Die "Multikulturelle" Gesellschaft Lebensform der Gegenwart und Zukunft

Die ideologischen Grundlagen des völkischen Nationalismus wurden im ausgehenden 18. und beginnenden 19. Jahrhundert im deutschen Idealismus und der deutschen Romantik, insbesondere von den Philosophen Herder, Fichte und Schelling, geschaffen. Der völkische Nationalismus entwickelte seine vulkanische politische Kraft und Dynamik zuerst in den Freiheitskriegen gegen Napoleon. Der Nationalismus der "französischen" Republik hatte das Selbstbestimmungsrecht und den eigenständigen Rang der Kultur und Sprache der deutschen Nachbarstaaten mißachtet und unterdrückt. In der Reaktion auf den französischen Nationalismus und im Kampf um einen eigenen Nationalstaat wurde der völkische Nationalismus zur Staatsideologie der Deutschen. Er bildete die ideologische Grundlage der Reichsgründung Bismarcks und lieferte den ideologischen Sprengsatz für die Zerstörung der Weimarer Republik durch die Nationalsozialisten.
Im völkischen Nationalismus können nur die Angehörigen des Staatsvolks und ihre Nachkommen wirklich vollberechtigte Staatsbürger sein. Da die Zugehörigkeit zum Staatsvolk durch Abstammung, durch das "richtige" Blut, begründet wird, ist im völkischen Nationalismus immanent eine rassistische Komponente angelegt. Die Einwanderung und Einbürgerung von Menschen fremder Volkszugehörigkeit sind mit der Idee der Volksnation nicht vereinbar. Eine Volksnation darf sich daher nicht für die Einwanderung von "Fremden" öffnen und Einwanderungsland werden.
Das politische Grundaxiom des völkischen Nationalismus ist die Einheit von Volk und Staat. In der Nation wird diese Einheit verwirklicht. Alle Völker - in der Praxis ist vor allem das je eigene Volk gemeint - haben das Anrecht auf eine eigene staatliche Existenz in einem souveränen Staat. Vielvölkerstaaten sind keine Nation - Träger einer Nation kann nur _ein_ Volk sein. Ein weiteres Volk hat in der Nation keinen Platz. Vielvölkerstaat und Nation sind unvereinbare Gegensätze. Dies war eine revolutionäre Vorstellung. Sie stand im Gegensatz zu den überlieferten politischen Organisationsformen Europas. Politische Herrschaft war bislang völkerübergreifend gewesen. Seit Alexander dem Großen, von der Antike bis zu Neuzeit, waren alle bedeutenden Staaten Vielvölkergemeinschaften. Gerade der bedeutende Fürst erhielt seinen Rang durch Herrschaft überzahlreiche Völker. Nach Stephan dem Großen von Ungarn galt ein Reich mit nur einem Volk und einer Sitte als schwach und zerbrechlich (16). Vor allem in Spanien und Großbritannien finden sich noch in der Gegenwart Spuren der einstigen ethnischen Vielfalt Europas. Daher wurden den Basken und Katalanen jetzt wieder politische Autonomierechte eingeräumt. Im "Vereinigten Königreich von Großbritannien" wird im Hotelgästebuch die Frage nach der Nationalität auch heute noch nicht mit "britisch", sondern je nach Herkunft mit schottisch, englisch oder walisisch beantwortet. Einem Deutschen fiele es sicher nicht ein, sich bei der Anmeldung im Hotel unter der Rubrik "Nationalität" als Bayer, Preuße oder Niedersachse einzutragen.
Ethnische Minderheiten haben im völkischen Nationalstaat kein Wohn- und Überlebensrecht. Sie werden als Eindringlinge im nationalen Territorium, als Bedrohung der nationalen Einheit und der Reinheit ihrer nationalen Volkskultur gesehen. Die völkischen Nationalstaaten weisen daher in Vergangenheit und Gegenwart eine lange und ständig neue Geschichte der Unterdrückung, Vertreibung oder sogar Vernichtung ethnischer Minderheiten durch das jeweilige Staatsvolk auf. (...)
Der völkische Nationalismus fordert für alle Angehörigen des Volkes das Recht, gemeinsam in einem Staat zu leben. Der deutsche Nationalismus war daher von Anfang an alldeutsch. Volk und Staat mußten zur Deckung gebracht werden. Alle Angehörigen des Staatsvolks sollten dem ethnischen Stammesstaat angehören. Mit Ernst Moritz Arndt: "Was ist des deutschen Vaterland, ist's Preußenland, ist's Schwabenland, ist's wo die deutsche Rebe blüht, ist's wo am Rhein die Möve zieht? Oh nein, sein Vaterland muß größer sein.. so weit die deutsche Zunge klingt... das ganze Deutschland soll es sein!"
Jedes Volk hat nach Johann Gottfried Herder eine eigene "genetische Individualität" und Seele. Diese Seele, der "Volksgeist"(17), offenbart und konkretisiert sich in der Volkssprache und Volkskultur. Sie bilden eine wesenhafte Einheit. Ihre reinsten und von fremder Beimischung unverfälschten Formen finden sich bei den Ahnen der Vorzeit, z.B. den Germanen und Ariern, den Urslawen oder Urtürken. Daher muß die Volkssprache von Fremdwörtern gereinigt und die Volkskultur von fremden Einflüssen befreit werden. Die nationalen Philologien, in Deutschland die Germanistik, und die jeweilige Volkskunde, werden zu ideologischen Schlüsseldisziplinen. Ihre Aufgabe ist es, den Volksgeist in Sprache und Kultur aufzuspüren und von Überfremdung zu befreien. Altes Brauchtum muß geschützt und wiederbelebt werden. Die politische Ordnung und die Rechtsgrundsätze müssen der Volksüberlieferung entsprechen, die in der Vergangenheit "gefunden" wurde, in Wirklichkeit aber immer nachträglich von Historikern und Philologen konstruiert worden war. Fremdes Kulturgut kann nur übernommen oder geduldet werden, wenn es sich in die eigene Volkskultur einfügt. So wurde vom Nationalsozialismus das eigentlich artfremde Christentum nur in der Sondervariante der sich auf das Germanentum berufenden "deutschen Christen" gerade noch toleriert.
Oberstes Ziel der Politik des Nationalismus ist die Sicherung der staatlichen Existenz des Volkes und die Bewahrung seiner Sprache und Kultur. Sich in die Volksgemeinschaft und in ihre Kultur einzufügen, ihr im Konfliktfall alle individuellen Interessen und Ziele unterzuordnen, ja für sie in der Stunde der Gefahr das eigene Leben zu opfern, wird zur moralischen Verpflichtung. Unrecht, das "der" Volksgemeinschaft, dem großen kollektiven Über-Ich, in der Vergangenheit widerfahren ist, soll geahndet, die Ehre der Nation muß wiederhergestellt werden. Ironisch zitiert Heinrich Heine einen altdeutsch gewandeten Zecher im Bierkeller zu Göttingen: "...daß man Rache an den Franzosen nehmen müsse für Konrad von Staufen, den sie zu Neapel geköpft" (18). Nach der inneren Logik des Nationalismus kann es Unrechtstaaten des eigenen Volkes an anderen Völkern gar nicht geben. Da die Nation für das Gute schlechthin steht, sind auch für den völkischen Nationalismus Verstöße gegen Lebensrechte anderer Völker niemals Akte der eigenen Nation. Wie in der demokratischen Volksmystik Rousseaus, nach der das Volk immer nur das Gute will, verbleibt im Nationalismus die je eigene Nation und ihr politisches Wirken stets im Zustand der moralischen Unschuld und Reinheit. Moralisches Unrecht an anderen Völkern wird immer nur als Handlung einzelner gesehen, die mit der "wahren", der guten nationalen Tradition unvereinbar ist und daher nicht mit ihr verbunden werden darf.
Das Recht und die kulturellen Werte sollen aus der Tradition des eigenen Volkes abgeleitet werden. Wegen der Unterschiede zwischen den Völkern werden allgemein gültige Menschenrechte abgelehnt. Mit der Berufung auf diffuse "nationale" Werte koppelt sich der völkische Nationalismus von der westlichen Verfassungstradition ab. So haben in neuerer Zeit afrikanischer Herrscher, darunter viele Repräsentanten von Dracularegimen, immer wieder versucht, die eigenen, wenig humanen Verhaltensweisen durch Berufung auf angeblich oder tatsächlich überlieferte Rechtstraditionen ihre Völker ("peoples rights") zu rechtfertigen.
Das Volk bildet im ethnischen Nationalismus eine mystische überindividuelle Gemeinschaft, die alle Generationen von den Anfängen in der Urzeit bis in die Gegenwart umfaßt. Der einzelne wird in sie hineingeboren und kann sie nicht verlassen. Auch als "Abtrünniger" gehört er ihr an und kann von ihr zur Rechenschaft gezogen werden. Menschen deutschen Volkstums und deutscher Sprache, die sich nicht in die politische Einheit des deutschen Nationalstaats einordnen wollten, wie z.B. partikularistische Bayern, Welfen und Würtemberger oder die Frankreich treugebliebenen Elsässer, hatten ein falsches Bewußtsein, ja sie waren Verräter. Auslandsdeutsche waren verpflichtet, Deutsche zu bleiben, und sollten bei Loyalitätskonflikten für die alte Heimat optieren. In diesem Sinne wurde erst im Reichs- und Staatsangehörigkeit von 1913 die bis dahin gültige Regelung des Verlustes der deutschen Staatsgehörigkeit nach mehr als zehnjähriger Abwesenheit vom Reich aufgehoben. Deutsches Blut sollte nicht durch Auswanderung verlorengehen. (19)
In der dem ethnischen Nationalismus eigenen Vorstellung einer seit Beginn der Geschichte immer irgendwie vorhandenen, unsichtbaren, ewigen Gemeinschaft des Volkes äußert sich eine säkularisierte Form christlicher Heilsgeschichte. So wie in der Civitas Dei Augustins die Gemeinschaft der Gläubigen ihren Ursprung in der Unschuld vor dem Sündenfall hat und sich zuletzt im neuen Gottesreich verwirklicht, ist für den völkischen Nationalismus die ferne Vergangenheit der Zustand der ursprünglichen Reinheit und Unschuld des Volkes. Nach vielen schicksalhaften Verfolgungen kulminiert die Geschichte zuletzt im weltlichen Gottesreich des neuen völkischen Nationalstaates.
(...)
Wie in allen Formen des Nationalismus wird gerade auch im völkischen Nationalismus die nationale Staatsideologie durch Geschichtsklitterungen und Mythen untermauert. Diese Klitterungen wurden im 19.Jahrhundert von der jeweiligen nationalen wissenschaftlichen Geschichtsschreibung "produziert".
Im völkischen Nationalismus der Deutschen wurden sie zum Gemeingut der staatsbürgerlichen Bildung und wirken noch heute nach. Sie wurden auch von der neueren deutschen Geschichtsschreibung, die sich in einem restaurativen Streit über die Schuld oder Unschuld "der" Deutschen verbiß, nur wenig aufgearbeitet. Die wissenschaftliche Geschichtsschreibung und der Geschichtsunterricht analysieren und interpretieren immer noch die Geschichte Deutschlands allzu isoliert für sich und ohne ihren europäischen und universalhistorischen Kontext als "deutsche" Geschichte. Die Geschichte des geographischen Gebiets Deutschland wird durch diesen Ausschluß äußerer Einwirkungen mehr als zulässig eingedeutschte.
So wurde von der Geschichtswissenschaft im 19. Jahrhundert mit hohem intellektuellen Aufwand eine quasi naturwüchsige und zwangsläufig lineare Kontinuität der deutschen Geschichte von ihren Anfängen bei den Germanen bis zu ihrer Erfüllung im Zweiten Deutschen Reich im nachhinein zurechtgestrickt. Der in Rom erzogene Cheruskerfürst Arminius, "Hermann der Befreier", der Reformator Luther und Friedrich der Große, "König von Preußen", der Französisch sprach und schrieb., Deutsch hingegen nur radebrechen konnte, wurden zu Helden des Kampfes um den deutschen Nationalstaat. Das Heilige Römische Reich Karl des Großen und seine Nachfolger, das gerade in seiner Blütezeit ein Vielvölkerimperium war, wurde zum ethnisch-deutschen Staat, zum heiligen Reich "deutscher" Nation "verfälscht". Auf den Konzilien des 15. Jahrhunderts war die Natio Germania noch ein kirchenrechtlicher Begriff für alle Völker gewesen, die nicht der französischen, der italienischen oder der englischen Nation angehörten. Zur Natio Germania gehörten also auch die Polen, Böhmen, Ungarn und Skandinavier (20). Die Geschichte Preußens wurde zur Vorgeschichte des deutschen völkischen Nationalstaats von 1871 zurechtgestutzt. Dabei wurde unter den Tisch gekehrt, daß Preußen nach der dritten polnischen Teilung mehr polnische als deutsche Einwohner hatte, daß noch 1812 der Aufruf des preußischen Königs "An mein Volk..." in Deutsch, Sorbisch und Polnisch veröffentlicht, das preußische Königreich in den Akten der Wiener Konferenz von 1815 als slawisches Königreich bezeichnet worden war und im gleichen Jahr der preußische König seinen polnischen Untertanen ausdrücklich das Recht auf Gebrauch der polnischen Sprache vor Gericht und an den Schulen zugesichert hatte. Dieses Versprechen wurde nach 1871 im Zweiten Deutsches Reich nicht mehr eingehalten und zugunsten einer massiven Germanisierungspolitik aufgegeben. Ein seiner Zeit weit vorauseilender Akt war auch die Asylgewährung für die reformierten französischen Hugenotten im lutherischen Preußen Friedrichs des Großen. Wegen der Schärfe der damaligen konfessionellen Gegensätze zwischen Lutheranern und Reformierten war die Aufnahme der Hugenotten in einem mehrheitlich lutherischen Staat ebenso revolutionär, wie dies heute die Einladung größerer moslemischer oder hinduistischer Volksgruppen zur Einwanderung in die Bundesrepublik wäre. Friedrich der Große hat sich im übrigen um die Ansiedlung moslemischer Tataren bemüht und seine Bereitschaft zum Bau von Moscheen bekundet.
Zur nationalen Mythologie des ethnischen deutschen Nationalismus gehörte nicht zuletzt die mystische Überhöhung der von Martin Luther mit seiner sprachgewaltigen Übersetzung der Bibel geschaffenen deutschen Nationalsprache zur Seele des Deutschtums. Aus der sächsischen Kanzleisprache gebildet, wurde sie erst im 19. Jahrhundert durch Volksbildung und Mobilität als Nationalsprache durchgesetzt. Erst dann war die sprachliche Kommunikation zwischen niederdeutschen Pommern und süddeutschen Alemannen oder Bayern möglich.
Herder, der bedeutendste Philosophie der völkischen Ideologie, ging noch von der naiven romantischen Vorstellung aus, alle Völker hätten in ihrer Urzeit republikanische Ordnungen gehabt. Nach der Wiederbelebung ihrer Kulturen und Sprachen würden sie zu republikanischen Verfassungen zurückfinden. Dann sei eine dauerhafte friedliche Koexistenz der neuen republikanischen Volksstaaten naturwüchsig vorgegeben. Er kritisierte zu Recht die Vorstellungen seiner Zeit, die angebliche Überlegenheit europäischer Kulturen rechtfertige die Unterdrückung und Ausbeutung nichteuropäischer Völker. Daher hat er als einer der ersten in visionären Worten die Verbrechen des europäischen Kolonialismus gegeißelt: "Was endlich von der Cultur zu sagen, die von Spaniern, Portugiesen, Engländern und Holländern nach Ost- und Westindien, unter die Neger nach Afrika ...gebracht ist? Schreien sie nicht alle diese Länder ...um Rache, da sie auf eine unübersehliche Zeit in ein fortgehendes Verderben gestürzt sind...daß vielmehr, wenn ein europäischer Gesamtgeist anderswo als in Büchern lebte, wir uns des Verbrechens beleidigter Menschheit fast vor allen Völkern der Erde schämen müßten."(21)
Die bei Herder angelegte Spannung zwischen der von ihm behaupteten genetischen Individualität und normativen Vorbildlichkeit der Volkskulturen und ihren republikanischen, also universellen Ursprüngen und Zielen wurde im völkischen Nationalismus immer zugunsten der Individualität der Völker und ihre Werte als letzter moralischer Instanz aufgelöst. Herders große Leistung, seine Kritik an der Überheblichkeit der westlichen Völker und die Öffnung des Blicks für den möglichen Reichtums anderer menschlicher Kulturen, wurde aufgehoben. Die Überheblichkeit der westlichen Zivilisation wurde gegen die Überheblichkeit und den Egoismus der neuen Nationalismen getauscht.
Schon Fichte opferte die republikanischen Grundrechtswerte dem Ziel eines starken "national-völkischen" Staates. Seine Vorstellungen zur Erziehung der Deutschen sind schreckliche Wahnideen eines totalitären völkischen Jakobiners. Beim Hambacher Fest wurde 1832 von den Delegierten zwar eine republikanische europäische Konföderation gefordert, gleichzeitig aber gegen den wütenden Widerspruch der "amis du peuple" Straßburgs der Anschluß Elsaß-Lothringens an das zukünftige Deutsche Reich gefordert. (22) Die "großdeutsche Lösung" von 1848 scheiterte letztlich, weil die Deutschen und die Völker Österreich-Ungarns, vom ethnischen Nationalismus erfaßt, sich nicht mehr in einer politischen Union zu vereinigen vermochten. Der übernationale Reichsgedanke war tot. Er war ebenso wie das weltbürgerliche Denken der Aufklärung in Deutschland nicht mehr politisch gestaltungsfähig. Nunmehr erlahmten auch die demokratisch- republikanischen Kräfte des deutschen Nationalismus. Ursprünglich hatten viele vom deutschen Volksstaat die Beseitigung der Fürstenherrschaft und die Herstellung einer republikanischen inneren Ordnung erhofft. Nachdem der deutsche Volksstaat in Bismarcks kleindeutschen Reich 1870/71 von den Mächten der alten Ordnung "mit Blut und Eisen" verwirklicht worden war, schlug die innere Logik des völkischen Nationalismus auch auf die Vorstellungen über die innere Ordnung der Volksnation durch. Einheit und Stärke, die Überlegenheit und das Überlebensrecht des eigenen Volkes gegenüber anderen Völkern bildeten nun zunehmend den alleinigen inneren Kern der Inhalte und Ziele der Volksnation. Mit dieser Idee der Nation wurden die gedanklichen Voraussetzungen für den weiteren Verlauf der deutschen Geschichte geschaffen. Die Idee der Republik, die rechtliche und politische Gleichheit der Menschen, wurde als westliches und artfremdes, nichtdeutsches Gedankengut diffamiert.
Die Rezeption des völkischen Nationalismus in Nord-, Ost-, Südosteuropa und Asien wurde schon erwähnt. In allen Fällen ist die direkte oder indirekte Verbindung zur deutschen Romantik und vor allen zu Johann Gottfried Herder nachweisbar. Für die begeisterte Aufnahme seiner Gedanken unter den slawischen Völker und ihre politische Verarbeitung in virulenten Formen des Nationalismus waren seine lobenden Worte über die Slawen von Bedeutung. Nach Herder waren die Slawen ursprünglicher und weniger verbraucht als die barbarischen und kriegerischen Germanen. Bassam Tibi, der deutsche Politologe syrischer Herkunft, und andere haben gezeigt, daß auch die geistigen Väter des säkularen arabischen Nationalismus von den Ideen Herders genährt wurden. Dies gilt ebenso für den Vater des pakistanischen Nationalismus, Ikbal, der die deutsche Romantik bei seinem Studium in Deutschland kennengelernt hatte. Für die Entstehung des hinduistischen arischen Nationalismus Indiens waren auch für den singhalesisch-buddhistischen Nationalismus die über die wissenschaftliche Indologie vermittelten Impulsen der deutschen Romantik wichtig. (23)
Die Fähigkeit der nationalen Geschichtswissenschaften zur Vereinfachung komplexer historischer Zusammenhänge, ihre Heroisierung des angeblich uralten Kampfes um völkisch-nationale Unabhängigkeit waren die Leistungen der deutschen völkischen Historie in jeder Hinsicht ebenbürtig. Von der polnischen Geschichtschreibung wurde eine fugenlose Abfolge des Kampfes des polnischen Volkes um seine Unabhängigkeit und Identität von der Urzeit bis in die Gegenwart konstruiert. Ob die schlesischen Herzöge, Kopernikus und Veit Stoß Deutsche oder Polen waren, wurde für Polen ebenso wichtig wie für die deutsch-nationale Geschichtsschreibung. Der deutsche Orden wurde dämonisiert. Die Leistungen der deutschen Einwanderung im polnischen Großreich, vor allem die Gründung von Städten, deren Bürger schon im Spätmittelalter Polen geworden waren, wurden als gescheiterte Germanisierung einseitig negativ bewertet. Vergessen wurde, daß Polen kein nationalpolnischer, sondern ein Feudalreich war, in dem viele Nationen Heimatrecht hatten und das sich zudem, wie der Zuzug von Juden aus Deutschland zeigt, durch ein hohes Maß ethnischer und kultureller Toleranz auszeichnete. In der Auseinandersetzung mit dem deutsch-nationalen Protestantismus Preußens aber wurde Gott im 19. Jahrhunderts immer ausschließlich zu einem katholischen Hausgott von Polen. Die vom polnischen Nationalstaat gewünschten Grenzen wurden nach den Grenzen des alten polnisch-litauischen Vielvölker-Großreichs gezogen. Das Muster der völkischen Geschichtsschreibung der Deutschen und Polen findet sich deckungsgleich in der ungarischen und tschechischen oder auch in der Geschichtsschreibung aller anderen sich völkisch-ethnisch legitimierten Nationalstaaten. Die Geschichte des ungarischen Vielvölkerreichs, das von ungarischen Magnaten zusammengehalten worden war, wurde im nachhinein zu einer Geschichte des ungarischen Volkes verfälscht. Viele Jahrhunderte friedlicher und fruchtbarer Koexistenz von Tschechen und Deutschen unter der böhmischen Krone im Mittelalter wurden von der tschechischen Geschichtsschreibung als Beginn der Unterdrückung "des" tschechisischen Volkes durch "die" Deutschen interpretiert. Beiträge der Deutschen zur Kultur des Königreichs Böhmens wurde geleugnet oder als angebliche Entfremdung der Tschechen von "ihrer" Kultur negativ bewertet. Der religiöse Reformator Jan Huß wurde in der tschechischen Geschichtsschreibung nach dem Strickmuster der völkischen Romantik des 19. Jahrhunderts als Gründer der tschechischen Nation dargestellt. Vergessen wurde dabei, daß es auch unter den Deutschen der böhmischen Krone eine Hussitische Gemeinde gab, die mährische Kirche, aus der sich später die Herrenhutter Gemeinde bildete. Weiteres Anschauungsmaterial für die schiefen Geschichtsbilder des völkischen Nationalismus liefert der säkulare kemalistische Nationalismus. Ideologien des türkischen Kemalismus behaupteten ernstlich, Anatolien sei die Urheimat der Turkvölker und die indogermanischen Hethiter Anatolien seine Türken gewesen.
Da sich nach der Ideologie des völkischen Nationalismus der Volksgeist in der eigenen Volkssprache und Volkskultur ausdrückt, mußte in vielen Fällen eine eigene Sprache erst aus älteren Sprachdokumenten und Dialekten gebildet werden. Etwa die baltischen Sprachen und das Tschechische wurden gegen Ende des 18. Jahrhunderts nur noch in Dialektform von bäuerlichen Unterschieden oder vom Dienstpersonal des Adels und des Bürgertums in den Städten gesprochen. Sie mußten wiederbelebt und über die Volksschulen verbreitet werden. Durch Vereinfachung der längst gestorbenem griechischen Sprache aus der Zeit des Hellenismus und des Byzantinischen Reiches sowie durch Anleihen aus heutigen Dialekten schufen nach der Unabhängigkeit Griechenlands bayerische Wittelsbachers, das von der Bevölkerung Griechenlands gar nicht verstandene Neugriechisch. Über staatliche Anweisung wurde es zur Amtssprache gemacht. In der Türkei säuberten die Jungtürken die osmanische Hofsprache von persischen oder arabischen Einflüssen. Fehlendes Vokabular wurde durch Anleihen bei anderen Turksprachen ersetzt. Die osmanische Sprache in lateinischen Buchstaben geschrieben. Die neu geschaffene türkische Sprache wurde damit gegen die Vergangenheit, die Zeit der "Überfremdung" durch das Persische und Arabische, abgeschottet. Von den Zionisten wurde aus dem Hebräischen des Alten Testaments eine auch für die moderne Wissenschaft und Lebenswelt brauchbare "neuhebräische" Sprache geschaffen.
Schriftsteller mußten für die neuen Sprachen die noch fehlende Literatur erstellen. Auch andere Bereiche der Kunst, vor allem die Musik, wurden für die Erschaffung der Nation dienstverpflichtet. Die Volkskunde, die die Märchen und Überlieferungen der Volkskultur sammelte, erhielt überall einen hohen politischen Stellenwert. Neben Unmengen nationalen Klischees wurden zweifellos auch bedeutende Kunstwerke geschaffen. Künstlerischen Rang erhielten diese jedoch gerade dann, wenn sie nicht nur die eigenen Volksangehörigen ansprachen, sondern mit Goethe, der heute als großer Humanist der deutschen Klassik von vielen vergessen ist, das "allgemein Menschliche" ausdrückten und dadurch auch bei Menschen fremder Völker und Kulturen Resonanz fanden. Wie bei den deutschen Volksmärchen und anderen angeblich kulturellen Ausdrucksformen des Volksgeistes hat die vergleichende Kulturforschung inzwischen überreiche Belege dafür gesammelt, daß es sich bei den auch von anderen Nationalismen reklamierten Volkssagen und Volksgütern meist nicht um Eigenprodukte der Volksseele, sondern um Überlieferungen handelte, die von Kultur zu Kultur gewandert oder aus der Hochkultur in Unterschichten abgesunken waren.
aus: Dieter Oberndörfer, Der Wahn des Nationalen 34ff, (Herder Freiburg Basel Wien; 14,80 DM)

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Most recent revision: April 07, 1998

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