Ein Lehrstück gegen stereotype Denkformen ist der folgende Text,
den Hegel 1807 verfaßte, man kann ihn getrost lesen als ob er gerade heute
verfaßte wäre.
G.W.F. Hegel
Wer denkt abstrakt
Denken? Abstrakt? - Sauve qui peut! Rette sich wer kann! So höre ich schon
einen vom Feinde erkauften Verräter ausrufen, der diesen Aufsatz dafür
ausschreit, daß hier von Metaphysik die Rede sein werde. Denn _Metaphysik_
ist das Wort, wie _abstrakt_ und beinahe auch _Denken_, ist das Wort, vor dem jeder
mehr oder minder wie vor einem mit der Pest behafteten davonläuft.
Es ist aber nicht so bös gemeint, daß, was denken und was abstrakt sei,
hier erklärt werden sollte. Der schönen Welt ist nichts so unerträglich
als das Erklären. Mit selbst ist es schrecklich genug, wenn einer zu erklären
anfängt, denn zur Not verstehe ich alles selbst. Hier zeigte sich die Erklärung
des Denkens und des Abstrakten ohnehin schon als völlig überflüssig;
denn gerade nur, weil die schöne Welt schon weiß, was das Abstrakte ist,
flieht sie davor. Wie man das nicht begehrt, was man nicht kennt, so kann man es
auch nicht hassen.
Auch wird es nicht darauf angelegt, hinterlistigerweise die schöne Welt mit
dem Denken oder dem Abstrakten versöhnen zu wollen; etwa daß unter dem
Scheine einer leichten Konservation das Denken und das Abstrakte eingeschwärzt
werden sollte, so daß es unbekannterweise, und ohne eben einen Abscheu zu
erweckt zu haben, sich in die Gesellschaft eingeschlichen hätte und gar von
der Gesellschaft selbst unmerklich hereingezogen oder, wie die Schwaben sich ausdrücken,
hereingezäunselt worden wäre und nun dem Autor dieser Verwicklung diesen
sonst fremden Gast, nämlich das Abstrakte, aufdeckte, den die ganze Gesellschaft
unter einem anderen Titel als einen guten Bekannten behandelt und anerkannt hätte.
Solche Erkenntnisgrenzen, wodurch die Welt wider Willen belehrt werden soll, haben
den nicht zu entschuldigenden Fehler an sich, daß sie zugleich beschämen
und der Maschinist sich einen kleinen Ruhm erkünsteln wollte, so daß
jene Beschämung und diese Eitelkeit die Wirkung aufheben, denn sie stoßen
eine um diesen Preis erkaufte Belehrung vielmehr wieder hinweg.
Ohnehin wäre die Anlegung eines solchen Plans schon verdorben; denn zu seiner
Ausführung wird erfordert, daß das Wort des Rätsels nicht zum voraus
ausgesprochen sei. Dies ist aber durch die Aufschrift schon geschehen; in dieser,
wenn dieser Aufsatz mit solcher Hinterlist umginge, hätten die Worte nicht
gleich von Anfang auftreten dürfen, sondern wie der Minister in der Komödie,
das ganze Spiel hindurch im Überrocke herumgehen und erst in der letzten Szene
ihn aufknöpfen und den Stern der Weisheit aufblitzen lassen müssen. Die
Aufknöpfung eines metaphysischen Überrocks nähme sich hier nicht
einmal so gut aus wie die Aufknöpfung des ministriellen, denn was jene an den
Tag brächte, wäre weiter nichts als ein paar Worte; denn das Beste vom
Spaße sollte ja eigentlich darin liegen, daß es sich zeigte, daß
die Gesellschaft längst im Besitze der Sache selbst war; sie gewönne also
am Ende nur den Namen, dahingegen der Stern des Ministers etwas Reelleres, einen
Beutel mit Geld, bedeutet.
Was Denken, was abstrakt ist - daß dies jeder Anwesende wisse, wird in guter
Gesellschaft vorausgesetzt, und in solcher befinden wir uns. Die Frage ist allein
danach, _wer_ er sei, der abstrakt denke. Die Absicht ist, wie schon erinnert, nicht
die, sie mit diesen Dingen zu versöhnen, ihr zuzumuten, sich mit etwas Schwerem
abzugeben, ihr ins Gewissen darüber zu reden, daß sie leichtsinnigerweise
so etwas vernachlässige, was für ein mit Vernunft begabtes Wesen rang-
und standesgemäß sei. Vielmehr ist die Absicht, die schöne Welt
mit sich selbst zu versöhnen, wenn sie sich anders eben nicht ein Gewissen
über diese Vernachlässigung macht, aber doch vor dem abstrakten Denken
als vor etwas Hohem eine gewissen Respekt wenigstens innerlich hat und davon wegsieht,
nicht weil es ihr zu gering, sondern weil es ihr zu hoch, nicht weil es zu gemein,
sondern zu vornehm, oder umgekehrt, weil es ihr eine Espèce, etwas Besonderes
zu sein scheint, etwas wodurch man nicht in der allgemeinen Gesellschaft sich auszeichnet,
wie durch einen neuen Putz, sondern wodurch man sich vielmehr, wie durch ärmliche
Kleidung oder auch durch reiche, wenn sie aus alt gefaßten Edelsteinen oder
einer noch so reichen Stickerei besteht, die aber längst chinesisch geworden
ist, von der Gesellschaft ausschließt oder sich darin lächerlich macht.
Wer denkt abstrakt? Der ungebildete Mensch, nicht der gebildete. Die gute Gesellschaft
denkt darum nicht abstrakt, weil es zu leicht ist, weil es zu niedrig ist, niedrig
nicht dem äußeren Stande nach, nicht aus einem leeren Vornehmtun, das
sich über das wegzusetzen stellt, was es nicht vermag, sondern wegen der inneren
Geringheit der Sache.
Das Vorurteil und die Achtung für das abstrakte Denken ist so groß, daß
feine Nasen hier eine Satire oder Ironie zum voraus wittern werden; allein, da sie
Leser des _Morgenblattes_ sind, wissen sie, daß auf eine Satire ein Preis
gesetzt ist und daß ich also ihn lieber zu verdienen glauben und darum konkurrieren
als hier schon ohne weiteres meine Sachen hergeben würde.
Ich brauche für meinen Satz nur Beispiele anzuführen, von denen jedermann
zugestehen wird, daß sie ihn enthalten. Es wird also ein Mörder zur Richtstätte
geführt. Damen machen vielleicht die Bemerkung, daß er ein kräftiger,
schöner, interessanter Mann ist. Jenes Volk findet die Bemerkung entsetzlich:
was ein Mörder schön? wie kann man so schlecht denkend sein und einen
Mörder schön nennen; ihr seid wohl etwas nicht viel Besseres! Dies ist
ein Sittenverderbnis, die unter den vornehmen Leuten herrscht, setzt vielleicht
der Priester hinzu, der den Grund der Dinge und die Herzen kennt.
Ein Menschenkenner sucht den Gang auf, den die Bildung des Verbrechers genommen,
findet in seiner Geschichte schlechte Erziehung, schlechte Familienverhältnisse
des Vaters und der Mutter, irgendeine ungeheure Härte bei einem leichteren
Vergehen dieses Menschen, die ihn gegen die bürgerliche Ordnung erbitterte,
eine erste Rückwirkung dagegen, die ihn daraus vertrieb und es ihm jetzt nur
durch Verbrechen sich noch zu erhalten möglich machte. - Es kann wohl Leute
geben, die, wenn sie solches hören, sagen werden: der will diesen Mörder
entschuldigen! Erinnere ich mich doch, in meiner Jugend einen Bürgermeister
klagen gehört zu haben, daß es die Bücherschreiber zu weit treiben
und Christentum und Rechenschaffenheit ganz auszurotten suchen; es habe einer eine
Verteidigung des Selbstmordes geschrieben; schrecklich, gar zu schrecklich! - Es
ergab sich aus weiterer Nachfrage, daß _Werthers_ Leiden verstanden waren.
Dies heißt abstrakt gedacht, in dem Mörder nichts als dies Abstrakte,
daß er ein Mörder ist, zu sehen und durch diese einfache Qualität
alles übrige menschliche Wesen an ihm zu vertilgen. Ganz anders eine feine,
empfindsame Leipziger Welt. Sie bestreute und beband das Rad und den Verbrecher,
der darauf geflochten war, mit Blumenkränzen. - Dies ist aber wieder die entgegengesetzte
Abstraktion. Die Christen mögen wohl Rosenkranzerei oder vielmehr Kreuzroserei
treiben, das Kreuz mit Rosen umwinden. Das Kreuz ist der längst geheiligte
Galgen und Rad. Es hat seine einseitige Bedeutung, das Werkzeug entehrender Strafe
zu sein, verloren und kennt im Gegenteil die Vorstellung des höchsten Schmerzes
und der tiefsten Verwerfung, zusammen mit der freudigsten Wonne und göttlicher
Ehre. Hingegen das Leipziger Kreuz, mit Veilchen und Klatschrosen eingebunden, ist
eine Kotzebuesche Versöhnung, eine Art liederlicher Verträglichkeit der
Empfindsamkeit mit dem Schlechten.
Ganz anders hörte ich einst eine gemeine alte Frau, ein Spitalweib, die Abstraktion
des Mörders töten und ihn zur Ehre lebendig machen. Das abgeschlagene
Haupt war aufs Schaffot gelegt, und es war Sonnenschein; wie doch so schön,
sagte sie, Gottes Gnadensonne _Binders_ Haupt beglänzt! - Du bist nicht wert,
daß dich die Sonne bescheint, sagt man zu einem Wicht über den man sich
entzürnt. Jene Frau sah, daß der Mörderkopf von der Sonne beschienen
wurde und es also auch noch wert war. Sie erhob ihn von der Strafe des Schaffots
in die Sonnengnade Gottes, brachte nicht durch ihr Veilchen und ihre empfindsame
Eitelkeit die Versöhnung zustande, sondern sah in der höheren Sonne ihn
zu Gnaden aufgenommen.
Alte, ihre Eier sind faul, sagt die Einkäuferin zur Hökerfrau. Was, entgegnet
diese, meine Eier faul? Sie mag mir faul sein! Sie soll mir das von meinen Einern
sagen? Sie? Haben ihren Vater nicht die Läuse an der Landstraße aufgefressen,
ist nicht ihre Mutter mit den Franzosen fortgelaufen und ihre Großmutter im
Spital gestorben, - schaff sie sich für ihr Flitterhalstuch ein ganzen Hemd
an; man weiß wohl, wo sie das Halstuch und die Mützen her hat; wenn die
Offiziere nicht wären, wär jetzt manche nicht so geputzt, und wenn die
gnädigen Frauen mehr auf ihre Haushaltung sähen, säße manche
im Stockhause, - flick sie sich nur die Löcher in den Strümpfen! - Kurz,
sie läßt keinen guten Faden an ihr. Sie denkt abstrakt und subsumiert
sie nach Halstuch, Mütze, Hemd usf. wie nach den Fingern und anderen Partien,
auch nach dem Vater und der ganzen Sippschaft, ganz allein unter das Verbrechen,
daß sie die Eier faul gefunden hat; alles an ihr ist durch und durch und durch
mit faulen Eiern gefärbt, dahingegen jene Offiziere, von denen die Hökersfrau
sprach - wenn anders, wie sehr zu zweifeln, etwas dran ist -, ganz andere Dinge
an ihr zu sehen bekommen mögen.
Um von der Magd auf den Bedienten zu kommen, so ist kein Bedienter schlechter dran
als bei einem Manne von wenigem Stande und wenigem Einkommen, und um so besser daran,
je vornehmer der Herr ist. Der gemeine Mensch denkt wieder abstrakter, er tut vornehm
gegen den Bedienten und verhält sich zu diesem nur als einem Bedienten; an
diesem einen Prädikate hält er fest. Am besten befindet sich der Bediente
bei den Franzosen. Der vornehme Mann ist familiär mit dem Bedienten, der Franzose
sogar gut Freund mit ihm; dieser führt, wenn sie allein sind, das große
Wort, man sehe Diderot Jacque et son maître, der Herr tut nichts als Prisen-Tabak
nehmen und nach der Uhr sehen und läßt den Bedienten in allem Übrigen
gewähren. Der vornehme Mann weiß, daß der Bediente nicht nur Bedienter
ist, sondern auch die Stadtneuigkeiten weiß, die Mädchen kennt, gute
Anschläge im Kopfe hat; er fragt ihn darüber und der Bediente darf sagen,
was er über das weiß, worüber der Prinzipial frug. Beim französischen
Herrn darf der Bediente nicht nur dies, sondern auch die Materie aufs Tapet bringen,
seine Meinung haben und behaupten, und wenn der Herr etwas will, so geht es nicht
mit Befehl, sondern er muß dem Bedienten zuerst seine Meinung einräsonieren
und ihm ein gutes Wort darum geben, daß seine Meinung die Oberhand behält.
In Militär kommt derselbe Unterschied vor; beim preußischen kann der
Soldat geprügelt werden, er ist also eine Kanaille; denn was geprügelt
zu werden das passive Recht hat, ist eine Kanaille. So gilt der gemeine Soldat dem
Offizier für dies Abstraktum eines prügelbaren Subjekts, mit dem ein Herr,
der Uniform und _Porte d'épée_ hat, sich abgeben muß, und das
ist, um sich dem Teufel zu ergeben.
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Most recent revision: April 07, 1998
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Martin Blumentritt