Die "Multikulturelle" Gesellschaft Lebensform der Gegenwart
und Zukunft
Die ideologischen Grundlagen des völkischen Nationalismus wurden im ausgehenden
18. und beginnenden 19. Jahrhundert im deutschen Idealismus und der deutschen Romantik,
insbesondere von den Philosophen Herder, Fichte und Schelling, geschaffen. Der völkische
Nationalismus entwickelte seine vulkanische politische Kraft und Dynamik zuerst
in den Freiheitskriegen gegen Napoleon. Der Nationalismus der "französischen"
Republik hatte das Selbstbestimmungsrecht und den eigenständigen Rang der Kultur
und Sprache der deutschen Nachbarstaaten mißachtet und unterdrückt. In
der Reaktion auf den französischen Nationalismus und im Kampf um einen eigenen
Nationalstaat wurde der völkische Nationalismus zur Staatsideologie der Deutschen.
Er bildete die ideologische Grundlage der Reichsgründung Bismarcks und lieferte
den ideologischen Sprengsatz für die Zerstörung der Weimarer Republik
durch die Nationalsozialisten.
Im völkischen Nationalismus können nur die Angehörigen des Staatsvolks
und ihre Nachkommen wirklich vollberechtigte Staatsbürger sein. Da die Zugehörigkeit
zum Staatsvolk durch Abstammung, durch das "richtige" Blut, begründet
wird, ist im völkischen Nationalismus immanent eine rassistische Komponente
angelegt. Die Einwanderung und Einbürgerung von Menschen fremder Volkszugehörigkeit
sind mit der Idee der Volksnation nicht vereinbar. Eine Volksnation darf sich daher
nicht für die Einwanderung von "Fremden" öffnen und Einwanderungsland
werden.
Das politische Grundaxiom des völkischen Nationalismus ist die Einheit von
Volk und Staat. In der Nation wird diese Einheit verwirklicht. Alle Völker
- in der Praxis ist vor allem das je eigene Volk gemeint - haben das Anrecht auf
eine eigene staatliche Existenz in einem souveränen Staat. Vielvölkerstaaten
sind keine Nation - Träger einer Nation kann nur _ein_ Volk sein. Ein weiteres
Volk hat in der Nation keinen Platz. Vielvölkerstaat und Nation sind unvereinbare
Gegensätze. Dies war eine revolutionäre Vorstellung. Sie stand im Gegensatz
zu den überlieferten politischen Organisationsformen Europas. Politische Herrschaft
war bislang völkerübergreifend gewesen. Seit Alexander dem Großen,
von der Antike bis zu Neuzeit, waren alle bedeutenden Staaten Vielvölkergemeinschaften.
Gerade der bedeutende Fürst erhielt seinen Rang durch Herrschaft überzahlreiche
Völker. Nach Stephan dem Großen von Ungarn galt ein Reich mit nur einem
Volk und einer Sitte als schwach und zerbrechlich (16). Vor allem in Spanien und
Großbritannien finden sich noch in der Gegenwart Spuren der einstigen ethnischen
Vielfalt Europas. Daher wurden den Basken und Katalanen jetzt wieder politische
Autonomierechte eingeräumt. Im "Vereinigten Königreich von Großbritannien"
wird im Hotelgästebuch die Frage nach der Nationalität auch heute noch
nicht mit "britisch", sondern je nach Herkunft mit schottisch, englisch
oder walisisch beantwortet. Einem Deutschen fiele es sicher nicht ein, sich bei
der Anmeldung im Hotel unter der Rubrik "Nationalität" als Bayer,
Preuße oder Niedersachse einzutragen.
Ethnische Minderheiten haben im völkischen Nationalstaat kein Wohn- und Überlebensrecht.
Sie werden als Eindringlinge im nationalen Territorium, als Bedrohung der nationalen
Einheit und der Reinheit ihrer nationalen Volkskultur gesehen. Die völkischen
Nationalstaaten weisen daher in Vergangenheit und Gegenwart eine lange und ständig
neue Geschichte der Unterdrückung, Vertreibung oder sogar Vernichtung ethnischer
Minderheiten durch das jeweilige Staatsvolk auf. (...)
Der völkische Nationalismus fordert für alle Angehörigen des Volkes
das Recht, gemeinsam in einem Staat zu leben. Der deutsche Nationalismus war daher
von Anfang an alldeutsch. Volk und Staat mußten zur Deckung gebracht werden.
Alle Angehörigen des Staatsvolks sollten dem ethnischen Stammesstaat angehören.
Mit Ernst Moritz Arndt: "Was ist des deutschen Vaterland, ist's Preußenland,
ist's Schwabenland, ist's wo die deutsche Rebe blüht, ist's wo am Rhein die
Möve zieht? Oh nein, sein Vaterland muß größer sein.. so weit
die deutsche Zunge klingt... das ganze Deutschland soll es sein!"
Jedes Volk hat nach Johann Gottfried Herder eine eigene "genetische Individualität"
und Seele. Diese Seele, der "Volksgeist"(17), offenbart und konkretisiert
sich in der Volkssprache und Volkskultur. Sie bilden eine wesenhafte Einheit. Ihre
reinsten und von fremder Beimischung unverfälschten Formen finden sich bei
den Ahnen der Vorzeit, z.B. den Germanen und Ariern, den Urslawen oder Urtürken.
Daher muß die Volkssprache von Fremdwörtern gereinigt und die Volkskultur
von fremden Einflüssen befreit werden. Die nationalen Philologien, in Deutschland
die Germanistik, und die jeweilige Volkskunde, werden zu ideologischen Schlüsseldisziplinen.
Ihre Aufgabe ist es, den Volksgeist in Sprache und Kultur aufzuspüren und von
Überfremdung zu befreien. Altes Brauchtum muß geschützt und wiederbelebt
werden. Die politische Ordnung und die Rechtsgrundsätze müssen der Volksüberlieferung
entsprechen, die in der Vergangenheit "gefunden" wurde, in Wirklichkeit
aber immer nachträglich von Historikern und Philologen konstruiert worden war.
Fremdes Kulturgut kann nur übernommen oder geduldet werden, wenn es sich in
die eigene Volkskultur einfügt. So wurde vom Nationalsozialismus das eigentlich
artfremde Christentum nur in der Sondervariante der sich auf das Germanentum berufenden
"deutschen Christen" gerade noch toleriert.
Oberstes Ziel der Politik des Nationalismus ist die Sicherung der staatlichen Existenz
des Volkes und die Bewahrung seiner Sprache und Kultur. Sich in die Volksgemeinschaft
und in ihre Kultur einzufügen, ihr im Konfliktfall alle individuellen Interessen
und Ziele unterzuordnen, ja für sie in der Stunde der Gefahr das eigene Leben
zu opfern, wird zur moralischen Verpflichtung. Unrecht, das "der" Volksgemeinschaft,
dem großen kollektiven Über-Ich, in der Vergangenheit widerfahren ist,
soll geahndet, die Ehre der Nation muß wiederhergestellt werden. Ironisch
zitiert Heinrich Heine einen altdeutsch gewandeten Zecher im Bierkeller zu Göttingen:
"...daß man Rache an den Franzosen nehmen müsse für Konrad
von Staufen, den sie zu Neapel geköpft" (18). Nach der inneren Logik des
Nationalismus kann es Unrechtstaaten des eigenen Volkes an anderen Völkern
gar nicht geben. Da die Nation für das Gute schlechthin steht, sind auch für
den völkischen Nationalismus Verstöße gegen Lebensrechte anderer
Völker niemals Akte der eigenen Nation. Wie in der demokratischen Volksmystik
Rousseaus, nach der das Volk immer nur das Gute will, verbleibt im Nationalismus
die je eigene Nation und ihr politisches Wirken stets im Zustand der moralischen
Unschuld und Reinheit. Moralisches Unrecht an anderen Völkern wird immer nur
als Handlung einzelner gesehen, die mit der "wahren", der guten nationalen
Tradition unvereinbar ist und daher nicht mit ihr verbunden werden darf.
Das Recht und die kulturellen Werte sollen aus der Tradition des eigenen Volkes
abgeleitet werden. Wegen der Unterschiede zwischen den Völkern werden allgemein
gültige Menschenrechte abgelehnt. Mit der Berufung auf diffuse "nationale"
Werte koppelt sich der völkische Nationalismus von der westlichen Verfassungstradition
ab. So haben in neuerer Zeit afrikanischer Herrscher, darunter viele Repräsentanten
von Dracularegimen, immer wieder versucht, die eigenen, wenig humanen Verhaltensweisen
durch Berufung auf angeblich oder tatsächlich überlieferte Rechtstraditionen
ihre Völker ("peoples rights") zu rechtfertigen.
Das Volk bildet im ethnischen Nationalismus eine mystische überindividuelle
Gemeinschaft, die alle Generationen von den Anfängen in der Urzeit bis in die
Gegenwart umfaßt. Der einzelne wird in sie hineingeboren und kann sie nicht
verlassen. Auch als "Abtrünniger" gehört er ihr an und kann
von ihr zur Rechenschaft gezogen werden. Menschen deutschen Volkstums und deutscher
Sprache, die sich nicht in die politische Einheit des deutschen Nationalstaats einordnen
wollten, wie z.B. partikularistische Bayern, Welfen und Würtemberger oder die
Frankreich treugebliebenen Elsässer, hatten ein falsches Bewußtsein,
ja sie waren Verräter. Auslandsdeutsche waren verpflichtet, Deutsche zu bleiben,
und sollten bei Loyalitätskonflikten für die alte Heimat optieren. In
diesem Sinne wurde erst im Reichs- und Staatsangehörigkeit von 1913 die bis
dahin gültige Regelung des Verlustes der deutschen Staatsgehörigkeit nach
mehr als zehnjähriger Abwesenheit vom Reich aufgehoben. Deutsches Blut sollte
nicht durch Auswanderung verlorengehen. (19)
In der dem ethnischen Nationalismus eigenen Vorstellung einer seit Beginn der Geschichte
immer irgendwie vorhandenen, unsichtbaren, ewigen Gemeinschaft des Volkes äußert
sich eine säkularisierte Form christlicher Heilsgeschichte. So wie in der Civitas
Dei Augustins die Gemeinschaft der Gläubigen ihren Ursprung in der Unschuld
vor dem Sündenfall hat und sich zuletzt im neuen Gottesreich verwirklicht,
ist für den völkischen Nationalismus die ferne Vergangenheit der Zustand
der ursprünglichen Reinheit und Unschuld des Volkes. Nach vielen schicksalhaften
Verfolgungen kulminiert die Geschichte zuletzt im weltlichen Gottesreich des neuen
völkischen Nationalstaates.
(...)
Wie in allen Formen des Nationalismus wird gerade auch im völkischen Nationalismus
die nationale Staatsideologie durch Geschichtsklitterungen und Mythen untermauert.
Diese Klitterungen wurden im 19.Jahrhundert von der jeweiligen nationalen wissenschaftlichen
Geschichtsschreibung "produziert".
Im völkischen Nationalismus der Deutschen wurden sie zum Gemeingut der staatsbürgerlichen
Bildung und wirken noch heute nach. Sie wurden auch von der neueren deutschen Geschichtsschreibung,
die sich in einem restaurativen Streit über die Schuld oder Unschuld "der"
Deutschen verbiß, nur wenig aufgearbeitet. Die wissenschaftliche Geschichtsschreibung
und der Geschichtsunterricht analysieren und interpretieren immer noch die Geschichte
Deutschlands allzu isoliert für sich und ohne ihren europäischen und universalhistorischen
Kontext als "deutsche" Geschichte. Die Geschichte des geographischen Gebiets
Deutschland wird durch diesen Ausschluß äußerer Einwirkungen mehr
als zulässig eingedeutschte.
So wurde von der Geschichtswissenschaft im 19. Jahrhundert mit hohem intellektuellen
Aufwand eine quasi naturwüchsige und zwangsläufig lineare Kontinuität
der deutschen Geschichte von ihren Anfängen bei den Germanen bis zu ihrer Erfüllung
im Zweiten Deutschen Reich im nachhinein zurechtgestrickt. Der in Rom erzogene Cheruskerfürst
Arminius, "Hermann der Befreier", der Reformator Luther und Friedrich
der Große, "König von Preußen", der Französisch
sprach und schrieb., Deutsch hingegen nur radebrechen konnte, wurden zu Helden des
Kampfes um den deutschen Nationalstaat. Das Heilige Römische Reich Karl des
Großen und seine Nachfolger, das gerade in seiner Blütezeit ein Vielvölkerimperium
war, wurde zum ethnisch-deutschen Staat, zum heiligen Reich "deutscher"
Nation "verfälscht". Auf den Konzilien des 15. Jahrhunderts war die
Natio Germania noch ein kirchenrechtlicher Begriff für alle Völker gewesen,
die nicht der französischen, der italienischen oder der englischen Nation angehörten.
Zur Natio Germania gehörten also auch die Polen, Böhmen, Ungarn und Skandinavier
(20). Die Geschichte Preußens wurde zur Vorgeschichte des deutschen völkischen
Nationalstaats von 1871 zurechtgestutzt. Dabei wurde unter den Tisch gekehrt, daß
Preußen nach der dritten polnischen Teilung mehr polnische als deutsche Einwohner
hatte, daß noch 1812 der Aufruf des preußischen Königs "An
mein Volk..." in Deutsch, Sorbisch und Polnisch veröffentlicht, das preußische
Königreich in den Akten der Wiener Konferenz von 1815 als slawisches Königreich
bezeichnet worden war und im gleichen Jahr der preußische König seinen
polnischen Untertanen ausdrücklich das Recht auf Gebrauch der polnischen Sprache
vor Gericht und an den Schulen zugesichert hatte. Dieses Versprechen wurde nach
1871 im Zweiten Deutsches Reich nicht mehr eingehalten und zugunsten einer massiven
Germanisierungspolitik aufgegeben. Ein seiner Zeit weit vorauseilender Akt war auch
die Asylgewährung für die reformierten französischen Hugenotten im
lutherischen Preußen Friedrichs des Großen. Wegen der Schärfe der
damaligen konfessionellen Gegensätze zwischen Lutheranern und Reformierten
war die Aufnahme der Hugenotten in einem mehrheitlich lutherischen Staat ebenso
revolutionär, wie dies heute die Einladung größerer moslemischer
oder hinduistischer Volksgruppen zur Einwanderung in die Bundesrepublik wäre.
Friedrich der Große hat sich im übrigen um die Ansiedlung moslemischer
Tataren bemüht und seine Bereitschaft zum Bau von Moscheen bekundet.
Zur nationalen Mythologie des ethnischen deutschen Nationalismus gehörte nicht
zuletzt die mystische Überhöhung der von Martin Luther mit seiner sprachgewaltigen
Übersetzung der Bibel geschaffenen deutschen Nationalsprache zur Seele des
Deutschtums. Aus der sächsischen Kanzleisprache gebildet, wurde sie erst im
19. Jahrhundert durch Volksbildung und Mobilität als Nationalsprache durchgesetzt.
Erst dann war die sprachliche Kommunikation zwischen niederdeutschen Pommern und
süddeutschen Alemannen oder Bayern möglich.
Herder, der bedeutendste Philosophie der völkischen Ideologie, ging noch von
der naiven romantischen Vorstellung aus, alle Völker hätten in ihrer Urzeit
republikanische Ordnungen gehabt. Nach der Wiederbelebung ihrer Kulturen und Sprachen
würden sie zu republikanischen Verfassungen zurückfinden. Dann sei eine
dauerhafte friedliche Koexistenz der neuen republikanischen Volksstaaten naturwüchsig
vorgegeben. Er kritisierte zu Recht die Vorstellungen seiner Zeit, die angebliche
Überlegenheit europäischer Kulturen rechtfertige die Unterdrückung
und Ausbeutung nichteuropäischer Völker. Daher hat er als einer der ersten
in visionären Worten die Verbrechen des europäischen Kolonialismus gegeißelt:
"Was endlich von der Cultur zu sagen, die von Spaniern, Portugiesen, Engländern
und Holländern nach Ost- und Westindien, unter die Neger nach Afrika ...gebracht
ist? Schreien sie nicht alle diese Länder ...um Rache, da sie auf eine unübersehliche
Zeit in ein fortgehendes Verderben gestürzt sind...daß vielmehr, wenn
ein europäischer Gesamtgeist anderswo als in Büchern lebte, wir uns des
Verbrechens beleidigter Menschheit fast vor allen Völkern der Erde schämen
müßten."(21)
Die bei Herder angelegte Spannung zwischen der von ihm behaupteten genetischen Individualität
und normativen Vorbildlichkeit der Volkskulturen und ihren republikanischen, also
universellen Ursprüngen und Zielen wurde im völkischen Nationalismus immer
zugunsten der Individualität der Völker und ihre Werte als letzter moralischer
Instanz aufgelöst. Herders große Leistung, seine Kritik an der Überheblichkeit
der westlichen Völker und die Öffnung des Blicks für den möglichen
Reichtums anderer menschlicher Kulturen, wurde aufgehoben. Die Überheblichkeit
der westlichen Zivilisation wurde gegen die Überheblichkeit und den Egoismus
der neuen Nationalismen getauscht.
Schon Fichte opferte die republikanischen Grundrechtswerte dem Ziel eines starken
"national-völkischen" Staates. Seine Vorstellungen zur Erziehung
der Deutschen sind schreckliche Wahnideen eines totalitären völkischen
Jakobiners. Beim Hambacher Fest wurde 1832 von den Delegierten zwar eine republikanische
europäische Konföderation gefordert, gleichzeitig aber gegen den wütenden
Widerspruch der "amis du peuple" Straßburgs der Anschluß Elsaß-Lothringens
an das zukünftige Deutsche Reich gefordert. (22) Die "großdeutsche
Lösung" von 1848 scheiterte letztlich, weil die Deutschen und die Völker
Österreich-Ungarns, vom ethnischen Nationalismus erfaßt, sich nicht mehr
in einer politischen Union zu vereinigen vermochten. Der übernationale Reichsgedanke
war tot. Er war ebenso wie das weltbürgerliche Denken der Aufklärung in
Deutschland nicht mehr politisch gestaltungsfähig. Nunmehr erlahmten auch die
demokratisch- republikanischen Kräfte des deutschen Nationalismus. Ursprünglich
hatten viele vom deutschen Volksstaat die Beseitigung der Fürstenherrschaft
und die Herstellung einer republikanischen inneren Ordnung erhofft. Nachdem der
deutsche Volksstaat in Bismarcks kleindeutschen Reich 1870/71 von den Mächten
der alten Ordnung "mit Blut und Eisen" verwirklicht worden war, schlug
die innere Logik des völkischen Nationalismus auch auf die Vorstellungen über
die innere Ordnung der Volksnation durch. Einheit und Stärke, die Überlegenheit
und das Überlebensrecht des eigenen Volkes gegenüber anderen Völkern
bildeten nun zunehmend den alleinigen inneren Kern der Inhalte und Ziele der Volksnation.
Mit dieser Idee der Nation wurden die gedanklichen Voraussetzungen für den
weiteren Verlauf der deutschen Geschichte geschaffen. Die Idee der Republik, die
rechtliche und politische Gleichheit der Menschen, wurde als westliches und artfremdes,
nichtdeutsches Gedankengut diffamiert.
Die Rezeption des völkischen Nationalismus in Nord-, Ost-, Südosteuropa
und Asien wurde schon erwähnt. In allen Fällen ist die direkte oder indirekte
Verbindung zur deutschen Romantik und vor allen zu Johann Gottfried Herder nachweisbar.
Für die begeisterte Aufnahme seiner Gedanken unter den slawischen Völker
und ihre politische Verarbeitung in virulenten Formen des Nationalismus waren seine
lobenden Worte über die Slawen von Bedeutung. Nach Herder waren die Slawen
ursprünglicher und weniger verbraucht als die barbarischen und kriegerischen
Germanen. Bassam Tibi, der deutsche Politologe syrischer Herkunft, und andere haben
gezeigt, daß auch die geistigen Väter des säkularen arabischen Nationalismus
von den Ideen Herders genährt wurden. Dies gilt ebenso für den Vater des
pakistanischen Nationalismus, Ikbal, der die deutsche Romantik bei seinem Studium
in Deutschland kennengelernt hatte. Für die Entstehung des hinduistischen arischen
Nationalismus Indiens waren auch für den singhalesisch-buddhistischen Nationalismus
die über die wissenschaftliche Indologie vermittelten Impulsen der deutschen
Romantik wichtig. (23)
Die Fähigkeit der nationalen Geschichtswissenschaften zur Vereinfachung komplexer
historischer Zusammenhänge, ihre Heroisierung des angeblich uralten Kampfes
um völkisch-nationale Unabhängigkeit waren die Leistungen der deutschen
völkischen Historie in jeder Hinsicht ebenbürtig. Von der polnischen Geschichtschreibung
wurde eine fugenlose Abfolge des Kampfes des polnischen Volkes um seine Unabhängigkeit
und Identität von der Urzeit bis in die Gegenwart konstruiert. Ob die schlesischen
Herzöge, Kopernikus und Veit Stoß Deutsche oder Polen waren, wurde für
Polen ebenso wichtig wie für die deutsch-nationale Geschichtsschreibung. Der
deutsche Orden wurde dämonisiert. Die Leistungen der deutschen Einwanderung
im polnischen Großreich, vor allem die Gründung von Städten, deren
Bürger schon im Spätmittelalter Polen geworden waren, wurden als gescheiterte
Germanisierung einseitig negativ bewertet. Vergessen wurde, daß Polen kein
nationalpolnischer, sondern ein Feudalreich war, in dem viele Nationen Heimatrecht
hatten und das sich zudem, wie der Zuzug von Juden aus Deutschland zeigt, durch
ein hohes Maß ethnischer und kultureller Toleranz auszeichnete. In der Auseinandersetzung
mit dem deutsch-nationalen Protestantismus Preußens aber wurde Gott im 19.
Jahrhunderts immer ausschließlich zu einem katholischen Hausgott von Polen.
Die vom polnischen Nationalstaat gewünschten Grenzen wurden nach den Grenzen
des alten polnisch-litauischen Vielvölker-Großreichs gezogen. Das Muster
der völkischen Geschichtsschreibung der Deutschen und Polen findet sich deckungsgleich
in der ungarischen und tschechischen oder auch in der Geschichtsschreibung aller
anderen sich völkisch-ethnisch legitimierten Nationalstaaten. Die Geschichte
des ungarischen Vielvölkerreichs, das von ungarischen Magnaten zusammengehalten
worden war, wurde im nachhinein zu einer Geschichte des ungarischen Volkes verfälscht.
Viele Jahrhunderte friedlicher und fruchtbarer Koexistenz von Tschechen und Deutschen
unter der böhmischen Krone im Mittelalter wurden von der tschechischen Geschichtsschreibung
als Beginn der Unterdrückung "des" tschechisischen Volkes durch "die"
Deutschen interpretiert. Beiträge der Deutschen zur Kultur des Königreichs
Böhmens wurde geleugnet oder als angebliche Entfremdung der Tschechen von "ihrer"
Kultur negativ bewertet. Der religiöse Reformator Jan Huß wurde in der
tschechischen Geschichtsschreibung nach dem Strickmuster der völkischen Romantik
des 19. Jahrhunderts als Gründer der tschechischen Nation dargestellt. Vergessen
wurde dabei, daß es auch unter den Deutschen der böhmischen Krone eine
Hussitische Gemeinde gab, die mährische Kirche, aus der sich später die
Herrenhutter Gemeinde bildete. Weiteres Anschauungsmaterial für die schiefen
Geschichtsbilder des völkischen Nationalismus liefert der säkulare kemalistische
Nationalismus. Ideologien des türkischen Kemalismus behaupteten ernstlich,
Anatolien sei die Urheimat der Turkvölker und die indogermanischen Hethiter
Anatolien seine Türken gewesen.
Da sich nach der Ideologie des völkischen Nationalismus der Volksgeist in der
eigenen Volkssprache und Volkskultur ausdrückt, mußte in vielen Fällen
eine eigene Sprache erst aus älteren Sprachdokumenten und Dialekten gebildet
werden. Etwa die baltischen Sprachen und das Tschechische wurden gegen Ende des
18. Jahrhunderts nur noch in Dialektform von bäuerlichen Unterschieden oder
vom Dienstpersonal des Adels und des Bürgertums in den Städten gesprochen.
Sie mußten wiederbelebt und über die Volksschulen verbreitet werden.
Durch Vereinfachung der längst gestorbenem griechischen Sprache aus der Zeit
des Hellenismus und des Byzantinischen Reiches sowie durch Anleihen aus heutigen
Dialekten schufen nach der Unabhängigkeit Griechenlands bayerische Wittelsbachers,
das von der Bevölkerung Griechenlands gar nicht verstandene Neugriechisch.
Über staatliche Anweisung wurde es zur Amtssprache gemacht. In der Türkei
säuberten die Jungtürken die osmanische Hofsprache von persischen oder
arabischen Einflüssen. Fehlendes Vokabular wurde durch Anleihen bei anderen
Turksprachen ersetzt. Die osmanische Sprache in lateinischen Buchstaben geschrieben.
Die neu geschaffene türkische Sprache wurde damit gegen die Vergangenheit,
die Zeit der "Überfremdung" durch das Persische und Arabische, abgeschottet.
Von den Zionisten wurde aus dem Hebräischen des Alten Testaments eine auch
für die moderne Wissenschaft und Lebenswelt brauchbare "neuhebräische"
Sprache geschaffen.
Schriftsteller mußten für die neuen Sprachen die noch fehlende Literatur
erstellen. Auch andere Bereiche der Kunst, vor allem die Musik, wurden für
die Erschaffung der Nation dienstverpflichtet. Die Volkskunde, die die Märchen
und Überlieferungen der Volkskultur sammelte, erhielt überall einen hohen
politischen Stellenwert. Neben Unmengen nationalen Klischees wurden zweifellos auch
bedeutende Kunstwerke geschaffen. Künstlerischen Rang erhielten diese jedoch
gerade dann, wenn sie nicht nur die eigenen Volksangehörigen ansprachen, sondern
mit Goethe, der heute als großer Humanist der deutschen Klassik von vielen
vergessen ist, das "allgemein Menschliche" ausdrückten und dadurch
auch bei Menschen fremder Völker und Kulturen Resonanz fanden. Wie bei den
deutschen Volksmärchen und anderen angeblich kulturellen Ausdrucksformen des
Volksgeistes hat die vergleichende Kulturforschung inzwischen überreiche Belege
dafür gesammelt, daß es sich bei den auch von anderen Nationalismen reklamierten
Volkssagen und Volksgütern meist nicht um Eigenprodukte der Volksseele, sondern
um Überlieferungen handelte, die von Kultur zu Kultur gewandert oder aus der
Hochkultur in Unterschichten abgesunken waren.
aus: Dieter Oberndörfer, Der Wahn des Nationalen 34ff, (Herder Freiburg Basel
Wien; 14,80 DM)
[ Top | Zurück
]
Most recent revision: April 07, 1998
E-MAIL:
Martin Blumentritt