Wichtigste Norm der Verfassungsordnung: Multikulturalität
In den Nationalstaaten wurde und wir immer wieder versucht, die nationale Identität
aus kulturellen Überlieferungen zu bestimmen und verbindlich zu machen. Der
religiöse Glaube, die Kunst, der Geschmack bei der Aneignung kultureller Güter,
ja sogar das Essen und Kleiden werden national normiert. Ein echter Pole oder Ire
muß Katholik, ein Deutscher in Bismarcks Reich möglichst ein Protestant
sein. Unter dem Nationalsozialismus sollten die Deutschen sogar zum mythischen Glauben
der Germanen zurückkehren. Neben der Religion sollten auch die Malerei, Musik,
Literatur und bildende Kunst von fremden, verderblichen Elementen gesäubert
werden. Artfremde, nichtdeutsche Kunstwerke wurden daher im Dritten Reich vernichtet.
[Zwischenbemerkung MB: das stimmt nicht ganz, sie wurden zum großen Teil gegen
gutes Geld verkauft] Im "Haus der Deutschen Kunst" zu München hingegen
wurde Mittelmäßiges aus der Hand deutscher Künstler als nationales
Kulturgut gefeiert. Unter Strafe wurde das Spielen oder sogar Anhören von Jazz,
von "Negermusik", gestellt. Mit spießiger Inbrunst wurden in der
zweiten Strophe des Deutschlandlieds "deutsche Frauen" und "deutscher
Wein" gerühmt. Die "deutsche Eiche" war schöner und kräftiger
als die französische oder italienische Eichen. Das Kulturverständnis des
Nationalismus ist provinziell.
Die Kulturen der Menschheit haben sich in einer langen Geschichte kulturellen Austausches
grenz- und völkerübergreifend gebildet. Keine Kultur entsteht aus sich
selbst heraus in einem luftleeren Raum. So wurde das Christentum von den Vorfahren
der Deutschen, den Germanen, aus Kulturen des Nahen Ostens übernommen. Im Mittelalter
und in der Renaissance erhielt die Kultur der europäischen Völker entscheidende
Impulse aus der Begegnung mit der Philosophie und Literatur der griechische-römischen
Antike. Vom Geist der Antike sind auch der deutsche Idealismus, die deutsche Klassik
und Romantik geprägt. Große Werke der Weltliteratur wurden ins Deutsche
übersetzt und Homer, Shakespeare, Molière und Dante ein Teil der deutschen
Kultur. Die Musik Bachs, Mozarts und Beethovens, die ihrerseits aus dem Erbe der
europäischen musikalischen Tradition entstand, ist heute Eigentum der Menschheit
geworden. Sie läßt sich nicht als nationaler Besitz in Beschlag nehmen.
Forderungen nach einer unter nationalen Kriterien gesäuberten Kultur hätten
für alle Völker skurrile Folgen. Die Deutschen müßten zu Wotan
und Freia zurückkehren und sich wieder mit Bärenfällen kleiden, da
auch die materielle Kultur, die Technik und Produktionsweisen sich in einer langen
Geschichte kulturellen Austausches entwickelt haben. Dieser Regreß wäre
ein logische Konsequenz.
Als moderner Verfassungsstaat schützt die Republik die kulturelle Freiheit.
Im Unterschied zum Nationalismus öffnet sich der Republikanismus dadurch für
kulturelle Vielfalt und kulturelle Dynamik. Die Republik ist multikulturell.
Zur Freiheit der Kultur gehört die Freiheit der Weltanschauungen, des religiösen
Glaubens und der religiösen Praxis, der künstlerischen Gestaltung und
der individuellen Wahl bei der Aneignung kultureller Werte im weitesten Sinne, also
auch Freiheit des Geschmacks im Alltag der Bürger. In diesem Sinne heißt
es in Art. 4 Abs.1 und 2 des GG: "Die Freiheit des Glaubens, des Gewissens
und die Freiheit des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses sind unverletzlich..Die
ungestörte Religionsausübung wird gewährleistet." In Artikel
5 GG wird die Freiheit der Kunst, der Wissenschaft, der Forschung und Lehre in die
kulturelle Freiheit einbezogen: "Kunst und Wissenschaft, Forschung und Lehre
sind frei." Kulturelle Freiheit bedeutet ferner, daß religiöse Überzeugungen
und kulturelle Werte von Minderheiten nicht nur geduldet, sondern von ihnen auch
aktiv vertreten werden dürfen. So heißt es in Abs. 1 des Artikels 5:"Jeder
hat das Recht, seine Meinung in Wort, Schrift und Bild zu äußeren und
zu verbreiten...Eine Zensur findet nicht statt."
In allen menschlichen Gesellschaften findet sich kulturelle Vielfalt. Kulturelle
Homogenität im Sinne fugenloser, konfliktfreier Übereinstimmung kultureller
Werte hat es nie und nirgendwo gegeben. Über die Neuinterpretation der Überlieferung
oder aus kulturellem Austausch bildet sich kultureller Pluralismus. Damit entstanden
auch kulturelle Konflikte. Diese waren der Motor des kulturellen Wandels. In diesem
Sinne sind die Gesellschaften aller Zeiten multikulturell gewesen.
In der Republik wird diese in allen Gesellschaften enthaltene kulturelle Vielfalt
und Dynamik ausdrücklich verfassungsrechtlich geschützt. In der Republik
gibt es keine nationale Religion, keine nationale Kunst, keinen nationalen Geschmack,
Religion und Weltanschauung sind frei. Jeder Versuch, einem Deutschen, Franzosen
oder Amerikaner Angehörige einer bestimmten christlichen Konfession sein wollen,
ob sie zum Buddhismus, zum Islam oder zur Bahai-Religion konvertieren möchten
oder ob sie sich ohne religiöse Bindung den säkularisierten Teilen der
Gesellschaft zurechnen, ist allein ihre persönliche Entscheidung. Gleiches
gilt für die Aneignung kultureller Werte. (...)
...die deutsche Kultur Kultur des 19.Jahrhunderts war nicht identisch mit der Kultur
vorausgegangener Jahrhunderte. Der aus dem Geist des deutschen Idealismus und der
Romantik geschaffene Bildungskanon des 19.Jahrhunderts, der immer nur für eine
Minderheit (etwa 3 Prozent der Bevölkerung), verbindlich war, ist heute diffus
geworden. Nach dem zweiten Weltkrieg hat ein Kulturrevolution stattgefunden, die
den Bildungshorizont demokratisiert und bereichert hat. Bei Versuchen der Bestimmung,
was heute das spezifisch Deutsche an unserer Kultur ausmacht, wird es weit vielstimmigere
und verschwommenere Antworten gegen als im 19. Jahrhundert.
Der innerste Kern, das Herzstück kultureller Freiheit und kultureller Pluralität,
ist die Freiheit des religiösen Glaubens und der Weltanschauungen. Diese Freiheit
wurde in den Vereinigten Staaten, dem ersten modernen Verfassungsstaat, durchgesetzt.
Amerika war von Anbeginn an eine Fluchtburg für religiös Verfolgte und
Heimstaat für gläubige unterschiedlicher christlicher Konfessionen. (...)
Die religiöse Homogenität der deutschen Territorialstaaten hat sich seit
Beginn des 19. Jahrhunderts und auch dann nur langsam aufgelockert. In München
erhielt ein Protestant erstmals im Jahre 1801 das Bürgerrecht. Trotz der durch
die industrielle Revolution ausgelösten Mobilität der Menschen blieben
die meisten Gegenden Deutschlands bis Ende des Zweiten Weltkriegs religiös
homogen. Die Bewohner protestantischer und katholischer Dörfer lebten jahrhundertelang
ohne soziale Beziehungen nebeneinander. Heiraten von Dorf zu Dorf gab es nicht.
[Welche Inzucht igitt! MB] Erst nach dem Zweiten Weltkrieg haben sich die Regionen
durch die Flüchtlingsströme und die Zunahme der beruflichen Mobilität
konfessionell durchmischt und die Beziehungen der Konfessionen entspannt.
Religion und Konfession prägten die Kultur aller europäischen Völker
wie wenige andere Faktoren. Bis zum 19. Jahrhundert war die Konfession für
die Europäer weit wichtiger als die Volkszugehörigkeit. Den lutherischen
Bürgern Wismars und Stralsunds waren die lutherischen Herrscher Schwedens sympathischer
als die kalvinistischen Könige Preußens. Sie fühlten sich daher
unter der Herrschaft der schwedischen Krone besser aufgehoben. Katholiken und Protestanten
waren in Deutschland durch tiefe Gräben unterschiedlicher kultureller Werte
und Lebensformen voneinander getrennt. Diese Unterschiede zeigen sich noch heute
in den Einstellungen und Verhaltensweisen längst säkularisierter Protestanten
und Katholiken.
Deutschland war somit durch seine konfessionelle Gespaltenheit schon immer in besonders
ausgeprägter Form eine multikulturelle Gesellschaft. Dies wird in der zeitgenössischen
Polemik gegen die multikulturelle Gesellschaft als Folge weiterer Zuwanderung von
Ausländern vergessen.
Die hysterischen Reaktionen gegen die multikulturelle Gesellschaft weisen fatale
Untertöne auf. In ihnen äußert sich die Sehnsucht nach einer kulturellen
nationalen Homogenität, die gerade in Deutschland nie existierte und dies erst
recht nicht in der heutigen deutschen Gesellschaft geben kann, in der neben den
Gläubigen der christlichen Konfessionen und Sekten eine Mehrheit säkularisierter
Bürger lebt und sich eine beträchtliche Zahl außereuropäischer
Religionen zugewandt hat. Es wurde schon gesagt: Deutsche dürfen, wenn sie
wollen, Moslems, Buddhisten oder Hindus werden und sich kulturelle Werte dieser
Religionen zu eigen machen. Dieses Recht muß auch für Staatsbürger
nichtdeutscher Herkunft und für Ausländer gelten, die keine Deutschen
sind oder werden wollen. Die haßvolle Kampagne gegen eine multikulturelle
Gesellschaft führt zurück in die Zeit der Religionskriege. Sie ist unvereinbar
mit dem Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland und der Verfassung jeder Republik.
Kulturelle Freiheit findet ihre Grenzen in den Grundwerten der Verfassung und in
der Rechtsordnung. Da religiöse Konflikte häufig nicht durch Kompromiß
gelöst werden können, wird über die Grenzen der kulturellen Freiheit
gestritten werden. Wie die Geschichte der Durchsetzung der Zivilehe oder die Verweigerung
der Bluttransfusion durch die Zeugen Jehovas demonstrieren - das Blut gilt für
sie als Sitz der Seele-, sind Auseinandersetzungen über die mögliche Reichweite
der religiös-kulturellen Freiheit nicht nur mit Anhängern des islamischen,
sondern auch mit anderen Varianten des Fundamentalismus möglich. Diese Konflikte
müssen im Rahmen der Rechtsordnung ausgestanden und ausgetragen werden. (...)
Die Integration konfliktiver, nicht kompromißfähiger religiöser
Positionen ist sicherlich das schwierigste Problem des politischen Entscheidungsprozesses
der Republik. Seine Bewältigung wird nur durch Achtung und Toleranz auf seiten
jener möglich sein, die diese Position nicht teilen.
(D.Oberndörfer, Der Wahn des Nationalen S. 47ff)
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Most recent revision: April 07, 1998
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Martin Blumentritt