Darüber Schweigen sie alle Tabu und Antinomie in der neuen
Debatte über das Dritte Reich
Eine Antinomie ist eine besondere Art von Widerspruch: einer, in dem man sich durch
konsequentes Denken verwickelt, nicht durch ungereimtes. Eine klassische Antinomie
etwa ist der alte Streit, ob alles in der Welt nach Naturgesetzen geschehe, oder
ob in ihr auch Freiheit am Werk sei. Beides ist gleich folgerichtig und gleich absurd.
Freiheit _kann nicht_ sein, denn sie würde die Naturordnung durchkreuzen, die
in der gesetzmäßigen Verknüpfung von Ursache und Wirkung besteht
und keine Ausnahme duldet. Freiheit _muß aber_ sein, denn die kausale Verknüpfung
muß einmal von selbst, spontan angefangen haben, andernfalls es keine Ursache
gäbe, von der alles weitere als Wirkung abhängt. Recht hat bei einer Antinomie
jede Seite, solange sie sich im Angriff befindet, unrecht, sobald sie angegriffen
wird. Daher muß jede darauf bedacht sein, das letzte Wort zu haben, und der
Streit geht end- und fruchtlos hin und her, solange sich nicht ein von beiden Seiten
unberücksichtigter Gesichtspunkt zeigt, von dem aus die Antinomie auflösbar
wird. (1)
Nun mag man denken, Antinomien seien etwas für Haarspalter und Berufsdenker,
gehörten ins philosophische Seminar, aber nicht in den Alltag - doch weit gefehlt:
Jeder durchschnittliche Deutsche, der bereit ist, sich der deutschen Vergangenheit
zu stellen, hat es, ob er will oder nicht, mit dem logischen Ungetüm Antinomie
zu tun. Die These: Die deutsche Unheilsgeschichte ist einzigartig. Begründung:
Daß eines der höchstentwickelten Kulturvölker, für die Namen
wie Bach und Beethoven, Schiller und Goethe, Kant und Hegel stehen, im zivilisierten
Völkermord und Anstiften eines zweiten Weltkriegs fähig warm ist beispiellos.
Die Gegenthese: Die deutsche Unheilsgeschichte ist keineswegs einzigartig. Begründung:
Die Deutschen haben nur verspätet und gründlicher nachgemacht, was andere
Kulturvölker ihnen vormachten: Spanier in Südamerika, Engländer in
der Herstellung des Empire, Franzosen in den napoleonischen Kriegen. Die Beispiele
sind zahllos, der rote Faden in der Geschichte der sogenannten Kulturvölker
ein blutgetränkter.
In einer Antinomie hat immer recht, wer angreift. Machen wir also die Probe auf
das Exempel: Einzigartig soll die deutsche Schuld sein? Nichts als der alte Dünkel
von der Sonderstellung der Deutschen - wenn nicht im Guten, dann eben im Bösen.
Im Büßergewand kommt er daher, spreizt sich durch den Gestus der Selbstzerknirschung
moralisch auf und leistet gerade am wenigsten, was er sich am meisten zugute hält:
Bewältigung deutscher Vergangenheit. Die nämlich erfordert nicht Zurschaustellung
von Mitleid und Entrüstung, sondern nüchternes Begreifen. Begreifen aber
lassen sich Dinge nur in ihrer Relation zu anderen Dingen: indem man Gemeinsamkeit
und Differenz an ihnen herausarbeitet. Erkennen heißt vergleichen. So lautet
seit Platon ein erkenntnistheoretisches Grundgesetz, und es gibt keinen Grund dafür,
die deutsche Geschichte davon auszunehmen. Nur in ihrer Relation zu den Weltuntaten
lassen sich die deutschen Untaten angemessen begreifen.
Damit hat der Angreifer sein Pulver verschossen; das Wort hat der Gegenangreifer.
Und der entdeckt gerade dort die Schwachstelle, wo sein Kontrahent sich besonders
stark fühlte: beim Vergleichen. Sobald man nämlich die deutschen Untaten
mit anderen vergleicht, kommt man zum Beispiel nicht umhin, russische Massenliquidierungen
durch Genickschuß mit deutschen durch Gaskammern für qualitativ ebenbürtig
zu erachten. Und worauf reduziert sich dann die Differenz? Auf Quantitatives. Und
schon ist man, ob man will oder nicht, auf der schiefen Bahn jener Aufrechnerei,
auf der seit 1945 in unwürdiger Weise deutsche Schuld bagatellisiert wird:
Dresden gegen Auschwitz, die deutschen Ostflüchtlinge gegen die Juden, Stalin
gegen Hitler. Deutsche Verbrechen in Relation zu anderen beurteilen heißt
sie zu relativieren. Vergleichen heißt in diesem Fall verwässern. Hier
ist den Anfängen zu wehren, und das heißt auf der Einzigartigkeit der
deutschen Ereignisse zu bestehen: der bürokratische Besessenheit der Nazis
für die Perfektionierung des Grauens, die alle menschliche Vorstellungskraft
übersteigt.
Damit ist wieder der Ausgangspunkt erreicht; der Schlagabstoß könnte
von neuem beginnen. Informierte Leser werden in seiner logischen Struktur längst
das Grundschema der jüngst geführten Debatte über Nationalsozialismus
erkannt haben, in der die Namen Nolte und Habermas hervorstachen. Es ist Habermas'
großes Verdienst, auf eine neue Tendenz und einen neuen Ton in der deutschen
Geschichtsschreibung aufmerksam gemacht zu haben. Wo die Verbrechen Hitlers und
der Nazis als "asiatische Tat" bezeichnet werden, begangen "vielleicht
nur deshalb, weil sie sich und ihresgleichen als potentielle oder wirkliche Opfer
einer 'asiatischen' Tat betrachteten" (2), da verbinden sich Herrenrassevokabular
und Weißwäscherei zum Tatbestand mehrfacher Beleidigung. Denn was will
uns die völkische Wendung "asiatische Tat" anderes sagen als dies:
Daß Asiaten solche Greuel begehen, ist furchtbar, aber nicht verwunderlich;
so sind sie nun einmal. Daß Deutsche es tun, ist furchtbar, aber undeutsch.
Die nationalsozialistischen Exzesse entstammen eigentlich gar nicht der deutschen
Seele selbst, sondern dem asiatischen Untermenschen, in dessen Bann sie stand und
der gleichsam in ihr handelte - womit die deutsche Seele gerettet und die Nato gerechtfertigt
ist: als Kulturschutzbund. Wo ein Deutscher ungeniert von Hitlers "asiatischer
Tat" redet, ist Alarm ebenso angezeigt wie dort, wo einer der "Zerschlagung"
des deutschen Reiches das "Ende" des europäischen Judentums gegenüberstellt,
(3) als sei ersteres ein Akt einseitiger Aggression, letzteres ein Dahinscheiden
ohne äußere Einwirkung gewesen. An ihrer Sprache sollt ihr sie erkennen.
Einiges nährt den Verdacht, daß der neue Trend, den Nationalsozialismus
endlich zu "historisieren", das heißt in weltgeschichtliche Zusammenhänge
einzuordnen, weniger auf nüchternes Begreifen der deutschen Unheilsgeschichte
aus ist als auf Abschütteln ihrer traumatischen Last und Schlußstrich;
auf "eine Art Schadensabwicklung", wie Habermas es nennt (4). Und doch
bezeichnet sein Einspruch dagegen bloß die eine Seite der oben dargestellten
Antinomie. Denn auf die Gretchenfrage, ob der Historiker nun ohne Tabus Vergleiche
anstellen darf oder nicht, sagt Habermas ja und tut nein. Mit "Frageverboten
für die Wissenschaft" will er "weiß Gott nichts zu tun"(5)
haben, aber wenn Nolte und Fest ihn beim Wort nehmen, indem sie tatsächlich
stalinistische und nationalsozialistische Untaten detailliert vergleichen und dabei
nicht umhin kommen, erschreckende Gemeinsamkeiten festzustellen, die ihnen gravierender
Erscheinen als die Unterschiede - so wertet er das als reine Geschmacklosigkeit:
als Legitimation "jener Art von Aufrechnungen, die bisher nur in rechtsradikalen
Kreisen zirkulierten" (6) Die Geschichtswissenschaft ist frei, aber wehe sie
macht uneingeschränkten Gebrauch von ihrer Freiheit. Oder in den Worten Friedländers:
Historisierung ist legitim, aber nicht "um jeden Preis"(7). Und der Punkt,
von dem an sie illegitim wird? Das Argument, bestimmte deutsche Ereignisse vom allgemeinen
Vergleichen der Historiker auszunehmen? Es existiert nicht. Wo immer die Unvergleichbarkeit
deutscher Ereignisse behauptet wird, ist die Behauptung Resultat eines Vergleichs:
Nur sofern man andernorts nichts Gleichartiges entdeckt, nennt man deutsche Taten
einzigartig. Habermas, Friedländer oder Jäckel kommen also ebnsowenig
umhin, zu vergleichen wie Nolte, Fest, Hillgruber oder Stürmer.
Daß es Massenlager und -deportationen in der Sowjetunion gab, bevor Hitler
damit anfing, wird Nolte nicht müde zu betonen - und läßt sich nicht
wegdisputieren. Insofern ist der stalinistische Terror "ursprünglicher"
als der nationalsozialistische; ursprünglicher freilich nur im Sinne des früher.
Daß das Früher auch des Späteren _Ursache_ sei, ist damit noch längst
nicht gesagt, und Noltes Beweisführung besteht darin, es einfach zu unterstellen
- als gäbe es die innere Logik nicht, die ein anderes Früher und Später,
nämlich Doktrin und Terror des Nationalsozialismus, miteinander verbindet und
zur deutsch-gründlichen Organisation des Grauen auf asiatische Vorbilder wahrlich
nicht angewiesen war. (8) Um so frapierender, daß der Vergleich, der das Spezifische
nationalsozialistischer Untaten zutage fördern soll, ihr Spezifisches in erschreckendem
Maße zurücktreten läßt. Angesichts von Konzentrationslagern
hier und dort, Massendeportationen hier und dort, Massenvernichtungen hier und dort
schrumpft der Unterschied zwischen hier und dort auf ein - Akzidens, das Wort in
streng philosophischer Bedeutung genommen: nicht als Lappalie oder Bagatelle, sondern
als "Hinzukommendes". Das Spezifische des nationalsozialistischen Terrors
im Unterschied etwa zum stalinistischen _kommt hinzu_ zum Wesen moderner Gewaltherrschaft,
an dem beide gleichermaßen teilhaben. Das Hinzukommende, etwa die einzigartige
deutsche Gründlichkeit in Organisation und Technisierung des Grauens, ist ein
Ungeheuerliches, die Vorstellungskraft Übersteigendes - und dennoch nicht das
Wesen des Terrors selbst, sondern "nur" ein Unterschied an ihm. Und selbst
wenn die Differenz des nationalsozialistischen Terrors zum stalinistischen sich
nicht, wie Nolte meint, auf den Vorgang der Vergasung beschränkt, wenn sie
vielmehr, nach Jäckels Einsicht, in der Art besteht, wie "ein Staat mit
der Autorität seines verantwortlichen Führers beschlossen und angekündigt
hatte, eine bestimmte Menschengruppe [...] restlos zu töten, und diesen Beschluß
mit allen nur möglichen staatlichen Machtmitteln in die Tat umsetzte"
(9) - sie bleibt akzidentell. So weit haben Fest und Nolte einfach recht. Nur daß
ihre Feststellung automatisch mildernde Umstände für deutsche Taten reklamiert:
Die anderen waren auch keine Engel. Damit aber ist der bewährte deutsche Entschuldigungsmechanismus
ausgelöst, der vom demokratischen Stammtisch bis in die rechtsradikale Presse
reicht und sich deutlich an dem forschen Ton vernehmen läßt, die die
"neue deutsche Unbefangenheit" bei der Historisierung des Nationalsozialismus
anschlägt. Habermas hat recht: Dieser Ton ist ihr nicht äußerlich
und verrät, worauf sie hinaus will: "eine Art Schadensabwicklung".
So bleibt es bei der Antinomie: Hier die Insistenz auf der Einzigartigkeit deutscher
Untaten, die detailliertes Vergleichen als geschmacklos ablehnt und damit die Freiheit
der Geschichtswissenschaft einschränkt. Dort das unbefangen registrierte Vergleichen,
das nicht sein kann ohne zu relativieren und damit der Selbstlossprechung der Deutschen
dient. Gibt es einen Ausweg aus dieser Antinomie?
Winkler Hat folgenden vorgeschlagen: "Deutschland ist kulturell ein Land des
Westens; es hatte teil an der europäischen Aufklärung und eine lange Tradition
des Rechtsstaates. Das gilt nicht für Rußland und erst recht nicht für
Kambodscha. Die Untaten Stalins und der Roten Khmer werden dadurch nicht im mindesten
entschuldigt. Aber Hitler und seine Helfer müssen sich an unseren eigenen,
den westlichen Normen messen. Vor diesem historischen Hintergrund ist der vom deutschen
Staat befohlene systematische Völkermord an den Juden, aber auch an den Sinti
und Roma das größte Verbrechen des 20. Jahrhunderts, ja der Weltgeschichte."
(10)
Das größte Verbrechen? Es sieht ganz danach aus. Aber darum deshalb mit
zweierlei Maß messen? Deutsche an "westlichen" Werten, Russen und
Kambodschaner an - asiatischen? minderen? Wodurch sie "nicht im mindesten entschuldigt",
wohl aber in ein milderes Licht gestellt sind: Furchtbare Taten, aber eben asiatisch.
Da ist sie wieder die "asiatische Tat", wenn auch mit umgekehrten Vorzeichen,
und Fest hat Oberwasser, wenn er kontert: Der Vorschlag, jedes Volk an seinen eigenen
kulturellen Werten zu messen, setzt die "alte Nazi- Unterscheidung fort, wonach
es höhere Völker gibt und Völker auf primitivere Stufe" (11).
Nur daß dieser Bescheid erst einmal seinem Mitstreiter Nolte erteilt gehörte,
ehe er an Historiker ergeht, die mit ihrem Plädoyer für einen mehrfachen
Kulturmaßstab immerhin dies sagen wollten: Wir Deutschen haben nach wie vor
allen Anlaß, zunächst und vor allem vor der eigenen Tür zu kehren.
Das nüchterne Kehren vor der eigenen Tür ist bei Deutschen die einzig
sympathische und taktvolle Haltung - das Vertrackte nur, daß sie nicht aus
der Zwickmühle führt. Begreifen lassen sie deutsche Untaten nun einmal
nur im Zusammenhang mit den Weltuntaten - also indem auch bei andern nachgeschaut
wird. Daher nochmals: Ist die Antinomie deutscher Vergangenheitsbewältigung
auflösbar?
Durchaus. Zum Beispiel zeichnete sich eine Auflösung ab zu einer Zeit, als
die Ereignisse, die wir heute als historische betrachten, Gegenwart waren oder noch
nicht einmal ihren Höhepunkt erreicht hatten. Damals gab es in einigen wenigen
Köpfen eine Unbefangenheit im Vergleichen, die der neuen Unbefangenheit nicht
nachsteht - und dennoch über jeglichen Verdacht von Aufrechnerei erhaben war,
weil sie einen entscheidenden Schritt übers Vergleichen hinaus tat: den zur
Ableitung der verglichenen Phänomene aus ihren gesellschaftlichen Wurzeln.
"Wer aber vom Kapitalismus nicht reden will", lautet Horkheimers berühmtes
Diktum von 1939, "sollte auch vom Faschismus schweigen."(12) Was ist damit
gemeint? Natürlich nicht, daß sich überall automatisch, simultan
und mit einem Schlag kapitalistische Organisation der Gesellschaft in faschistische
verwandeln müsse. Wohl aber, daß es ein mächtige, ökonomische
bedingte Tendenz dahin gebe. Das war in den 60er Jahren, als die Parole "Kapitalismus
führt zum Faschismus" auf keiner besseren Demonstration fehlte, fast ein
Gemeinplatz. Heute ist es anscheinend wieder nötig, daran zu erinnern.
"Im System der freien Marktwirtschaft", schrieb Horkheimer 1940, "
sind seine spezifischen Erzeugnisse, die Maschinen, Destruktionsmittel nicht bloß
im wörtlichen Sinne geworden: sie haben anstatt der Arbeit die Arbeiter überflüssig
gemacht. Die Bourgeoisie selbst ist dezimiert, die Mehrzahl der Bürger hat
ihre Selbständigkeit verloren; soweit sie nicht ins Proletariat oder vielmehr
in die Masse der Arbeitslosen hinabgestoßen sind, gerieten sie in Abhängigkeit
von den großen Konzernen oder vom Staat. Das Dorado der bürgerlichen
Existenzen, die Sphäre der Zirkulation, wird liquidiert. Ihr Werk wird teils
von den Trusts verrichtet [...] Teils wird das Geschäft vom Staat besorgt.
[...] Je mehr Produktivkräfte er in sein Eigentum übernimmt, desto mehr
wird er wirklicher Gesamtkapitalist [...] Der Staatskapitalismus ist der autoritäre
Staat der Gegenwart."(13)
Dessen besondere Stärke: Er vermag selbst noch die Opposition gegen ihn nach
seinem Bilde zu formen. "Die Parole der Vereinigung in Gewerkschaften und Parteien
war gründlich befolgt, aber diese führten weniger die unnatürlichen
Aufgaben der vereinigten Proletarier durch, nämlich den Widerstand gegen die
Klassengesellschaft überhaupt, als daß sie den natürlichen Bedingungen
ihrer eigenen Entwicklung zur Massenorganisation gehorchten. Sie fügten sich
den Wandlungen der Wirtschaft ein." "Das revolutionäre Bild der Entfesselung
lebte nur noch in den Verleumdungen der Konterrevolutionäre fort. Wenn überhaupt
die Phantasie sich vom Boden der Tatsachen entfernte, setzte sie der vorhandenen
staatlichen Apparatur die Bürokratien von Partei und Gewerkschaft, an Stelle
des Profitprinzips die Jahrespläne der Funktionäre." (14) "Beide
steuerten zur staatlichen Kontrolle hin. Regierungen und oppositionelle Parteibürokratien
von rechts und links wurden je nach ihrer Stellung im Gesellschaftsprozeß
auf irgend eine Form des autoritären Staats verwiesen. Für die Individuen
freilich ist es entscheidend, welche Gestalt er schließlich annimmt. Arbeitslose,
Rentner, Geschäftsleute, Intellektuelle erwarten Leben und Tod, je nachdem
ob Reformismus, Bolschewismus oder Faschismus siegt." (15)
Horkheimer, der in dieser verzweifelten weltgeschichtlichen Situation wahrlich andere
Sorgen als Methodologie hatte, führt dennoch exemplarisch die Methode verantwortlichen
Vergleichens vor: Das Wesen des autoritären Staats leitet er aus den immanenten
Tendenzen des Kapitalismus her und begreift es als das Identische, ohne die unterschiedlichen
Gestalten zu leugnen, in denen es sich konkretisieren kann. Sie sind akzidentell,
und zwar in doppelten Sinn: Zum einen alles andere als nebensächlich; leben
und Tod hängt davon ab, welche siegt. Zum anderen läßt sich nicht
vorherbestimmen, welche siegt. Das Akzidens ist durchs Wesen nicht vollständig
determiniert, hat ihm gegenüber stets ein Moment von Zufälligkeit. Soll
die Geschichte weder auf ein abschnurrendes Uhrwerk verkürzt noch in eine Unzahl
von Phänomen aufgelöst werden, die alle gleich wesentlich sind, so ist
die alte philosophische Unterscheidung von Wesen und Akzidens unverzichtbar. Materialismus,
der diesen Namen verdient, hat sie in sich aufzunehmen - und zwar ohne den Irrtum,
akzidentell sei gleichbedeutend mit nichtig, belanglos. Individuen sind stets akzidentell,
und doch geht es um sie. Um ihretwillen Theorie treiben aber nötigt gerade
zur Thematisierung des gesellschaftlichen Wesens bzw. Unwesens, von dessen Zwangsgesetzen
sie sich zu befreien hätten. Wird das Wesen hingegen um seiner selbst willen
zum Thema gemacht und von ehernen, übe die Geschichte waltenden Gesetzen gefaselt,
ist der Materialismus korrumpiert - und nicht etwa in seinem Element.
Aus dem Festhalten an Wesen und Akzidens resultiert auch Horkheimers Pointe: Selbst
noch der Bolschewismus ist aus der Tendenz des Kapitalismus zum autoritären
Staat zu begreifen - als eine Opposition, die im Bann der Verhältnisse blieb,
die sie umwälzen wollte und so den Bann verstärkte. "Die konsequenteste
Art des autoritären Staats, die aus jeder Abhängigkeit vom privaten Kapital
sich befreit,, ist der integrale Etatismus oder Staatssozialismus. [...] Die privaten
Kapitalisten sind abgeschafft. [...] Aber die Produzenten, denen juristisch das
Kapital gehört, bleiben Lohnarbeiter, Proletarier" (16) "Auch sofern
der Mehrwert nicht länger als Profit eingestrichen wird, geht es um ihn. Die
Zirkulation wird abgeschafft, die Ausbeutung modifiziert" (17) - durch einen
Staat freilich, in dem "die Polizei das Leben bis in die letzten Zellen durchdringt"
(18).
So scheut Horkheimer auch nicht, den Akzent auf das Gemeinsame zu legen. "In
allen seinen Varianten ist der autoritäre Staat repressiv." (19) "Nur
im Anfang kommen die meisten Opfer des Polizeiapparats aus der unterlegenden Massenpartei.
Später strömt das vergossene Blut aus dem geeinten Volk zusammen. Die
Auslese, die man in den Lagern konzentriert, wird immer zufälliger. Ob die
Menge der Insassen jeweils wächst oder abnimmt, ja ob man sich zeitweise leisten
kann, die leeren Plätze der Ermordeten gar nicht wieder zu belegen, eigentlich
könnte jeder im Lager sein." (20) Geschrieben 1940!
Horkheimers Schrift der "Autoritäre Staat" ist programmatisch, aber
ausführlich genug, um zu zeigen, wie man aus der oben dargestellten Antinomie
entrinnen und Phänomene vergleichen kann, ohne sei gegeneinander aufzurechnen:
indem man Wesen und Akzidens an ihnen unterscheidet und sie aus etwas ableitet,
was selbst nicht Phänomen ist, sondern Grundlage der Phänomene: die jeweilige
Organisationsform der Gesellschaft. Die Feststellung von Gleich- und Ungleichheit
der Phänomene dient dann vor allem der Überprüfung, ob sie richtig
abgeleitet sind. Richtige Ableitung kann aber bei den in Frage stehenden Untaten
dieses Jahrhunderts nur Aktualisierung heißen, nicht Historisierung. Zu begreifen
sind sie nicht dadurch, daß man sie im Album der Weltgeschichte an der richtigen
Stelle einzukleben versucht, sondern nur als die Bahnbrecher der Vernichtungskräfte,
die das kapitalistische Wirtschaftsgesetz zwanghaft zusammenbraut und die bis heute
zu wirken nicht aufgehört haben.
Horkheimers Formulierung "Der Faschismus ist die Wahrheit der modernen Gesellschaft"
(21) könnte man daher hinzufügen: Und der Stalinismus noch einmal - spiegelverkehrt.
Er ist in gewissermaßen tragischer als der Faschismus, weil aus einer Revolution
hervorgegangen, die jene Kräfte brechen wollten, denen sie schließlich
doch nur zu einem alternativen Durchbruch verhalf. Beide aber, Faschismus wie Stalinismus,
haben das unauslöschliche Stigma, die historischen Urbilder zu sein, von denen
die heutigen Weltuntaten die Abbilder sind. Abbilder sind mit ihren Urbildern nie
identisch, Faschismus und Stalinismus insofern unwiederholbar - und dennoch ständig
präsent. Der eine schwebt wie ein Damoklesschwert über jeder kapitalistischen
Expansion und Krise, der andere über jeder proletarischen Revolution. Das ist,
bei aller Ähnlichkeit der Phänomene, ein erheblicher struktureller Unterschied.
Der eine ist die Gefahr, mit der die unvernünftige Einrichtung der Gesellschaft
selbst droht; der andere droht beim Versuch, sie vernünftig einzurichten. Für
beide gilt: Sie sind eine Vergangenheit, die nicht vergeht, weil die Geschichte
seitdem eine ist, die nicht mehr recht voranschreitet: Die gesellschaftlichen Grundlagen
von damals haben sich im Prinzip nicht geändert. Ob die Abbilder hinter den
Urbildern zurückbleiben oder sie gar in dieser oder jener Hinsicht noch übertreffen
- sie sind stets schon nach dem Bilde eines anderen geformt, gehen einen Weg der
schon gebahnt ist, befinden sich gleichsam in der Nachfolge. Solange die Welt so
eingerichtet bleibt, wie sie ist, bleibt das Dritte Reich eines der beiden Urbilder
modernen Grauens, und Deutschland wird diese Hypothek ebensowenig los wie eine Religionsgemeinschaft
ihren Stifter.
Daß Horkheimer in späteren Jahren seine Kapitalismuskritik revidiert
hat, ist ein Thema für sich und widerlegt keines der hier von ihm angeführten
Zitate. Würde sein Begriff des autoritären Staates von 1940 der Interpretation
der deutschen Vergangenheit heute zugrundegelegt - man könnte so viel vergleichen,
wie man wollte, ohne sich im geringsten deutscher Weißwäscherei verdächtig
zu machen. Betrachtet man hingegen den neuen deutschen Historikerstreit, so zeigt
sich zumindestens in einem Punkt tiefe Einigkeit: Vom Kapitalismus schweigen sie
alle, so viel sie auch vom Kapitalismus reden mögen. Zwar erwähnt Habermas
immerhin "die einfache Tatsache, daß auch die Nachgeborenen in einer
Lebensform aufgewachsen sind, in der _das_ möglich war". Aber diese Lebensform,
"ein schwer entrinnbares Geflecht von familialen, örtlichen, politischen,
auch intellektuellen Überlieferungen", wird nicht einmal ansatzweise entwirrt,
als "geschichtliches Milieu", das "von der Mimikri und der körperlichen
Geste über die Sprache bis in die kapillarischen Verästelungen des intellektuellen
Habitus" reicht, ebenso diffus gelassen wie als "Mentalität",
"in die die Spuren der sehr deutschen Denkbewegung von Kant bis Marx eingegraben
sind" (22). Deutschland, ein Milieu? Da hat sich allenfalls Weber, aber nicht
Marx eingegraben, und vor allem: Die materielle, ökonomische Grundlage dieses
Milieus hat sich verflüchtigt, was ganz der sonstigen Habermasschen Tendenz
entspricht, von der modernen Produktion nur noch als einem technischen Systemzusammenhang,
einem "Stück normfreier Sozialität"(23) zu sprechen, aber nicht
mehr von den Produktions_verhältnissen_, die nach wie vor kapitalistisch, also
alles andere als normfrei sind und dafür sorgen, daß es auch die technischen
Prozesse sind, solange die Menschen darin als Anhängsel der Maschinerie fungieren.
An ihrer Sprache sollt ihr sie erkennen.
Daß Habermas gegen die neue deutsche Unbefangenheit initiativ wurde, weil
wir "die Erinnerung an das Leiden der von deutschen Händen Hingemordeten
wachhalten müssen"(24) ist ihm hoch anzurechnen. Daß ihm zu "Autoritär
Staat" auf der Horkheimer-Konferenz 1985 nur einfiel, hier rücke der Autor
"von der materialistischen Geschichtsauffassung ab"(25), und daß
ihm in der Historikerdebatte dieser Text überhaupt nicht einfiel, mag belanglos
erscheinen, bezeichnet aber genau seine Position in dieser Debatte. Konsens ist
dort nämlich, über den Kapitalismus zu schweigen, weil auch etwas anderes
Konsens ist: Eine neue deutsche Identität muß her. Für Stürmer,
den Sprachbildner Helmut Kohls, kann das nur eine wiederhergestellte nationale Identität,
gekennzeichnet durch "vorbehaltslose Öffnung der Bundesrepublik gegenüber
der politischen Kultur des Westens" und "Verfassungspatriotismus".
(27)
Schon vor mehr als einem Jahrzehnt stellte er die Frage: "Können komplexe
Gesellschaften eine vernünftige Identität ausbilden?" (28) Womit
unterstellt ist, daß es auch eine vernünftige gibt und vorab feststeht,
was Identität jedenfalls _nicht_ heißen soll: das zwanglose, widerspruchsfreie
Zusammenstimmen der Individuen mit der Gesamtheit ihrer Lebensbedingungen und -äußerungen.
Weil nämlich die Verhältnisse so sind, daß sie den Menschen eine
derartige Identität strikt vorenthalten, soll Identität nur noch das bedeuten,
was sie vielleicht nicht vorenthalten: daß man sich in irgendeiner Gemeinschaft
zu Hause fühlt. Das braucht der Seelenhaushalt, damit das Sozialmolekül
Mensch nicht zugrunde geht. Identität in diesem Sinne stiftete einst die Religion,
später Nation und Partei, heute nicht einmal mehr die Familie.
Der verfallenen Identität wollen beide auf ihre Art aufhelfen: Stürmer
durch Wiederherstellung einer nationalen, Habermas durch Aufbau einer neuen demokratischen,
die "im Bewußtsein allgemeiner und gleicher Chancen der Teilnahme an
solchen Kommunikationsprozessen begründet ist, in denen Identitätsbildung
als kontinuierlicher Lernprozeß stattfindet" (29). "Eine solche
Identität braucht keine fixen Inhalte mehr, um stabil zu sein; aber sie braucht
jeweils Inhalte." (30) Und wenn die auf demokratischen Wege, nämlich durch
chancengleiche, freie Kommunikation gewonnen sind, dürfen sie das Prädikat
"vernünftig" für sich reklamieren - wie immer sie auch lauten
mögen. Der Weg bürgt für die Qualität des Ziels.
Vor allem aber verrät der Weg etwas anderes: Der Inhalt, zu dem er führt,
spielt nicht mehr die Hauptrolle. Das gilt auch für Stürmer. Auf Nation
und Patriotismus versteift er sich nur deshalb, weil er einzig nach dem Autoritätsverlust
der Religion noch zur "höheren Sinnstiftung" (31) für fähig
hält. Gemeinsam ist ihm also mit Habermas: Wichtiger als der Inhalt selbst
ist dessen psychologische Leistungsfähigkeit. Kann man sich guten Gewissens
mit ihm identifizieren? Das ist das Kriterium.
Nun bedeutet aber Identifikation, wie Freud lehrt, "eine Angleichung eines
Ichs an ein fremdes" (32), und in welchem seelischen Akt wäre der Mensch
heteronomer als in diesem? Freilich wird ohne Identifikation niemand erwachsen,
aber erwachsen wird man nur so weit, wie man über Identifikationen hinausgelangt.
Freilich gibt es Autonomie nur auf der Basis von Heteronomie, aber was man heute
Identität nennt, ist Heteronomie, die für Autonomie ausgegeben wird. Da
_hat_ schon Identität, wer sich mit einer Gruppe oder Sache so zu identifizieren
weiß, daß er von dort aus die Erfahrung und Anforderungen einer objektiv
disparaten Realität subjektiv in Einklang zu bringen vermag - sei es die reale
Geschichte der Nation mit ihren Geborgenheitsverheißungen, seien es unterschiedliche
Geltungsansprüche wissenschaftlicher Theorien, seien es die heterogenen Imperative
von Beruf und Familie, Pflichten und Neigungen. Ausbalancieren, Ausdifferenzieren,
Austarieren, Ausdiskutieren heißen die Akte der Identitätsgewinnung,
die alle auf dasselbe hinauslaufen: eine eingestandenermaßen disparate Welt
wenigstens im Subjekt zur Harmonie zu bringen, oder mit einem Wort Adornos: "Erpreßte
Versöhnung" (33). Nicht von ungefähr hat Adorno darauf bestanden,
daß unter den bestehenden Verhältnissen das Subjekt keine Identität
hat. "Voraussetzung seiner Identität ist das Ende des Identitätszwangs."(34)
Der aber besteht im seelischen Mechanismus der Identifikation ebenso fort wie in
allen Kraftanstrengungen des Ausbalancierens und Ausdifferenzierens. Die ermäßigte
Identität ist Identitäts_surrogat_, das bestmögliche Arrangement
mit einer alles andere als identischen Welt.
Eine solche Identität will Habermas nicht minder als Stürmer. Strittig
zwischen ihnen ist nur, wer sie stiften soll: Identifikation mit der Nation oder
der demokratischen Verfassung? Wird die Frage so gestellt, spricht natürlich
alles für die Verfassung. Mit recht betont Habermas, daß es die Siegermächte
waren, die sie nach 1945 auf deutschem Boden ermöglichten, und daß ihr
Geist bis heute in deutschen Herzen längst nicht so heimisch geworden ist,
wie deutsche Lippen bisweilen glauben machen wollten. Aber selbst wenn er ganz heimisch
wäre - was wäre damit erreicht? Der Punkt, an dem sich kritische Theorie
einst entzündete, als sich in Deutschland die erst Republik auflöste:
das bemerkenswerte Faktum, daß die demokratische Verfassung einer bürgerlich-kapitalistischen
Gesellschaft ein daseiender Widerspruch ist, weil sie einerseits Freiheit, Gleichheit,
Gerechtigkeit auf ihre Fahnen geschrieben hat, andererseits einem globalen Wirtschaftsgesetz
zur Durchsetzung verhilft, das diese Begriffe auf seine sehr eigenen Weise verwirklicht
und Massenelend oder Raubbau an den materiellen Lebensgrundlagen durchaus mit ihnen
zu vereinbaren weiß. Daß in diesem Widerstreit jene fatale Dynamik steckt,
welche demokratische Verhältnisse nach Maßgabe von Wirtschaftskrisen
zu autoritären tendieren läßt, war eine der zentralen Einsichten,
von der die kritische Theorie in den 30er Jahren ausging. Habermas kehrt hinter
sie zurück. "Identifikation mit den Verfassungsgrundsätzen einer
demokratischen Republik" (35) fordert er, als Identifikation mit einem Antagonismus
- und die soll Identität bescheren. Und was ist diese Identität, die er
durch "vorbehaltslose Öffnung der Bundesrepublik gegenüber der politischen
Kultur des Westens" oder "Bindung an den Westen" charakterisiert,
anderes als die liberale Ausgabe jener "Natophilosophie", deren "deutsch-national
eingefärbte" Version (36) ihm an seinen Kontrahenten aus gutem Grund so
mißfällt?
Mit Recht hebt Habermas hervor, daß wir Deutschen nach Auschwitz "allein
aus den besseren Traditionen unserer nicht unbesehenen, sondern kritisch angeeigneten
Geschichte schöpfen"(37) dürfen. Aus der Tradition aber, der er selbst
in weiten Kreisen der Öffentlichkeit immer noch zugerechnet wird, hat er in
der Historikerdebatte zumindest nicht geschöpft: der kritischen Theorie. Das
wäre weiter nicht schlimm, hätte er sich nicht _eben deshalb_ in die oben
dargestellte Antinomie verwickelt. Bei Kant kam noch zuerst die Antinomie und dann
der Versuch ihrer Auflösung. In der deutschen Vergangenheitsbewältigung
geht es umgekehrt: Da wird zuerst der Weg der Lösung gewiesen, und die Antinomie
kommt erst zur vollen Entfaltung, nachdem er ignoriert ist. So demonstrieren im
neuen Streit um das Dritte Reich beide Seiten auf ihre Art, wie es hierzulande um
den geistigen Fortschritt bestellt ist.
aus: Christoph Türcke, Gewalt und Tabu. Philosophische Grenzgänge 26ff
Anmerkungen sind dort ersichtlich.
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Most recent revision: April 07, 1998
E-MAIL:
Martin Blumentritt