Unbelehrbaren, Unversöhnlichen, als die
geschichtsfeindlichen Reaktionäre werden WIR dastehen, die Opfer, und als Bestriebspanne
wird schließlich erscheinen, daß immerhin manche von uns überlebten."
Soll der Täter über das Opfer triumphieren?
Soll ein Orlet weiter Unrecht sprechen dürfen?
Soll sich Deutschland 50 Jahre danach als Sieger der Geschichte feiern können?
Es soll wohl so sein. Aber wir müssen uns nicht damit abfinden. Noch können
wir laut und deutlich sagen: Nein!
(Rede von Jürgen Elsäßer)
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Most recent revision: April 07, 1998
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Martin Blumentritt