Antisemitismus (theologische Hintergründe)

Im Markusevangelium, dem ältesten überlieferten, steht über die Kindheit Jesu nichts. Ein erwachsener "Jesus aus Nazareth in Galiläa" ist es, der da auftritt, "sich von Johannes im Jordan taufen" läßt, sich nach der Gefangennahme des Täufers nach Galiläa begibt und dort verkündet, "die Zeit sei erfüllt und das Reich Gottes nahe herbeigekommen"(Mk 1,9); sein rettender Eintritt stehe unmittelbar bevor.
Offenbar hat Jesus zum Kreis um Johannes den Täufer gehört, ehe er auf eigene Faust umherzog und öffentliches Aufsehen sowie die Phantasie seiner Zeitgenossen zu erregen begann. Eine Gefolgschaft schart sich um den Wanderprediger, auf die er tiefsten Eindruck macht, eine Erinnerung bildet sich, die seine Taten, Worte, Leidensgeschichte aufbewahrt und aufgeht wie eine Hefeteig, und doch vergehen an die vierzig Jahre, bis einer den weitererzählten, ausgeschmückten, überhöhten und höchst unzulänglich gesammelten Erinnerungswust in eine geordnete Schriftform zu bringen versucht und dabei unversehens eine neue literarische Gattung kreiiert: Das Evangelium. Es ist weder Biographie noch Augenzeugenbericht, sondern theologische Komposition - aber eine, die zugleich Geschichtsschriebung sein will: der zwiespältige Versuch in Legende und Hörensagen zu bewahren und sie zugleich Punkt für Punkt auf seinen theologischen Ehrentitel abzustimmen: Christus. "Jesus Christus" ist ja nicht Vor- und Zunahme wie Heinz Meier, Christus vielmehr die griechische Übersetzung des hebräischen Messias: der Gesalbte. So war einst König David, der Errichter des Großreichs Israel, genannt worden, und an seiner verklärten Gestalt hatte sich später die messianische Hoffnung entzündet: daß einst ein Nachfahre Davids kommen werde, der Israel von seiner Schmach und Ohnmacht erlösen und seinen alten davidschen Glanz wiederherstellen oder überbieten werde.
Jesus von Nahzareth als Messias? Wie vermessen, das zu behaupten - auch wenn er eine faszinierende Gestalt war, begabt mit theologischem Instinkt, Suggestivkraft und gewissen ärztlichen Fähigkeiten, ja selbst wenn er in Jerusalem eine Tempelaustreibung inszeniert haben mochte. Denn andererseits: Welche Lebensbilanz! Umgeben mit einem Anhang aus niederem Volk, ohne jeden politischen Einfluß, sogar ohne politische Ambition, nicht daran interessiert, das Reich Gottes, von dessen unmittelbarem Bevorstehen er überzeugt war, durch Kampf, soziale oder nationale Erhebung herbeizudrängen, lediglich darauf aus, es durch Gleichnisse und Zeichenhandlungen vorzubedeuten und herbeizubeschwören, schließlich gefangengenommen und hingerichtet, ohne daß das Beschworene auch nur einen Zentimeter der Wirklichkeit nähergerückt war.
Und dennoch: Wenn seine Anhänger, allesamt Juden, seine umwerfende Bedeutung für sie nicht anders als durch die Begriffe Auferstehung, Sohn Gottes oder Christus ausdrücken konnten, dann half alles nichts, dann mußte er derjenige sein, auf den sich die ganzer messianische Hoffnung richtete: der Retter und Friedefürst der phrophetischen Weissagungen, der Fluchtpunkt aller alttestamentarischen Verheißungen. "Groß wird die Herrschaft sein und des Friedesn kein Ende auf dem Thron Davids."(Jes 9,7) - das mußte auf ihn gemünzt sein. "Ein Reis wird hervorgehen aus dem Stamm Isais (Davids Vater), und ein Zweig aus seiner Wurzel Frucht tragen" (Jes 11,1) - damit mußte er gemeint sein, wie es eine urchristliche, von Paulus bereits übernommene Formel (Röm 1,,3) denn auch unbefangen behauptet.
Wie aber die Davidsabstammung, ohne die er nicht Christus sein konnte, zusammenbringen mit den wenigen historischen Daten, die man über seine Herkunft hatte? "Ist dieser nicht der Zimmermann, der Sohn der Maria und der Bruder des Jakobus und Joses und Judas und Simon, und sind nicht seine Schwestern bei uns?"(Mk 6,3) fragen die Leute, als er nach Nazareth, "in seine Vaterstadt" (Mk 6,1) kommt. Nichts da von David und königlichem Geblüt. Und nichts deutet darauf hin, daß Jesu Vaterstadt _nicht_ sein Geburtsort war, während der Prophet Micha es ausdrücklich anders vorgesehen hatte. Die Geburtsstadt des Messias sollte die Geburtstadt Davids sein: Bethlehem - "aus dir soll mir der kommen, der in Israel sei" (Mi 5,2).
Ohne den rechten Geburtsort kein Messias; denn ohne wenigstens diesen Legitimitätsausweis zu haben, war es denn doch zu ungeheuerlich, das altehrwürdige Konvolut heiliger Schriften von mosaischen Gesetz bis zu prohetischen Weissagungen, das seit Jahrhunderten den geistigen Zusammenhalt eines ganzen Volkes stiftete, kurzerhand auf einen Mann mit der Lebensbilanz eines Jesus von Nazareth zu beziehen und vom ihm die Erfüllung dieser Schriften zu behaupten. DIe Frage war also: Wie gelingt es, daß ein unleugbar im galiläischen Nazareth aufgewachsener Zimmermann dennoch 1000 km südlich gelegenen Bethlehem geboren wurde und David zum Ahnherrn hat? Über kurz oder lang, mußte diese Frage zum Prüfstein für die Messianität Jesu werden. Und so sehen wir denn schon die nächsten Evangelistengeneration, Matthäus und Lukas, intensiv mit Stammbaum und Kindheit Jesu beschäftigt, über die bis dato nichts bekannt war und die auch nicht interessierten, ehe man merkte, wie vie von der standesgemäßen Geburt für den Christusglauben abhing.
"Der Stammbaum Jesu Christi nach Matthäus ist ein künstliches literaiisches Gebilde", formuliert ein moderner Exeget. Will sagen: DIe gerade Abstammungslinie, die da bis David und dann weiter bis Abraham zurückverfolgt wird, ist erfunden und erschlichen, so sehr sie auch mit dem Gestus nüchterner historischer Dokumentation daherkommt. Nicht minder künstlich gebildet sind die Umstände der Geburt Jesu (Mt2). Geboren in Bethlehem in Judäa, gesucht von Magieren, die seinen Stern gesehen haben, als Rivale gefürchtet von Herodes, der zu seiner Beseitigung den Bethlehemer Kindermord veranstaltet; aber die Familie flieht rechtzeitig nach Ägypten, kehrt nach Herodes' Tod ins Land Israel zurück und läßt sich in Nazareth nieder. Historisch ist daran - vielleicht der Stern. Kepler hat für das Jahr 7 bis 6 vor unserer Zeitrechnung eine aufsehenserregende Konjunlktion der Planeten Jupiter, Saturn und Mars errechnet, und ein Sinologe hat inzwischen alten chinesischen Zeittafeln entnommen, daß im Jahr 4 v.Chr. ein heller Stern erschienen und längere Zeit sichtbar gewesen sei. Historisch ist auch die Furcht des Herodes, durch seine eigene Dynastie gestürzt zu werden sowie sein Bemühen, dem durch gezielte Morde zuvorzukommen. Historisch ist aber schon nicht mehr der Bethlehemer Kindermord. Dennoch erklärt uns Matthäus gerade durch ihn, wie alles mit rechten Dingen zugegangen sei, wie der vorschriftsmäßig in Bethlehem geborene und durch göttliche Zeichen beglaubigte Christus hernach Jesus von Nazareth heißen konnte.
Und genau das erkärt auf seine Weise auch Lukas: mittels einer Volkszählung, die der Kauser Augustus im ganzen römischen Reich anggeordnet habe und die von jedem verlangte, sich an seinen Herkunfsort zu begeben. Eine solche allgemeine Volkszählung hat nie stattgefunden. Nachweisbar sind lediglich Steuererhebungen in einzelnen Provinzen, so auch zu der Zeit, "als Quirinus Statthalter in Syrien war"(Lk 2,2): etwa im Jahr 6 n.Chr. Die Steuerpflichtigen wurden hierbei in Listen erfaßt, nicht etwa "ein jeglicher in seiner Stadt"(Lk 2,3) beordert. Das hätte entschieden mehr Durcheinander als Geld erbracht. Aber als literarischer Einfall ergibt es eine schöne Pointe: Augustus wird durch seinen allgewaltigen Befehl zum Erfüllungsgehilfen der alttestamentarischen Weissagung und sorgt dafür, daß Joseph, ein nach Nazareth versprengter Nachfahre Davids, rechtzeitig nach Bethlehem gerät. Der mächtige Herrscher steht unerkannt im Dienst dessen, der in der hintersten Provinz in der Stallecke zur Welt kommt und in der Futterkrippe liegt.
Die Geburtsgeschichten bei Matthäus und Lukas stellen sich beide dieselbe peinliche Frage: Wie bringen wir Nazareth und Bethlehem, Zimmer man und Davidssproß zusammen? Jede der beiden Antworten ist eine Geschichte für sich. Weil sie sich aufeinander fast gar nicht beziehen, widersprechen sie einander auch kaum und ließen sich bestens zu _einer_ Geschichte zusammenaddieren, in der zuerst Joseph mit der schwangeren Maria von Nazareth nach Bethlehem marschiert, daselbst das Kind zur Welt und in die Krippe bekommt, dann die Hirten zu Zeugen dessen aufgerufen werden, dann die Magier erscheinen, dann die Familie anch Ägypten flieht und bei der Rückkehr nach Nazareth den Auszug Israels aus Ägypten en minatur nachvollzieht. Wenn nun noch eine Phantasie hinzutritt, die die Bethlehmer Krippe mit Ochs und Esel dekoriert, die himmlischen Herrscharen zu Puten und die Magier zu heiligen drei Königen macht, dann sind die Elemente jenes Weinachtskitsch beisammen, der uns alle Jahre wieder mit neuheidnischer Gewalt ergreift oder abstößt - und den Blick für die in ihm enthaltene theologische Brisanz systematisch trübt.
Die Geburtsgeschichten, die sich da so harmonisch und bedeutungsvoll in Welt- und Heilsgeschichte einfügen, sind nämlich der Versuch, dem Judentum seine eigene Tradition wegzunehmen - es zu enteigenen. Sie gehören zur Vorgeschichte des Antisemitismus. Nicht daß die Juden nichts zu leiden gehabt hätten, solange es noch kein Christentum gab. Doch litten sie, weil sie ihre Feinde unterschätzt, die falsche Bündnispolitik betrieben hatten oder irgendwelchen Großmächten im Wege waren - aber nicht, weil sie Juden waren. Hingegen steckt in der Behauptung, daß ein gewisser Jesus von Nazareth der Christus sei, von vornherein ein antijüdischer Impuls, und in dem Maße, wie diese Behauptung zur Welgeltung aufstieg, verfestigte sich auch nämlicher Impuls zu einer prinzipiellen Haltung. DIe Juden? Das waren doch die, die ihren eigenen Messias verkannt, verhöhnt, zum Tode verurteilt hatten obwohl nur ihnen die Voraussetzung dafür gegeben waren, ihn zu erkennen: die heiligen Schriften, die ihn geistig vorbereiteten. Der Unglaube der Juden war nicht jener unwissende der Heiden, die keine Ahnung davon hatten, was ein Christus sei, bis christliche Missionare kamen und es ihne auf ihre Weise erklärten. Es war vielmehr Unglaube wider besseren Wissens: Verhärtung, Verstockung. Sie waren dagegen, weil sie Juden waren - Antichristen aus Prinzip. Und dieses Prinzip, ein hochmütiges, unbelehrbares Nichterkennenwollen, Nichtglaubenwollen - war das nicht das Böse schlechthin?
So kam erst auf dem Boden des Christentums gefragt werden, aber so kann nur ein selbstvergessenen Christentum fragen, das ignoriert, daß die ersten Christen Juden waren und zunächst auch nur Juden Heiden beibringen konnten, was oder wer Christus sei. Das Christentum ist Wendung des Judentums gegen sich selbst. Ein höchst ambivalente Regung: Verneinung des Judentums aus jüdischem Geist, Ablehnung der heiligen jüdischen Schriften, die sich gerade diesen Schriften verdankt und sie für sich reklamiert: Verstehen könne man sie nur, wenn man in Jesus von Nazareth den Christus erkannt habe. Der dessen Lebensbilanz ein Hohn auf die alttestamentarischen Schriften war, wird als ihr Schlüssel und Siegel präsentiert: als der einzig wahre Zugang zu ihnen und ihre Beglaubigung und Erfüllung obendrein. Die Anmaßung, die Beleidigung religiöser Gefühle, die für einen frommen Juden darin steckte und Paulus, ehe er Heidenapostel wurde, immerhin zur Christenverfolgung aufstachelte, ist für ein etabliertes, zur Kulturmacht ausgebreitetes Christentum kaum noch nachzuempfinden. Wer aber von der Anmaßung nichts mehr spürt, dem bleibt auch die produktive geistige Kühnheit darin verborgen. "Die messiansiche Idee hat lange Zeit gebraucht, bis sie sich aus sehr verschiedenen Antrieben, die in der hebräischen Bibel noch ganz unverbunden nebeneinander stehen, im nachbiblischen jüdischen Schrifttum heruasgebildet hat", sagt der große Judaist Gershom Schollem. Sie geistert im vorchristlichen Judentum zwar in zahlreichen Andeutungen und Anspielungen umher, aber als eine unter mehreren. Noch ist der Gedanke der Rettung Israels nicht fest und systematisch an den des Messias geknüpft. Und nun geschieht das Merkwürdige, daß die messianische Idee gewissermaßen vorzeitig, noch ehe sie recht zru Reife gelangt ist, einen Schub bekommt, schlagartig zur Quitessenz der jüdischen Tradition wird und sich zugleich von ihr abspaltet - und zwar, in dem sie sich gleichsam ans falsche Objekt hängt: an den ohnmächtigen, gekreuzigten Wanderprediger aus Nazareth, mit dem die Schmach Israels keineswegs endete, sondern in eine neue Dimension eintrat. Das Paradox ist: Weil er das falsche Objekt ist, offenbar er den Mangel der herkömmlichen messianischen Vorstellungen. Die Wiederherstellungg des davidischen Glanzes, der Triumpf über die Feinde Israels, deren demütige Wallfahrt zum Zion, ihre Beugung unters mosaische Gesetz - sollte eine solche Rettung Israels, erkauft mit Rache, Unterwerfung, Gewalt, den Namen Rettung wirklich verdienen? Wäre Rettung nicht erst, wo das Vergeltungsprinzip gebrochen, jede Art von Feindschaft abgetan und kein Seufzen der Kreatur mehr wäre? In den Seligpreisungen der Bergpredigt, dem Feindesliebegebot, dem Gleichnis vom verlorenen Sohn blitzt etwas von solch radikal und umfassend gedachter Rettung auf. Als das unendlich Ferne, nämlich strikt Jenseitige zur rettungsbedrüftigen Welt, wird sie zugleich als derart "nahe herbeigekommen" geglaubt, als stehe sie schon auf der Schwelle und müsse nur noch zum Eintritt genötigt werden. Diese Berühung der Extreme, von äußerster Ferne und Nähe der Rettung, hat die historische Person Jesu mit einer unvergleichbaren Spannung aufgeladen. Sie ist das Faszinosum, das dazu einlud, ihn für den _Bringer_ der Rettung zu halten, die er nur rückhaltslos zu Ende gedacht hatte und deren Radikalität dafür sorgte, daß sein Erdendasein in äußersten Gegensatz zu ihr endete. Auch in diesem Sinn berühren sich Extreme. Als das falsche Objekt der messianischen Idee war er zugleich ihre leibhaftige Richtigstellung. An ihm wuchst sie über sich hinaus: zur Idee erfüllter Subjektivität, die sich menschliches Denken bis heute nicht aus dem Kopfer schlagen kann, ohne sich selbst zu beschneiden. Erst als mit der Gesamtheit ihrer Lebensbedingungen versöhnte, also im messianischen Stande wären die Menschen im Vollsinn Subjekte. Jesus ist das welthistorische Streichholz dieses Gedankens. Nicht von ungefähr denkt sich die Urchristenheit ihren Herrn als auferstanden, d.h. als messianischen Statthalter, dem baldigst "gleichgestaltet zu sein", sie hofft, "damit er der Erstgeborene sei unter vielen Brüdern"(Röm 8,29)
Weil diese Erwartung ebenso trog wie die Naherwartung Jesu, ist der antijüdische Impuls im Christentum nie zur Ruhe gekommen. Wo waren denn die untrüglichen messianischen Insignien Jesu? Ist ein Messias, der die Wiederkunft nötig hat, um sich aller Welt als Messias zu offenbaren, nicht so gut wie einer, dessen Ankunft noch gar nicht stattgefunden hat? Solche Fragen nagten, auch wo sie gar nicht ausdrücklich gestellt wurden. Es sind jüdische Fragen ans Christentum, das es seiner Herkunft aus dem Judentum verdankt. Als gegen sich selbst gewendetes Judentum ist das Christentum freilich auch der permanente Betäubungsversuch dieses Gewissens. Je selbstsicherer das Christentum, je betäubter das jüdische Gewissen, desto geringer seine Abneigung gegen das Judentum - das ist die Faustregel, nach der fast zwei Jahrtausende christlich-jüdischer Geschichte verlaufen sind. Und zeitweise gab es durchaus Anlaß zur Selbstsicherheit. Wo dem messianischen Gedanken seine nationale, davidsche Beschränktheit genommen und er zur Universalität geweitet, wo der Messias als Platzhalter der Versöhnung gedacht wurde, da kehrte das Christentum die Seite seiner eigenen Überlegenheit hervor. Und der Siegeszugg dre christlichen Mission schien sie auch äußerlich zu bestätigen. So sind die Juden im christlichen Abendland zur Zeit seines Aufstiegs glimpflich behandelt worden. Ghettos, regelmäßige Pogrome, die katholisiche Inquisition der Juden, der lutherische Vorschlag, sie in Arbeitslager zu stecken, die literarische Erfindung Ahasvers, des Juden, dem recht geschieht, daß er ewig unerlöst duch die Welt wandern muß, weil er den leidenden Christus von seiner Tür gewiesen hat - dies sind alles Phänomene des ausgehenden Mittelalters. Als das christliche Abendland zerfiel und der Verdacht um sich griff, daß es vielleicht gar nicht das untrügliche Unterpfand der Messianität Jesu gewesen war, da war es auch aus mit der geistigen Überlegenheit, da schmerzten die jüdischen Fragen wieder heftig, da schaute die Christenheit in den Juden ihre leibhaftigen Selbstzweifel an, da wurde sie gewaltsamer gegen die Juden denn je, weil ihr eigenes jüdisches Gewissen betäubingsbedürftiger denn je war.
Wo die Juden als unbelehrbare, unheilbare Antichristen aus Prinzip gelten und dafür büßen müssen, traut der christliche Glaube seiner eigenen geistigen Heilkraft nicht mehr über den Weg und läßt an ihnen die Wut über seine eigene Unglaubwürdigkeit aus. In solchen Exzessen ist er selbst schon Übergang zum modernen Antisemitismus, den es ohne Christentum nicht gegeben hätte und der doch kein eigentlich christlicher mehr ist: vielmehr ein zum antijüdischen Ressentiment entleertes, erstarrtes Christentum, des interessiert an den christlichen Glaubensinhalten und daher skrupellos genug, die jüdischen zu ignorieren. Den jüdischen Geist reduziert es auf die Natur dere jüdischen Rasse, den theologischen Einspruch gegen das Christentum auf angeborene Widersetzlichkeit und Zersetzungsmanie, die gewaltsame weltweite Zerstreuung der Juden verdreht es zur jüdischen Weltverschwörung. Wenn ein solcher Antisemitismus auf die Bibel zurückgreift, dann schöpft er nicht aus den Quellen seines Glaubens, sondern holt sich Munition. Es hat Aufsehen erregt, wie sehr Goebbels in seinen Tagebüchern christliche Motive kultiviert und seinen Judenhaß neutestamentarisch begründet. Nur ist solcher Bibelglaube bloß das Alibi seiner selbst: Versatzstück einer gegen biblische Zusammenhänge zutiefst gleichgültige Weltanschauung. Die These, im Neuen Testament habe angefangen, was in Auschwitz endete, ist daher kaum weniger platt als ihr Gegenstück: bei Marx habe angefangen, was im Archipel Gulak endete. So hellt man Geschichte nicht auf, sondern bügelt sie glatt. Der antijüdische Impuls im Urchristentum war eben nicht ohne Ambivalenz, immer auch schlechtes Gewissen gegen die Juden, daher auch Skrupel, nicht nur Haß, auch Sympathie, nicht nur Überheblichkeit. Paulus, der seine jüdischen Verwandten ohne Umschweife "verstockt" (Röm 11,7) nennt, empfindet darüber "unablässigen Schmerz": "ich wünschte, als ein Verfluchtere selber fern von Christus zu sein zum Besten meiner Brüder"(Röm 9,3). Er ist davon überzeugt, gerade als christlicher Apostel ihre Sache zu betreiben, die sie als die ihre noch nicht erkannt haben. Sein antijüdischer Impuls ist mit den jüdischen Intentionen auch solidarisch.
Solche Ambivalenz steckt selbst noch in den Geburtsgeschichten Jesu. Sie erschleichen seine Messianität, aber zeigen sich gereade dabei dem messianischen Gedanken verplfichtet und erfüllen ihn mit neuer Bedeutung. Sie veranstalten einen Übergriff auf jüdische Tradition - und stehen gerade dabei zu ihrer Herkunft aus ihr. In den finsteren Zeiten des Antisemitismus, als Deutsche Christen die Arisierung der Bibel betrieben, war es ein Akt der Solidarität mit den Juden, auf dem Alten Testament als einem unverzichtbaren Bestandteil der christlichen Lehre zu beharren.
Die sogenannte Weihnachtsgeschichte ist gehaltvoller und folgenreicher, als den meisten derer, die sie Heiligabend rezitieren, lieb sein dürfte. In ihre scheinbaren Harmlosigkeit ist sie ein Konzentrat des messiansichen Problems, und wer sie als solches begreift, dem steigt aus ihr die ganze unselige christlich-jüdische Geschichte auf, die Weihnachten gerade nicht auf dem Gedenkprogramm steht. Diese Geschichte ist nicht zuletzt deshalb so heillos verwickelt, weil der messianische Gedanke sich von keiner der beiden Konfessionen glatt vereinnahmen läßt. Er ist selbst so etwas wie ein ewiger Jude, der unerlöst durch die Welt geistert und sich nur durch deren vernünftige Einrichtungg, die sei dem messianischen Stand so weit wie Menschen möglich annäher, annährend befriedigen ließe.

Christoph Türcke, Antisemitismus, in: Kassensturz 72-80)

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Most recent revision: April 07, 1998

E-MAIL: Martin Blumentritt