Martin Blumentritt
Zum Begriff der Nation


Der kritische Begriff der Nation ist von der Ideologie der Nation zu unterscheiden, die zwei gänzlich verschiedene Phänomene gleichsetzt, das Gruppen- oder Kollektivbewußtsein und die Herausbildung einer bestimmten Staatsform, des Nationalstaats.
Menschen hatten in den verschiedenen Formen vorkapitalistischer, agraischer Produktionsweisen verschiedene Formen von Gemeinschaft ein Kollektivbewußtsein ausgeprägt, ein Wir-Bewußtesin, das vom sie-Bewußtsein sich unterscheidet. Die völkisch-nationalistische Ideologie versucht, die früheren Kategorien mit den späteren zu identifizieren. Renan hatte bereits die Einsicht, daß "das Vergessen oder gar das Mißverstehen von Geschichte ein wesentliches Moment bei der Herausbildung einer Nation" ist.
Der moderne territoriale Staat bestehend aus Staatsbürgern, er ist allerdings eine neuere Erscheiung, die ins 19. und 20.Jahrhundert gehört.
"Noch neueren Datums ist die Überzeugung, politische Einheit und nationale Einheit - a priori als ethnische, sprachliche, kulturelle oder ähnliche Gemeinschaft definiert - müßten zusammenfallen. Dasselbe gilt für die Vorstellung, die ganze Erde müsse in Staaten aufgeteilt werden, die einer solchen Beschreibung genügen. Im Unterschied zum Begriff des 'Nationalstaats', der in der Amerikanischen und der Französischen Revolution entstand und vom bürgerlichen Liberalismus aufgegriffen wurde, war der ethnisch und sprachlich begründete Begriff einer Nation und einer auf Nationen beruhenden Weltordnung ein Kind des späten 19.Jahrhunderts."(E.J.Hobsbawm, Nation und Nationalismus. Mythos und Realität seit 1780, S.8)
Wenn wir wissen wollen, was eine Nation ist, können wir nicht wie wir einen Vogel von einer Maus unterscheiden, die eine Nation von einer anderen unterscheiden, indem wir objektive Merkmale angeben, mit dem wir sie unterscheiden können. Auch die Definition durch das "Gemeinschaftsgefühl" ist problematisch. Aber gehen wir auf die diversen problematischen Definitionsversuche ein.
Hertz hat drei Typen von Nationsbegriff herausgearbeitet, die verwendet werden:
"Man ist dabei stets auf eine der drei folgenden Antworten gekommen: 1. Die Nation ist das Staatsvolk, also die Gesamtheit der Staatsbürger ohne Rücksicht auf Sprache und Abstammung, innerhalb der Staatsgrenzen...2. Die Nation ist eine Gemeinschaft, die an objektiven Merkmalen, vor allem an Sprache, Kultur und Charakter feststellbar ist, ohne Rücksicht auf Staatsgrenzen. 3. Die Nation beruht lediglich im subjektiven Merkmal des Zusammengehörigkeits- willens oder Gemeinschaftsgefühls"(Hertz, Wesen und Werden der Nation (Jb. f Soz. III 1.EB, Karlsruhe 1927, S. 23)
Die drei Definitionen können auch miteinander kombiniert sein. Als ein Beispiel zitiere ich aus einem von eher rechtsaußen orientierten Autoren verfaßten Handbuch des Staatsrechts:
"In der Tat setzt die staatliche Einheit als Zweck-, Organisations- und Verfassungseinheit voraus die nationale Einheit des Volkes. Diese ist nicht 'natürlich' vorhanden, aber sie läßt sich auch nicht durch staatliche Maßnahmen beliebig erzeugen und ändern. Sie ist bedingt und geprägt durch Gegebenheiten, die sich der staatlichen Verfügung ganz oder teilweise entziehen: etwa die geographische und die geopolitische Lage, die geschichtliche Herkunft und Erfahrung, die kulturelle Besonderheit, die 'volks'wirtschaftlichen Bedürfnisse, die natürlichen und die politischen Notwendigkeiten. Die nationale Einheit kann an ethnische, sprachliche, religiöse Gemeinsamkeiten anknüpfen. Doch keines dieser Merkmale erweist sich stets und überall als notwendig; und manches, das in der Epoche der geschlossenen Staatlichkeit noch unentbehrlich erschien, ist heute, angesichts der Öffnung des Staates nach innen und außen, angesichts der gesellschaftlichen Pluralisierung, hinfällig oder fragwürdig geworden. Die objektiven Momente der nationalen Gemeinsamkeit sind nur bedeutsam, soweit sie im allgemeinen Bewußtsein politisch wirksam und anerkannt werden. Die nationale Einheit hat eine subjektive Basis: den Willen der beteiligten Menschen zu staatlicher Gemeinsamkeit." (Handbuch des Staatsrechts Bd. I, Isensee/Kirchhof, S. 634)
Diese Argumentation ist eine schon in der Defensive befindliche, wie sie bei Autoren der sog. "Konservativen Revolution" oder des "Neuen Nationalismus" sich findet. Sie ist soweit vorsichtig, wie sie intendiert, im Staatsdienst zu bleiben und sich formell verbeugt vor der demokratischen Verfassung, um sie um so besser auszuhöhlen zu können. Jene Argumentation ist nahe an der Mischung von subjektivistischen und objektivistischen Auffassung des völkischen Autors Oswald Spengler:
"Volk ist ein Verband von Männern, der sich als Ganzes fühlt. Erlischt das Gefühl, so kann der Name und jede einzelne Familie fortbestehen - da Volk hat zu bestehen aufgehört."(Untergang des Abendlands 1922, S 747)
Der Volksbegriff ist hier noch subjektivistisch gefaßt, aber diesen verknüpft er dann mit einem objektivistischen der Kultur(en) als "etwas ganz Ursprüngliches und aus den tiefsten Gründen des Seelentums Aufsteigendes". Völker im Banne der Kultur "sind in ihrer inneren Form, ihrer ganzen Erscheinung nach nicht Urheber, sondern Werke dieser Kultur" (760f)
Eine Ähnliche Verknüpfung findet man auch bei Freyer, bei dem das Volk als "Dektret des Absoluten", sich allerdings erst - wie das Hegelsche Absolute - zu realisieren hätte.
In Isensees Bestimmungsversuch wird schon deutlich auf welch dünner Basis objektivistische Definitionen stehen. "Doch keines dieser Merkmale erweist sich stets und überall als notwendig." Eine korrekte Definition müßte allerdings notwendige und hinreichende Bedingungen angeben, von einer bestimmten Nation zu reden. Einmal so und mal so, stellt nur ein Begriffswirrwarr dar. Daß es keine natürlichen Bedingungen sein können, unterscheidet eine solche immerhin von einer ostentativ faschistischen oder rassistischen Definition.
Allerdings bleibt diese Definition trotzdem einem völkischen Nationalismus verhaftet, wie er auf dem Wege zum Nationalsozialismus im Umkreis des "Neuen Nationalismus" vertreten wurde. Der Ausdruck "Geopolitik", der nach dem 1. Weltkrieg von Rassisten wie Haushofer auf die sog. "Grenztragik des deutschen Volkes" bezogen war, wird von Isensee ins Spiel gebracht und evoziert (ruft hervor) schon wieder die Assoziation eines "Volkes ohne Raum", einer völkisch-nationalen Territorialerweiterung, um nicht zu sagen, einen dritten Weltkrieg gen Osten. Sie fügt sich in die Mittellage-Rhetorik ein, die seit der Diskussion um Außeneinsätze der Bundeswehr wieder grassiert. Und in dem folgen Zitat schimmert in der Redeweise vom "Ausländer" im Singular das Diskriminierende durch, das man aus der Rhetorik des Dritten Reiches in der Rede vom "dem Juden" her kennt:
"Das Staatsrecht definiert das Volk im Rechtssinne durch die Staatsangehörigkeit. Der Staatangehörige ist dauerhaft und prinzipiell unauflösbar durch ein personenrechtliches Band mit der Gefahren- und Schicksalsgemeinschaft (da riecht man ja nahezu die Mischung von Urin und Pulvergestank des Schützengraben, das das Einheitserlebnis vermittelt/ MB) verbunden und dadurch in der demokratischen Verfassung auch legitimiert, in Wahlen und Abstimmungen das Schicksal des Volkes mitzuentscheiden, in das er unentrinnbar verstrickt ist; er könnte sich auch den Folgen der politischen Entscheidungen, an denen er mitwirkt nicht entziehen. Eben diese Voraussetzungen sind beim Ausländer nicht gegeben, der seine staatsrechtliche Beziehung durch Aufenthaltnahme begründet und von sich aus jederzeit beenden kann. Der demos der demokratischen Verfassung ist der Verband der Staatsangehörigen, nicht die flukturierende, offene Gesellschaft der Gebietszugehörigen."(634f)
Das erinnert alles verdächtig an Hitlers Mein Kampf Bd.2, 3.Kapitel Staatsangehöriger und Staatsbürger, nur die Termini sind vertauscht.
"Denn der Staat muß einen scharfen Unterschied zwischen denen machen, die als Volksgenossen Ursache und Träger seines Daseins und seiner Größe sind, und solchen, die nur als 'verdienende' Elemente innerhalb eines Staates ihren Aufenthalt nehmen. Die Verleihung der Staatsbürgerurkunde ist zu verbinden mit einer weihevollen Vereidigung auf die Volksgemeinschaft und auf den Staat."(Hitler, Mein Kampf, S.491)
Man sieht, wie die Vereidigung auf die "Volksgemeinschaft" immer noch funktioniert auch bei rechten Staatsrechtlern heute noch, die wohl noch unbehelligt im Staatsdienst sich befinden. (Vgl. auch meine "Argumente gegen rechts 22")
Ein vernünftiger, deskriptiver Begriff von Nation muß alle Nationen, die existieren, umfassen können und er muß auf Mehrdeutigkeiten verzichten.
"Wie wir überdies noch sehen werden, sind die Kriterien, die diesen Zweck erfüllen sollen - Sprache, ethnische Zugehörigkeit usw.-, ihrerseits so verschwommen, wandelbar und mehrdeutig und als Anhaltspunkte zur Orientierung ebenso nutzlos wie Wolkenformationen zur Orientierung von Reisenden im Vergleich zu Wegzeichen."(Hobsbawn S. 16)
Aber gerade schwammige Begriffe machen sie für Indoktrinations- und Propagandazwecke brauchbar. So kann man beim tamilischen Nationalismus, der für ein Gebiet von 1/3 der Insel Sri Lanka, Autonomie verlangt, finden, daß er sich auf ein Merkmal der Nation beruft, der auf Sprache gründet, sie soll eine genauso lange Tradition haben wie die singhalesische.
"Verschleiert wird die Tatsache, daß die territoriale Ansiedlung aus zwei geographisch voneinander getrennten Gebieten besteht, die von tamilsprechenden Gruppen unterschiedlicher Herkunft bewohnt werden (alteingessenen und in jüngster Zeit von aus Indien eingewanderten Arbeitern); daß das Gebiet einer ununterbrochenen Besiedlung durch Tamilen in manchen Zonen außerdem bis zu einem Drittel von Singhalesen und bis zu 41 Prozent von tamilsprechenden Gruppen bewohnt wird, die sich keineswegs als Tamilen im nationalen Sinne verstehen, sondern weit eher als Muslime ("Mohammedaner") verstehen. (...) Wie wir bereits gesehen haben, verschleiert die 'eigene Spachgruppe' die unbezweifelte Tatsache, daß eingeborene Tamilien, eingewanderte Inder und Mohammedaner in keinen anderen als einem philologischen Sinne und, wie wir sehen werden, wahrscheinlich nicht einmal in diesem eine homogene Bevölkerung darstellen. Was die 'eigene historische Vergangenheit' angeht, so ist diese Wendung fast mit Sicherheit ein Anachronismus; sie umgeht das eigentliche Problem oder ist bis zur Sinnlosigkeit unbestimmt. Natürlich läßt sich dagegen einwenden, daß offensichtlich zu propagandistischen Zwecken verfaßte Erklärungen nicht so kritisch untersucht werden sollten, als wären sie ein Beitrag zu den Sozialwissenschaften, aber es geht darum, daß sich fast jede Klassifizierung einer Gemeinschaft als eine 'Nation' aufgrund solch angeblich objektiver Kriterien ähnliche Einwände gefallen lassen muß, sofern sich die Behauptungg, es handle sich um eine 'Nation', nicht mit anderen Gründen belegen läßt.
Aber mit welchen anderen Gründen? Die Alternative zu einer objektiven ist eine subjektive Definition, ob kollektiv (etwa nach Renans Ausspruch: 'eine Nation ist ein tägliches Plebizit') oder individuelle nach dem Vorbild der Austromarxisten, für die sich 'Nationalität' mit Personen verbinden konnte, wo immer und mit wem sie immmer diese lebten, sofern sie diese nur für sich selbst in Anspruch nahmen. Beides sind unverhüllte Versuche, den Zwängen eines Objektivismus a priori zu entgehen, indem beide Male, wenn auch mit unterschiedlichen Mitteln, versucht wird, die Definition einer 'Nation' auch solchen Territorien anzupassen, auf denen Personen gemeinsam leben, die sich in ihrer Sprache oder in anderen 'objektiven' Kriterien unterscheiden, wie dies etwa in Frankreich oder in der Donaumonarchie der Fall war. Beide setzen sich dem Einwand aus, daß die Definition einer Nation durch das Bewußtsein ihrer Mitglieder, ihr anzugehören, tautologisch ist und lediglich aposteriori angeben kann, was eine Nation ausmacht. Außerdem kann sie den Unbedachten zu den Extremen eines Voluntarismus verleiten, der behauptet, alles, wessen es zu einer Nation, zu deren Schöpfung oder Neuschöpfung, bedürfe, sei der Wille, eine zu sein: Wenn genügend Einwohner der Insel Sylt eine Sylter Nation sein wollten, dann gäbe es sie auch."(Hobsbawm, S.17f)
Tautologische Bestimmungsgründe sind solche, die das voraussetzen, was erst hergeleitetet werden soll. Auch Aposteriori-Bestimmungen (von posteri nachfolgend, soll heißen durch Erfahrung gewonnen) setzen das schon voraus, was hergeleitet werden soll. Wenn objektive und subjektive Definitionen in die Irre führen, so liegt es nahe, nicht mit dem Sachverhalt, der Wirklichkeit, wofür der Begriff 'Nation' steht, sondern mit seinem Begriff zu beginnen, dem 'Nationalismus'.
Gellner bestimmt den Nationalismus als "politisches Prinzip, das besagt, politische und nationale Einheiten sollen deckungsgleich sein"(Ernest Gellner, Nationalsimus und Moderne S.8) Hier steckt allerdings das Wort national schon in der Bestimmung drin, aber es wird sich zeigen, daß das nicht tautologisch ist, denn "Nation" ist hier ein Erwartungsbegriff, das unbestimmte Ziel einer politischen Einheit. Und es wird in der Bestimmung nicht inhaltlich in Anspruch genommen. Der Prozeß der Vereinheitlichung, letzlich bei gleichgültigem Inhalt, ist das Entscheidende, nicht der Inhalt, der kontingent (zufällig) ist, allerdings stets gewisse Anhaltspunkte in der speziellen Geschichte der Region haben muß. Sofern kann der Nationalismus auch nicht sich auf Beliebiges berufen. Er beruft sich daher auf alte und gängige Mythen oder erfindet neue, die motivierend wirken.
Nationalismus ist also dasjenige, was Nationen hervorbringt und nicht umgekehrt Nationen, die Nationalismus hervorbringen. "Der Mensch macht die Nation; Nationen sind die Artefakte menschlicher Überzeugungen, Loyalitäten und Solidaritätsbeziehungen"(Gellner, S. 16) Der Nationalismus verwandelt also irgendetwas Bestehendes in Nationen, sei es bestehende Kulturen, irgendwelche Gemeinwesen oder was auch immer. Dabei erfindet der Nationalismus Gellner zufolge Kulturen und vernichtet andere.
Das gilt auch z.B. die Nationalsprachen, die aus der Abwertung und Vernichtung bestehendere Spachen resultieren. Bevor die Nationalsprachen von oben verschrieben wurden, herrschte nämlich überall ein Komplex von Regionalsprachen, von lokalen Varianten und "Dialekten", neben der Bildungsprache des Lateins, Griechisch oder was auch immer. Vor der Einführung der allgemeinen Schulpflicht gab es außer Bildungs- und Amtsprachen nicht das vereinheitlichende Moment. Am Hofe Friedrichs II. wurde französisch geprochen und der alte Fritz konnte kein "richtiges Deutsch", wie es dann später propagiert wurde.
"Nationalsprachen haben deshalb fast immer etwas von einem Kunstprodukt und sind gelegentlich, wie das moderne Hebräisch, so gut wie erfunden. Sie sind das Gegenteil dessen, wofür die nationalistische Mythologie sie ausgibt, nämlich die archaischen Fundamente einer Nationalkultur und der Nährboden des nationalen Denkens und Fühlens. Sie stellen gewöhnlich Versuche dar, aus einer Vielfalt von gesprochenen Idiomen (die später zu Dialekten verkommen werden) ein einheitliches Idiom zu machen, wobei das Problem hauptsächlich darin besteht, welcher Dialekt als Grundlage für die normierte und vereinheitlichende Sprache gewählt werden soll."(Hobsbawm S. 67f)
Der Nationalismus will eine politische Einheit, einen Staat schaffen, nach einem bestimmten Einheitsprinzip. Eine Menge von Individuen soll nach einem Kriterium der Gleichheit zusammengefaßt werden. Gleichheit setzt die Zuspitzung von Verschiedenheit zum Gegensatz voraus. Die Art und Weise der Identitätsstiftung und die Methoden ihrer praktischen Herstellung, die bis zur Vernichtung von Millionen von Menschen gehen kann, unterscheidet die einzelnen Nationalismen.
Der konstitutionelle Nationalismus entspricht einfach der 1. Defintion von Hertz und geht nach der Staatsangehörigkeit im Sinne eines jus soli. Dies bedeutet, daß die Staatsangehörigkeit vom Geburtsort abhängt. Ein Kind geboren in den USA hat die Staatsangehörigkeit der USA, wird es in Deutschland geboren, ist es staatenlos, obwohl die Eltern Amerikaner sind. Umgekehrt hat ein Kind bundesdeutscher Eltern, das in USA geboren wird, eine doppelte Staatsangehörigkeit, nach dem jus soli der USA und nach dem jus sanguinis auch die der BRD. Ohne Frage ist gegenüber dem jus sangunis das jus soli ein historischer Fortschritt. Und um das Debakel der Entstehung von Staatenlosigkeit zu verhindern, müßte das jus soli weltweit gelten oder die Möglichkeit doppelter Staatsbürgerschaften eingeführt werden.
Denn innerhalb der bürgerlich kapitalistischen Welt kann man sich nicht entscheiden keine Staatsangehörigkeit, also Nationalität zu haben, die Ausrottung von Millionen von Juden, die keinen Schutz hatten, durch die Deutschen ist der Beweis und legitimiert - als Besonderheit der Geschichte von Nationalstaaten - das "Gründungsverbrechen" des Staates Israel. Nur der Staat Israel konnte die Juden in aller Welt vor weiterer Verfolgung bislang schützen; daß seit der Gründung des Staates Isreal kaum noch Pogrome stattgefunden haben, ist der Beweis. So kann ein Falsches (der Staat) ein Wahres, die Integrität einer verfolgten Minderheit, begründen und sich legitimieren. Die Staaten, die erst Recht begründen, gründen selber in der Gewalt als Geburtshelfer der Geschichte, darüber muß man sich immer im Klaren bleiben.
Der Nationalismus des jus sanguini geht über die zivile Staatsangehörigkeitsregelung schon hinaus und ist dem aggressiveren Spielarten des Nationalismus bereits verwandt. Das ist besonders in Deutschland bedauerlich, daß daran bislang nichts geändert wurde.
So können wir einen Sprachnationalismus (wie oben beschrieben der der Singhalesen oder der der Türken, die bis zum Völkermord gegen Kurden, Armenier, Aramäer ging), von einem Religionsnationalismus (Gründung Pakistans oder Iran), von einem ethnischen oder völkischen Nationalismus (Deutschland, Finnland, Estland, Lettland, Litauen) unterscheiden.
Die Länder, die durch "konstitutionellen Nationalismus" bestimmt sind, könnte man als "Geschichtsnationen" bezeichnen. Durch eine Reihe von geschichtlichen Zufällen und Entwicklungen hat sich ein Staat gebildet, der eine durchaus heterogene Bevölkerung beinhaltet. So gab es in Belgien flämische, wallisische und deutschprachige Gruppen, in der Schweiz deutsche, französische, italienische und rätoromische Bevölkerungsteile. Ebenso heterogen sind die süd- und nordamerikanischen Einwanderungsländer. Kanada kennt auch (Frankokanadien) durch De Gaulle geförderten Sprachnationalismus, der bislang aber nicht zur Nationenbildung geführt hat, aber kurz vor Wahlen stets ins Gespräch gebracht wird.
In Wirklichkeit realisieren sich jene reinen Typen des Nationalismus allerdings nicht. In den realen Nationalstaaten, wie radikal auch immer "Homogenität" durchzusetzen versucht wurde, überlappen sich sprachliche, "kulturelle", "ethnische" und religiöse Komponenten. Der nationalistische Wahn ist nicht in der Lage sich vollends zu realisieren, wie grenzenlos er auch zu wüten vermochte. Wie der jüdische Denker Leibowitz sagte, wurde der Begriff der Nation aber in Deutschland am radikalsten zuende gedacht und praktiziert.
Gemeinsam ist allen Bestrebungen der Versuch einer Selbsterschaffung der Nation durch Abgrenzung bis hin zur Homogenisierung. Je weniger das Identitätskriterium bloß formell ist, je inhaltlicher es wird, desto aggressiver ist die Praxis. Die durch das Grundgesetz der BRD festgelegte Diskriminierung der Ausländer unterscheidet sich vom Radikalfaschismus der Nationalsozialisten, jene legt "nur" verminderte Rechte für Nichtstaatsangehörige fest, während diese gleich alles den Homogenitätskriterien nicht Entsprechende ausmerzen will. In Auschwitz kommt der Gedanke der Nation zur Kenntlichkeit, zu seiner ultima ratio. Das allgemeine Prinzip, das darin waltet, ist allerdings die Ursache. Worauf die Nation hinausläuft hat Ernest Renan zum Ausdruck gebracht, auf das Opfer des Individuums: "Eine Nation ist also eine große Solidargemeinschaft, getragen von dem Gefühl der Opfer, die man gebracht hat, und der Opfer, die man noch zu bringen gewillt ist."(Was ist eine Nation) Und im Tode findet real wie symbolisch die Nation auch ihr Prinzip.
"Es gibt keine fesselnderen Symbole für die moderne Kultur des Nationalismus als die Ehrenmäler und Gräber der Unbekannten Soldaten. Die öffentlichen Referenzen, die diesen Denkmälern gerade deshalb erwiesen werden, weil sie entweder leer sind oder niemand weiß, wer darin bestattet ist, haben kein Vorläufer in früheren Zeiten. (...) Doch so entleert von bestimmbaren menschlichen Überresten oder unsterblichen Seelen diese Gräber auch sind, so übervoll sind sie von gespenstischen nationalen Vorstellungen."(B.Anderson, Die Erfindung der Nation S.18)
Die Epoche der Nationalisierung, die mit der französischen und amerikanischen Revolution begann, war auch die des Beginns der industriekapitalistischen Klassengesellschaft, die der nationalistischen Ideologie entgegenkam. Die Bestrebungen der Modernisierung benötigten größere Einheiten der Organisation des Gemeinwesens.
Nicht jede beliebige Vorstellung, jeder Wahn, kann auch Realität werden, sie muß auch für den Stoffwechselprozeß des Menschen mit der Natur, dem materiellen Produktionsprozeß eine Funktion haben. Denn von Symbolen, von Fahneneiden, Runen und Absingen der Nationalhymne kann man nicht leben. So hat sich die Entwicklung des Kapitalismus vom 16. bis 18. Jahrhundert auf dem Boden von Territorialstaaten vollzogen.
Zum Teil wurde der absolutistische Patrimonialstaat in den bürgerlichen Staat transformiert, zum Teil wurde eine Vielzahl von Fürstentümer (Kleinstaaterei) verwandelt. Die Weltwirtschaft des 19.Jahrhundert war in einem anderen Sinne kosmopolitisch als heute, sie war inter-national; heute überspringen die Führungsunternehmen jegliche nationale Grenzen über den Export von produktiven Kapital und das Geldkapital ist in Lichtgeschwindigkeit von einem Ort zum anderen transferiert. Der Wirtschaftsliberalismus des 19.Jh. war anti- national, gegen den Merkantilismus (als proto-nationalistischer Doktrin) gerichtet und schwor auf die Erleichterung des internationalen Wirtschaftsverkehrs. Allerdings konkurrieren auf dem Weltmarkt meist noch nationale Unternehmen, die in Staaten ansässig waren, die noch Währungs- und Geldsouveränität besaßen, das Weltgeld als Gold machte es möglich bis der Goldfaden riß (Vgl. Polany, The Great Transformation). Der Begriff der Souveränität gehörte zu der Epoche, die mit der Legitimität von Gottes Gnaden aufräumte, allerdings war sie nie so rein wie in den Definitionen der Staatsrechtler verwirklicht. Bodin gestand den Ständen so viel zu, daß man von Souveränität eigentlich nicht sprechen dürfte. Und die moderne Souveränität ist durch Einbeziehung der Staatsgewalt in den gesellschaftlichen Funktionszusammenhang gebrochen. Der Staatshaushalt ist auf das wirtschaftliche System angewiesen, d.h. ist das politische Verhältnis des Kapitals. Als Instanz, die im Notfall über den Ausnahmezustand entscheidet, ist die Souveränität als politisches Verhältnis allerdings arg geschrumpft, wenngleich das Gewaltmonopol, wenn es in der Krise seine Rechtsstaatlichkeit abstreift, zu einigen Blutopfern fähig ist.
Der Nationalismus des 19.Jh. hatte das Schwellenprinzip zur Grundlage und erklärte sich gegen die Kleinstaaterei, gegen das, was man heute Balkanisierung nennen könnte. Die Friedensverträge nach den 1. Weltkrieg brachten dann auch nur 26 Staaten in West-Europa hervor. Was passiert, wenn das Schwellenprinzip aufgeben wird sieht man an den 42 regionalistischen Bewegungen, die Blaschkes "Handbuch der westeuropäischen Regionalbewegungen" auflistet.
Der Aufbau von Nationen wurde zwangsläufig als Expansionsprozeß betrachtet, Seperatismen waren Ausnahmen und galten als Anomalien. Allerdings ist das mit der Expansion nicht so gemeint, daß die Nation nicht partikulär wäre. Kein Nationalist denkt sich die Nation als alle Menschen umfassend.
"Wenn wir unserer Doktrin in einer einzigen Formel zusammenfassen müßten, dann würden wir vielleicht sagen, daß das Nationalitätenprinzip im allgemeinen legitim ist, wenn es dazu dient, verstreute Bevölkerungsgruppen in einem festen Verband zu vereinen und illegitim, wenn es darauf abzielt, einen Staat zu zerstückeln" heißt es im Stichwort Nationalites aus Lalors Cyclopedia of Political Science (zitiert nach Hobsbawm S. 45).
Dies erklärt auch ein wenig, daß die Nachzügler in der Nationenbildung, aufgrund der Weltmarktkonkurrenz, um so aggressivere Anstrengungen unternahmen, eine wettbewerbsfähige größte Einheit im Sinne einer "Volks"wirtschaft zu schaffen und den "Griff zur Weltmacht"(F.Fischer) versuchten. Dies führte gradeweges in zwei von Deutschland verursachte Weltkriege. Gänzlich zum Tode verurteilt ist der neuerdings sich entwickelende aus dem Westen importierte Seperatismus der "zweiten" und "dritten" Welt, die das Erbe von Kolonialismus und Stalinismus darstellen.
Die Einsicht Hegels, nach der Abstraktionen in der Wirklichkeit geltend zu machen, bedeutet, Wirklichkeit zu zerstören, bestätigt sich nicht bloß schlagend, sondern wesentlich lautstärker.
"Läßt man nun die Bestimmungen von einem Gegenstand weg, so heißt man dies abstrahieren. Es bleibt ein weniger bestimmter Gegenstand oder ein abstraktes Objekt übrig. Nehme ich aber in der Vorstellung nur eine einzelne solche Bestimmung heraus, so ist auch dies eine abstrakte Vorstellung."(Hegel, Theorie Werkausgabe Bd.4 S.208)
Um eine solche Vorstellung handelt es sich bei der Nation, das Nationenstiften ist ein Abstraktionsprozeß, der sich in der Wirklichkeit zu realisieren sucht, eine Realabstraktion. "Das Wesen einer Nation ist, daß alle einzelnen vieles gemeinsam und daß sie alle vieles vergessen haben"(Renan) So kommt auch B.Anderson zu Definition der Nation als "vorgestellter Gemeinschaft"(imagined community), vorgestellt, weil ein einzelnes oder einige Merkmal(e) verwendet werden, die der Gemeinschaft gleichgültig sind. Anderson betont die Fiktivität der Gemeinschaft, der andere Aspekt von Vorstellen, der in der deutschen Übersetzung mitschwingt, trifft auch noch etwas an der Sache selbst.
"Vorgestellt ist sie deswegen, weil die Mitglieder selbst der kleinsten Nation die meisten anderen nicht kennen, ihnen begegnen oder auch nur von ihnen hören werden, aber im Kopf eines jeden die Vorstellung ihrer Gemeinschaft existiert"(Anderson, S.15)
Als Gemeinschaft gedacht ist die Nation, sofern sie abstrahiert von realer Ungleichheit und Ausbeutung:
"Es war die Brüderlichkeit, die in den letzten zwei Jahrhunderten möglich gemacht hat, daß Millionen von Menschen für so begrenzte Vorstellungen weniger getötet haben als vielmehr bereitwillig gestorben sind."(a.A.O S.17)
Diese Brüderlichkeit gründet also nicht in einer realen Gemeinschaft oder Freundschaft, sondern ist eine abstrakte von Menschen, die sich nicht kennen und nur die Produkte nationalistischer Indokrination im Kopf haben. Sie entspringt einer antagonistischen Gesellschaft, einer der Konkurrenz, des Ellenbogens, an der alle leiden. Aber das Gegengift dagegen: der Nationalismus, der oft genug von unten kam (Befreiungsnationalismus), ist selber ein noch tödlicheres Gift als wogegen die subjektive Motivation sich richtet. Es ist klar, daß das Gefühl und Bedürfnis, das mittels nationaler Mythenbildung und Symbolik, erzeugt wird, niemals befriedigt werden kann, weil ja gerade der produktive Grund des Unmuts in der falschen Reflexion als Nationalismus durch ihn vergessen gemacht wird, ist auch eines der Ursachen, daß die Aggressivität sich immer mehr steigert, je mehr sich der Nationalismus als Illusion entlarvt.
Es ist der Irrsinn des Nationalismus, daß er sich sobald er in Bedrängnis gerät, sich steigert. Daher ist es auch eine Vergeblichkeit Diskurse mit Nationalisten über Sinn und Unsinn ihres Tuns zu führen. Man erzeugt in ihnen nur das Gefühl, worum willen sie sich dieser Wahnidee anheimgeben. Nur existentielle Erschütterungen vermögen etwas zu bewirken, so wenn ihnen die - selbst die negative - Anerkennung entzogen wird und sie rechts liegen gelassen werden.
Der Produktion von Nationalbewußtsein, der nationalistischen Indoktrination - gleich welcher demokratischen oder undemokratischer Art - gilt es sich zu verweigern und es ist überall wo sie auftritt zu entlarven. Da kann gewissermaßen die "kritische Paranoia"(S.Dali) gar nicht stark genug sein.

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Most recent revision: April 07, 1998

E-MAIL: Martin Blumentritt