Probleme der Hitlerforschung
Adolf Hitler steht im Mittelpunkt der Schrift von Ian Kershaw "der Hitler-Mythos".
Sie ist aber keine Fortsetzung der langen Serie neuer Hitler-Biographien. Der britische
Autor, der einige Jahre lang in enger Kooperation mit dem Institut für Zeitgeschichte
Quellen über die Volksmeinung in der NS-Zeit erforscht, geht nicht biographisch
der Person nach, sondern soziographisch dem Image Hitlers. Er will nicht erneut
darstellen, wer Hitler war, was er dachte, redete, tat und wollte, sondern wie er
von den verschiedenen Schichten der Bevölkerung gesehen und "erlebt"
wurde, vor allem von den einfachen Leuten. Die Untersuchung Ian Kershaws gehört
in den Bereich der politischen Imagologie. Der Autor beschreibt den Aufbau, die
Wandlungen und den Verfall des phänomenalen Hitler-Mythos im nationalsozialistischen
Deutschland, seine sowohl bewußt propagandistische wie unbewußt psychologische
Ausformung.
Die Begründung eines solchen Forschungs- und Darstellungsansatzes ist gestützt
durch massive Evidenz, die sich schon bei der oberflächlichen Beschäftigung
mit der Geschichte des Nationalsozialismus aufdrängt: der exzessive Führer-Kult
während dieser Zeit unterschied sich quantitativ wie qualitativ von anderen,
uns aus der neuzeitlichen Geschichte geläufigen Idolisierungen von bedeutenden
Monarchen oder Staatsmännern, von Parteiführern mit großer Autorität
oder von Volkstribunen mit charismatischen Quellen. Weder im Preußen Friedrichs
des Großen oder im napoleonischen Frankreich, noch im Deutschland Otto von
Bismarcks, weder in der leninistischen oder stalinistischen Sowjetunion, noch im
Italien Mussolinis war die Atmosphäre politischen Denkens so gänzlich
erfüllt vom Nimbus des führenden Mannes wie im nationalsozialistischen
Deutschland. Nirgends bildete der Führer-Mythos so sehr schon von Anfang an
die Mitgift eines politischen Systems und seinen Dreh- und Angelpunkt, sein vorgegebenes
Medium und Vehikel, durch das eine neue politische Gruppierung - die "Hitler-Bewegung"
- die ihr eigentümliche Integrations- und Suggestivkraft entfalten und schließlich
die kombinierte Macht von Staat und Partei in die Form der "Führerherrschaft"
bringen konnte. In keinen anderen uns bekannten Fall bildete sich infolge der Zielstrebigkeit
und Potenz einer auf den führenden Mann fixisierten, in solche Perfektion bisher
nicht dagewesenen monopolistischen Propaganda sowie aufgrund eines extremen, nationalpsychologischen
Erregungszustandes ein so empfängliches Rezeptionsklima für den Führerkult.
Nirgends war die geschichtliche Führungsfigur der neuzeitlichen Geschichte
stand aber auch der historische "Nachruhm" in solchem Kontrast zum zeitgenössischen
Nimbus, löste sich letzterer mit dem Ende des von der Führerperson geprägten
System so rasch in nichts auf. Noch in seinem Zusammenbruch war der Hitler-Mythos
einzig.
Die zeitgeschichtliche Forschung hat die meisten dieser für Hitlers Führertum
charakteristischen Aspekte längst herausgearbeitet, vor allem auch die irritierende
Diskrepanz zwischen der so unansehlichen persönlichen Lebensgeschichte und
der so kolossalen politischen Wirkungsgeschichte Hitlers. Nichts prädestinierte
den dreißigjährigen Adolf Hitler, der nach dem ersten Weltkrieg aus gänzlicher
Anonymität und Bedeutungslosigkeit plötzlich hervortrat, zur späteren
geschichtlichen Führerrolle. Für den im allgemeinen entwicklungsträchtigsten
Lebensabschnitt zwischen dem 18. und 25. Lebensjahr, den Hitler in Wien und München
verbrachte - aus eigenem Entschluß ohne Beruf und ohne übermäßige
materielle Entbehrungen ganz und gar seinen Neigungen und den Zeiteindrücken
hingegeben -, ist nicht ein einziges authentisches Zeugnis ernsthafter Selbstreflexion
über Lektüre, Kunst und Politik überliefert, weder in Tagebüchern
noch in Briefen. Von seelisch-geistiger Verarbeitung des Vielerlei, das der spätere
Führer bis zu seinem 30. Lebensjahr aufnahm, von einem Prozeß der inneren
Aneignung, Reifung und Bildung ist nichts zu spüren. Was er aufnahm, scheint
in dem guten Gedächtnis nur selektiv gespeichert worden zu sein zum monologisch-rhetorischen
Tagesgebrauch. Die erkennbare persönliche Lebensgeschichte Hitlers, auch in
der Zeit nach 1919, blieb extrem unpersönlich. Die "Metamorphose des Niemand
aus Wien in den Führer Großdeutschlands", so schreibt vor einiger
Zeit der Literaturhistoriker J.P.Stern in einem Essay über Hitler (1), läßt sich aus der Dokumentation der Lebensdaten schlechterdings
nicht ableiten.
Aus solchen Gründen hat auch Sebastian Haffner in seinen "Anmerkungen
zu Hitler" der privaten Biographie nur einige spärliche Sätze gewidmet
und auf die auffällige Diskrepanz hingewiesen "zwischen dem ungewöhnlich
dürftigen persönlichen Leben und dem ungewöhnlich intensiven politischen
Leben", die Hitler von fast allen anderen bedeutenden Figuren der neuzeitlichen
Geschichte unterscheide, auf die extreme "Eindimensionalität" seiner
politischen Leidenschaft bei einem sonst "inhaltslosen Leben", "ohne
alles, was einem Menschenleben normalerweise Wärme und Würde gibt, Bildung,
Beruf, Liebe und Freundschaft, Ehe und Vaterschaft"(2).
Um so verwunderlicher ist es, daß die Hitler-Forschung sich so sehr auf das
Biographische versteift, daß sie nicht stärker die wirkungsgeschichtliche
Transmission dieses Führertums und vor allem auch die sozial- und volkspsychologischen
Voraussetzungen des Hitlerkults in den Blick genommen hat.
Obwohl die Geschichtsschreibung über die NS-Zeit immer wieder Zuflucht nahm
zu hilflosen Umschreibungen aus dem Wortschatz der Dämonologie, die ihre Schwierigkeit
einer Erklärung Hitlers beleuchtet, blieb sie doch einer hitlerzentrischen
Deutung des Nationalsozialismus in starken Maße verhaftet. Schon vor 20 Jahren
hat Golo Mann (3) in seiner "Deutschen
Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts" dem durchgängig nur mit "H."
apostrophierten Führers zwar den Namen verweigert, aber um so mehr daran festgehalten,
daß das Dritte Reich die Geschichte der Wirksamkeit vor allem "dieses
Menschen" gewesen sei, "das Abenteuer eines einzelnen Bösewichts,
der Deutschland und durch Deutschland einem guten Teil der Welt seinen Willen aufzwang"
Die nicht weiter in Frage gestellte Evidenz der "Alleinherrschaft" Hitlers
veranlaßte auch einen großen Teil der jüngeren Zeitgeschichtsforschung
in der Bundesrepublik immer wieder zu einer stark personalen, hitlerzentrischen
Sicht des Dritten Reiches und schien ihr ein genügender Grund sowohl für
biographische Hitler-Forschung wie für für Anwendung geistesgeschichtlicher
Kategorien bei der Bestimmung der politischen Motive Hitlers. Sicher trug in den
vergangenen Jahren auch die Auseinandersetzung mit neomarxistischen gesellschaftstheoretischen
Deutungen des Nationalsozialismus, in denen Hitler kaum vorkam oder nur als "Agent"
anonymer "herrschender Kräfte", dazu bei, daß im Gegenzug ein
ungenügend reflektierter personalistischer "Hitlerismus" in der Geschichtsdeutung
der NS-Zeit wieder an Boden gewann.
Im Umkreis solcher Rückwendung auf die personenbezogene Historiographie entstanden
auch jene Hitler-Bestseller Werner Masers(4), David Irvings(5),
John Tolands(6), die durch die
systematische Auswertung von persönlichen Zeugnissen, die Befragung von Adjutanten,
Sekretärinnen, Chauffeuren oder Kammerdienern des Führers dem Menschen
Hitler nahezukommen suchten. Die epische Ausbreitung solcher Erinnerungen von Zeugen,
die Hitler aus der "häuslichen" oder "Vorzimmer"-Atmosphäre
und -Perspektive erlebten als einen, wie sie meinten relativ "normalen"
Menschen, als aufmerksam, rücksichtsvoll oder gar "herzensgut", diente
zwar in erster Linie der Befriedigung des historischen Unterhaltungsbedürfnisses,
verstand sich aber doch meist auch als Abkehr von den - vor allem in der außerdeutschen
populären Literatur und Fernsehproduktion über den Nationalsozialismus
- vorangegangenen primitiven Verteufelungen. Sie konnte sich mit solch demonstrativer
"Vorurteilslosigkeit" ein wissenschaftliches Objektivitäts-Alibi
verschaffen und gleichzeitig doch weiterführende Erkenntnis im Rahmen der Hitler-Forschung
meilenweit verfehlen.
Drängen sich doch gerade im Falle Hitlers Fragen auf, die solcher Personalisierung
entgegenstellen. Welche Krisenbedürfnisse ließen einen Agitator wie ihn
zu historischer Geltung gelangen? Welche unentbehrliche Funktion hatte der pseudoreligiöse
Hitler-Glaube für die soziale Integration des Dritten Reiches, welche Bedeutung
auch für die institutionelle Ausformung des Führer-Staates? An derartigen
Fragen sind selbst bedeutende Hitler-Biographien vorbeigegangen. Die meisten von
ihnen begnügten sich zur Legitimation des biographischen Ansatzes mit dem Hinweis,
daß die nationalsozialistische Epoche "ohne ihn nicht gedacht werden
kann"(7), und schließlich
von den riesenhaften Wirkungen auf die Ursächlichkeit der Person. Joachim Fest
meint in seiner brilliant geschriebenen, geistreichen Hitler-Biographie: "Hitler
bliebt die allesbewegende, unwiderstehliche Kraft." "In seiner Person
hat ein einzelner noch einmal seine stupende Gewalt über den Geschichtsprozeß
demonstriert."(8)
Gerade aber die von Jacob Burckhardt in den "Weltgeschichtlichen Betrachtungen"
sehr differenziert gesetzten Maßstäbe für historische Größe,
auf die sich Fest dabei beruft, lassen sich auf Hitler schwerlich anwenden. So wenig
Burckhardt das Moralische als unabdingbar für das geschichtlich Große
ansah, so sehr verdeutlichte er doch, daß gewaltige Energiefesselung allein
nicht schon "Größe" ausmacht. Wenn Burckhardt bemerkte (was
Fest zitiert), daß geschichtliche Individuen dadurch "groß"
wurden, daß sie, im Schnittpunkt mächtiger Zeitströmungen stehend,
"ein Volk aus einem älteren in einen neuen Zustand hinüberzuführen"
vermochten, so meinte der Schweizer Kulturhistoriker nicht _irgendeinen_ - etwa
durch einen neuen "Kulturzustand", eine neue zukunftsträchtige Gestaltung
politisch-gesellschaftlichen oder geistig-kulturellen Lebens, und er fügte
ausdrücklich hinzu: "Diese" - von einer großen geschichtlichen
Persönlichkeit bewirkten - "dauernden (!) neuen Verhältnisse dürfen
nicht bloß Machtverschiebungen sein, sondern es muß ihnen eine große
Erneuerung des nationalen Lebens entsprechen." Die "bloß kräftigen
Ruinierer" ließ Burckhardt ausdrücklich nicht als geschichtlich
große Individuen gelten.
Das Dilemma der personalen Dürftigkeit Hitlers hinter den enormen Wirkungen,
die von ihm ausgingen, hat Fest durch den Hinweis auf den von Walter Benjamin geprägten
Begriff des "Sozialcharakters" zu kennzeichnen gesucht. Auf Hitler angewandt
wäre darunter eine Figur zu verstehen, daß sie in der eigenen Person
"eine nahezu exemplarische Verbindung aller Ängste, Protestgefühle
und Hoffnungen der Zeit" vollzieht (9) und sie - so ließe sich Fest weiterführen - an die Gesellschaft
geballt zurückgibt und diese damit mobilisiert und integriert. Mit diesem Begriff
"Sozialcharakter" stand Fest dem eigenen biographisch-personalen Ansatz
am stärksten selbst im Wege; er hat leider nicht systematisch weitergearbeitet
und erforscht, wie es zur Vermittlung zwischen den Zeitströmungen und dem Individuum
Hitler kam.
Einen ähnlichen "Bruch" registrieren wir bei Sebastian Haffner wenn
dieser zwar deutlich macht, daß die Lebensgeschichte Hitlers zur Erhellung
seiner Politik nichts beiträgt, aber doch das politische Denken und Wollen
Hitlers durchaus als entscheidende politische Kräfte und Ursachen des Geschichtsverlauf
beschreibt. Die Deutung des Politikers Hitler läßt sich von der Lebensgeschichte
der Person aber schon deshalb nicht einfach ablösen, weil ohne letztere auch
Anfang und Ausgangspunkt des Hitlerischen politischen Denkens und Wollens im Dunkeln
blieben. Welche Zeiterfahrung und welche "Verarbeitung" dieser Erfahrung
prägten seine nach 1919 plötzlich einsetzende Aktivität? War es erst
die unmittelbare nationalsozialistisch- konterrevolutionäre Trotzgesinnung,
die seit Kriegsende fast überall in Deutschland völkisch-antisemitische
und rechtsradikale Bünde, Zirkel, Freikorpsgruppen entstehen ließ, oder
waren es schon spezifische österreichische, Wiener Erfahrungen denen Hitler
in "Mein Kampf" rückblickend, aber wahrscheinlich verfälschend,
konstitutive Bedeutung für seine Weltanschauung beigemessen hat?
Bezeichnend für das Maß der Unklarheit, mit der die biographische Hitler-Forschung
zu tun hat, ist, daß wir Sicheres nicht einmal über die Entstehungsgeschichte
des Hitlerschen Antisemitismus wissen. Wenn es zutrifft, was John Toland und Rudolf
Binion in ihren Studien glauben feststellen zu können, nämlich, es sei
eher unwahrscheinlich, daß Hitler bereist vor 1914 ein erklärter, überzeugter
Antisemit gewesen ist, dann wird das Konjunkturelle seiner 1919 hervorgetretenen
radikal-antisemitischen Einstellung wie überhaupt der Genese der "Weltanschauung"
noch stärker als bisher zu veranschlagen sein. Noch unbegründeter würde
dann die Annahme, dieser Mittelpunkt seiner fanatisch geglaubten Ideologie sei in
langen Jahren der politischen Begriffsbildung schon vor Beginn seiner politischen
Karriere fest verankert gewesen.
Umso rätselhafter würde mithin aber auch das unbestreibare Phänomen
der frühen weltanschaulichen Fixierungen Hitlers, die kurze Spanne politischer
Ideenfabrikation und Festlegung zwischen 1919 und 1924; noch stärker der Eindruck,
daß die Dynamik der Propaganda-Aktivität, die Hitler in diesen Jahren
entfesselte, weitgehend bestimmend gewesen ist auch für die Inhalte seiner
politischen Programmatik. Die mit Vehemenz und zunehmendem Erfolgt erprobte leidenschaftliche
nationalistische Demagogie, geleitet von dem Bedürfnis, immer größere
Massen in den Bann seiner politischen Rhetorik zu ziehen und sich politisch erfolgreich
in Szene zu setzen, wäre gleichzeitig zu verstehen als eine Art Selektionsmechanismus
auch für die radikale Substanz seiner Ideologie: Antisemitismus, Antimarxismus
und Anti-Internationalismus - die drei Stereotypen des Hitlerschen Weltbildes -
müßten noch mehr von den überindividuellen Bedingungen der Protestbewegung
gegen die vermeintlichen "Verbrechen" des Waffenstillstandes, der Novemberrevolution
und des Versailler Friedensvertrages her verstanden werden. Das "Denken"
Hitlers wäre demnach zu verstehen als ein Kanon politischer Schlagworte, von
ihm vor allem ihrer damaligen Wirksamkeit wegen auf den "Begriff" gebracht,
als Weltanschauung rationalisiert und radikalisiert, schließlich aber mittels
seiner hypertrophen Selbsteinschätzung von Hitler selbst geglaubt und fanatisch
verfolgt, in jener merkwürdigen autosuggestiven Vertauschung von "Idee"
und "Agitation", für die schon "Mein Kampf" reichliche
dokumentarische Evidenz liefert.
Wir sehen uns mit diesen Überlegungen einer zentralen Frage der Hitler-Interpreten
gegenüber, auf die die amerikanische Psychohistorie neuerdings ihre eigene,
eigenwillige Antwort gegeben hat, in Gestalt vor allem der Deutungen von Langer
(10), Waite (11) und Binion (12).
Der Umstand, daß die Weltanschauungsgenese Hitlers als geistiger Prozeß
kaum zu fassen ist, sich weitgehend nur in agitatorischer Form niedergeschlagen
hat, und Hitler die politische Bühne fast sofort als ein ideologisch Festgelegter
betrat, bedeutete gleichsam eine Einladung an die psychoanalytische Deutung, legte
es nahe, diese "Fixationen" Hitlerschen Weltanschaungswillens auf punktuelle
traumatisch Erlebnisse zurückzuführen anstatt auf prozeßhafte ideologische
Entwicklungen. Abgesehen von den quellenkritischen Einwänden, die auch der
nicht psychoanalytischen versierter Historiker gegen die dabei vorgebrachten psychologischen
"Befunde" geltend zu machen vermag ;(13), können die vor allem von Rudolf Binion mit scharfsinniger Stringenz
vorgetragenen Deutungen unzweifelhaft im Rahmen ihrer Prämissen Schlüssigkeit
aufweisen und sind insofern schwer angreifbar. Sie haben gleichwohl mit Geschichtserklärung
kaum noch etwas zu tun: Die Vernichtung der Juden und die katastrophale Selbstzerstörung
des deutschen Reiches, verstanden als zwanghafte Reproduktion traumatischer Kindheitserlebnisse
Hitlers - das läßt alle überindividuellen, gesellschaftlichen und
politischen Konditionen Hitlerschen Denkens und Wollens außerhalb des Blickfeldes,
bedeutet radikale Privatisierung der Historie: der psychoanalytisch enträtselte
Dämon Hitler als Agens der Geschichte. Wir können uns mit suchen Interpretationen,
die letztlich auf eine Ent-Historisierung der Geschichte hinauslaufen, wenig befreunden.
Gerade die der substantiellen Deutung und Erfassung sich so sehr entziehende Person
Hitler - hinter enormen Wirkungen, die er in Gang setzte - hätte die Forschung
von der biographischen Fährte eher ablenken und auf die Untersuchung der sozialpsychologischen
Wirkungsvoraussetzungen des "Führers" hinweisen können, die
freilich methodisch sehr viel ungesicherter ist.
Die hier vorgelegte Studie ist ein Versuch in dieser Richtung. Ursprünglich
gar nicht geleitet von Zielsetzungen der Hitler- Forschung, entwickelte sich ihre
Perspektive - wie bereits angedeutet - aus dem Umkreis der systematischen Erforschung
der Volksmeinung im Dritten Reich. Die exzeptionell breite Überlieferung vertraulicher
Berichte über Volksreaktionen auf kleine und große Tagesereignisse in
der NS-Zeit, die in bayrischen Archiven und Registraturen vorliegt, und im Rahmen
eines gemeinsam vom Institut für Zeitgeschichte und den Staatlichen Archiven
Bayerns unternommenen Forschungsprojekts erschlossen und zugänglich gemacht
wurde, bot dem Autor die Grundlage für eine Feldforschung, wie sie in dieser
Intensität bisher kaum geleistet worden ist. Neben vielerlei anderen Topoi
der Meinungs- und Mentalitätsgeschichte im Dritten Reich, die in den Ergebnissen
dieser Forschung sichtbar wurden, tritt das "Phänomen" der legendären
"Ausstattung" des Hitler-Bildes in den verschiedensten Volksschichten
dabei besonders eindrucksvoll hervor. Neben den unmittelbaren Auswirkungen der offiziellen
Hitler-Propaganda wird in den einschlägigen Zeugnissen die selbsttätige
selektive "gesellschaftliche" Produktion des Hitler-Mythos immer wieder
erkennbar. Diese Untersuchung von Volksmeinungen macht ganz allgemein deutlich,
wie sehr Ereignisse der großen Politik auf der unteren Ebene der Politikverarbeitung
und -erfahrung je nach den milieubedingten und schichtenspezifischen Normen und
Erwartungen "umgemodelt", wie sehr Bedeutungsprioritäten nationaler
Ereignisse im Medium lokaler und sozialer Traditions- und Interessengebundenheit
verändert wurden und das subjektive Erlebnis von der objektiven Realität
politischer Vorgänge abweichen konnte.
Der Befund selektiver Verzerrung politischer Erfahrung durch die im allgemeinen
nur passiv, aber in unterschiedlicher Weise von Politik betroffene Bevölkerung
hatte im Falle der Meinungsbildung über Hitler besondere Relevanz. Bei der
"von unten" geleisteten Idealisierung Hitlers war auch eine Reihe besonderer
Faktoren maßgeblich, "Mechanismen" der Kompensation, der Alibi-Konstruktion
u.a., die Ian Kershaw in seiner Studie vor allem auch durch den systematischen Vergleich
zwischen dem überwiegend negativen "Image" der NSDAP und dem überdimensional
positiven populären Hitler-Bild herausarbeitet.
Der Plan, aus der Fülle des Dokumentationsmaterials über Volksmeinungen
im Dritten Reich eine Untersuchung und Dokumentation über den "Hitler-Mythos"
auszugrenzen, als selbstständiges Thema zu organisieren und zu publizieren,
ist in gemeinsamen Überlegungen gefaßt und konkretisiert worden. Auch
während der Ausführung der Arbeit wurden der Gedankenaustausch und die
Kooperation intensiv fortgeführt. Die nun vorliegende Schrift kann insofern
auch als Ergebnis einer erfreulich engen und, wie ich meine, gut gelungenen Zusammenarbeit
gelten.
Von ihrer Materialbasis und Perspektive her konnte die Arbeit naturgemäß
nicht das ganze Feld der noch kaum erforschten sozialpsychologischen Voraussetzungen
der Wirksamkeit des Hitler-Mythos untersuchen. Der eingangs angedeutete Vergleich
des Hitler-Kults mit Idolisierungen anderer "Herrscher" in früheren
Phasen der deutschen Geschichte oder in außerdeutschen Nationen und Gesellschaften,
aus dem sich vielleicht Erkenntnisse über ähnliche "Vehikel"
des psychologischen "making" von nationalen "Helden" und "Führern"
und ähnlichen pseudoreligiösen Motive solcher Projektionen gewinnen lassen,
konnte ebensowenig unternommen werden wie eine systematische Dokumentation des Hitler-Bildes
bei den Führungsschichten in Staat und Gesellschaft des Dritten Reiches oder
bei den "Meinungsführern" im befreundeten, neutralen oder gegnerischen
Ausland. Ein Handikap war gewiß auch, daß die "Imagologie"
innerhalb der Geschichtswissenschaft noch kaum ein sicheres erkenntnistheoretisches
und methodisches Rüstzeug entwickelt hat.
Die Ergebnisse der vorliegenden Untersuchung gestatten es gewiß auch nicht,
einfach abzumessen, was nur dem überdimensionalen Nimbus zuzuschreiben ist,
der um Hitler gewoben wurde und ihn so sehr umspannte, daß die Realität
seines eigenen Denkens, Wollens und Tuns von dem schließlich von ihm selbst
adaptierten Führer-Mythos gar nicht mehr zu trennen ist. Die Fülle der
auf Hitler bezogenen Volksäußerungen, die Kershaw vorführt und erläutert,
macht aber evident, wie riesengroß, langlebig und selbständig der Mythos
war, der um Hitler herum entstand. Der Verfasser liefert auch zahlreiche Anhaltspunkte
zur Deutung des populären Wunderglaubens an den Führer.
Vieles spricht dafür, daß die an Vergötterung grenzende Verehrung
Hitlers als eine Form exzessiven nationalpolitischen Personenkults einem noch weitgehend
vordemokratischen Zustand populärer politischer Meinungsbildung zuzuordnen
ist, dem schon oft diagnostizierten Phänomen einer noch unterentwickelten politischen
Kultur in einer zivilisatorische und ökonomisch bereits hochentwickelten Gesellschaft.
Die massive politische Irrationalität, die im Führer-Glauben in Deutschland
aufschoß, war aber gewiß auch Kompensation für die hochgradig desintegrative
politische und gesellschaftliche Wirklichkeit des deutschen Nationalstaats seit
der Reichsgründung und insbesondere seit 1918. Die Dokumente, die der britischen
Historiker beibringt, zeigen aber vor allem dies: Nicht der Nationalsozialismus,
die NSDAP oder die Nazi-Weltanschauung erzeugte die einige Jahre lang trotz aller
inneren Friktionen stupende Kohäsionskraft des Dritten Reiches, sondern in
erster Linie der Führer-Glauben. Insofern kommt auch diese Studie zum Ergebnis
des "Hitlerismus", aber auf einem Wege, der gerade nicht von der Person,
sondern von den ihr vorgegebenen und aus sie projizierten Erwartungen der Gesellschaft
ausgeht. Von solcher Perspektive her kann - ebenso wie von machtstrukturellen und
institutionengeschichtlichen Untersuchungen, bezogen auf die Form und "Vermittlung"
der "Führerherrschaft" - deutlich werden, daß unter wirkungsgeschichtlichem
Aspekt Hitler nicht als Person, sondern letzten Endes selbst als ein Art "Struktur"
verstanden werden muß. Die "Unperson", die in so gewaltigem Maße
Geschichte machte, zwingt dazu, nicht erst in erster Linie das Individuum Hitler,
sondern das ihm umgebende sozialpsychologische, propagandistische und institutionelle
Gefüge zum Forschungsgegenstand zu machen, wenn nicht nur Phänomenologisches
erfaßt werden soll. Demgegenüber wurde jede biographische Hitler-Forschung
dazu verleitet, von den Ursachen dieser Wirkung weit mehr in die Person Hitlers
hineinzuverlagern, als in ihr gewesen ist, dem Führer - nolens volens - posthum
zu geschichtlicher "Größe" zu verhelfen, damit aber zugleich
- wenn auch unwillentlich - die "gesamtgesellschaftliche" Zeitverantwortung
für den Hitler-Glauben, der der Person erst den gewaltigen Resonanzboden verschaffte,
abzuschwächen.
Bei alledem soll und kann nicht bestritten werden, daß der Verfassungszustand
derart war, daß die höchst individuellen ideologischen oder manischen
Fixierungen des Individuums Hitler spätestens ab 1941 zunehmend den politischen
Führungswillen des Dritten Reiches bestimmten. Aber unter dem Aspekt des gesellschaftlich
erzeugten Hitler-Mythos stellen sich die historischen Ursachen und Verantwortlichkeits-Verhältnisse
anders dar als bei Sebastian Haffner, der von seinem hitleristischen Ansatz her
zu der allzu einfachen Folgerung gelangt, daß das hauptsächliche Opfer
Hitlers das deutsche Volk gewesen sei. Geht man davon aus, daß die seit 1936
bei Hitler zunehmend zu registrierende Unfehlbarkeits-Selbsteinschätzung, der
Anfang seiner sich manisch steigernden Hybris, selbst in hohen Maße von außen
induziert war, daß Hitler - so könnte man in Umkehrung von Sebastian
Haffner zugespitzt sagen - selbst Opfer des ihm von der Propaganda und seinem Volk
angedichteten Führer-Mythos wurde, dann ergibt sich zwangsläufig ein anderes
Bild.
Der britische Autor dieser Schrift geht auf diese unvermeidlicherweise primär
deutsche zeitgeschichtliche Kontroverse selbst nicht ein, Seine Studie trägt
aber wesentlich dazu bei, die personalistische Form hitlerzentrischer Deutung kritisch
in Frage zu stellen, und weist neue Wege wirkungsgeschichtlicher Hitler-Forschung.
aus: Martin Brozat Nach Hitler S.119ff
Anmerkungen
1) J.P Stern, Der Führer und das Volk,
München 1978, S.12
2) Sebastian Haffner, Anmerkungen zu Hitler,
München 1978, S.8f
3) Golo Mann, Deutsche Geschichte des 19.
und 20. Jahrhunderts. Frankfurt 1958
4) Werner Maser, Adolf Hitler. Legende, Mythos,
Wirklichkeit. München 1970
5) David Irving, Hitler's War. London 1977
6) John Torland, Adolf Hitler. Bergisch Gladbach
1977
7) Joachim C. Fest, Hitler. Eine Biographie.
Berlin 1973, S.22
8) Ebenda S. 21f.
9) Ebenda S. 21.
10) Walter C. Langer, Das Adolf-Hitler-Psychogramm.
Eine Analyse seiner Person und seines Verhaltens, verfaßt 1934 für die
pschologische Kriegsführung der USA. Wien, München, Zürich 1972
11) Robert G. Waite, Adolf Hitler, teh Psychopatic
God. New York 1977
12) Rudolf Binion, "...daß ihr
mich gefunden habt". Hitler und die Deutschen. Ein Psychohistorie. Stuttgart
1978.
13) Vgl. Hans G. Gatzke, Hitler und Psychohistory.
In: American Historical Review 78 (1973), S. 394ff.
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Most recent revision: April 07, 1998
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Martin Blumentritt