Nach Auschwitz
Ein Essay über die Aktualität Adornos
"Das Entsetzen, das einstweilig in Auschwitz kulminierte, bewirkt mit einer Logik, die dem Geist immanent ist, dessen Regression. Über Auschwitz läßt sich sprachlich nicht gut schreiben; auf Differenziertheit ist zu verzichten, wenn man deren Regungen treu bleiben will, und doch fügt man mit dem Verzicht wiederum der allgemeinen Rückbildung sich ein." Theodor W. Adorno Stichworte, Juni 1969


Ein Essay arbeitet mit bereits Durchgearbeitetem, Durchdachtem. Dieser Gedanke ist nicht neu; Georg Lukács schrieb 1910 an seinen Jugendfreund Leo Popper: "... der Essay spricht immer von etwas bereits Geformtem, oder bestenfalls von etwas schon dagewesenem; es gehört zu seinem Wesen, daß er nicht neue Dinge aus einem leeren Nichts heraushebt, sondern solche, die schon irgendwann lebendig waren, aufs neue ordnet. Und weil er sie nur aufs neue ordnet, nicht aus dem Formlosen etwas Neues formt, ist er auch an sie gebunden, muß er immer 'die Wahrheit' über sie aussprechen, Ausdruck für ihr Wesen finden." (1)
Adorno liebte die Arbeiten des jungen Lukács "Die Seele und die Formen" und "Theorie des Romans", die aus der Welt von 1914 stammen - aus der Zeit von Adornos Kindheit. Wer Adorno kannte und sein Werk kennt, weiß, daß ein Benjaminscher Gedanke ihm bis ins Innerste vermittelt war. "Spüren mochte ich, daß, was man im Leben realisiert, wenig anderes ist, als der Versuch, die Kindheit einzuholen." (2) Daß dies aus anderen als aus lebensgeschichtlichen Gründen nicht möglich war, davon zeugt der Untertitel seiner großen Aphorismensammlung, die manchem für sein Hauptwerk (3) halten: "Reflexionen aus dem beschädigten Leben". Adornos "Minima Moralia", die diesen merkwürdigen Untertitel tragen, zeichnen sich nicht allein dadurch aus, daß sie in der Fremde des Exils entstanden sind, sondern auch durch die absolute und bewußte Zeitgenossenschaft zu Auschwitz. Wenn die Beschädigung des Lebens allein in einer Verbannung bestanden hätte, wäre - wie in einem antiken Drama - am Ende Katharsis möglich gewesen. Faschismus, Krieg und Tod hätten zwar Narben hinterlassen, aber eine dauernde Beschädigung ist dem Überlebenden durch die Zeitgenossenschaft von Auschwitz zugefügt worden, die sein restliches Leben mit der Schuld des bloßen Entronnenseins belastet.
Bis in die Formulierung hinein teilte Adorno dies Bewußtsein mit seinem älteren Freund Max Horkheimer. Mit ihm gemeinsam hatte er 1944 das Schlüsselbuch zur Erkenntnis der Epoche abgeschlossen: "Dialektik der Aufklärung" (4) Aber Adorno hat nach der "Dialektik der Aufklärung" noch zwanzig Jahre lang ein beeindruckendes (Euvre produziert, das mit der "Philosophie der Neuen Musik" beginnt und mit der "Negativen Dialektik" endet. Erst heute, vierzig Jahre nach "Minima Moralia" und zwanzig Jahre nach Erscheinen der "Negativen Dialektik", wird uns bewußt, von welcher Schwerkraft die "Negative Dialektik" bewegt wird, weil wir heute selbst klarer als zuvor wissen, daß auch wir vierzig Jahre lang von dieser Kraft bewegt worden sind. Das Leben nach Auschwitz erfährt sich als beschädigtes, das zur Selbstreflexion zwingt. Kein anderer hat diese Erfahrung in allen seinen Arbeiten so bewußt gemacht wie Adorno. In der Tat: Auschwitz affiziert alles, was nach ihm kommt.
Schon 1947 begann Adorno, der weltgeschichtlichen Katastrophe, die im Universum der Konzentration- und Vernichtungslager kulminierte, den Namen _Auschwitz_ zu geben. Auschwitz ist kein Begriff, sondern ein Name, der Besonderes bezeichnet, das sich dem einfachen Common Sense entzieht. Aber Auschwitz bezeichnet den Ort, an dem es geschah, der nur mit Belzec, Sobibór und Treblinka auf einer Linie liegt, nicht mit anderen Orten von qualitativ anderen Verbrechen - und er bezeichnet ihn in der Sprache derer, die diese Tat begangen, der deutschen Sprache. Das nach dem Fernsehfilm in Mode gekommene Holocaust hat keine Dimension in der Alltagssprache, macht die Tat zu einem bloß Fremden und bezeichnet das bedrohlich Nahe mit einem Fremdwort. "Fremdwörter sind die Juden der Sprache" heißt ein Aphorismus aus den "Minima Moralia". Der Name Auschwitz betont Einheit und Differenz mit der antisemitischen Tradition. Eine der infamsten Machinationen antisemitischer Technik besteht darin, allein durch das unverständliche Fremdwort den Juden die Schuld am Antisemitismus in die Schuhe zu schieben. Antisemiten und Juden sind dem Autochthonen fern, aber man hört mehr über die Juden, unter denen man sich gut etwas Falsches vorstellen kann, als über die Antisemiten. "Antisemitismus ist das Gerücht über die Juden", heißt es auf derselben Seite der "Minima Moralia". (5)
Adorno nannte sein letztes große Werk, die "Negative Dialektik", sein "dickes Kind". Merkwürdig, wenn Adorno auf den letzten Seiten in seinem von ihm selbst als opus magnum betrachteten Buch auf Kindheitsassoziationen zu sprechen kommt. Und ich kann mich noch gut daran erinnern, wie vor zwanzig Jahren manche abgefeimten Geister über die apolitische Zeitlosigkeit der Adornoschen Buches den Kopf geschüttelt haben. Nichts wäre aktuell an ihm außer dem imprimierten Datum: 1966. Aber diese Kindheitserinnerungen streben auf die Erkenntnis zu, daß die Beschädigung des Lebens die Verwirklichung der Kindheit dem erwachsenen Manne versagt. Erst wenn diese Versagung erfahren wird, läßt sich der Zwang spüren, der im kategorischen Imperativ steckt. "Hitler hat den Menschen im Stande ihrer Unfreiheit einen neuen kategorischen Imperativ aufgezwungen: Ihr Denken und Handeln so einzurichten, daß Auschwitz nicht sich wiederhole, nichts Ähnliches geschehe." (6) Aber höchste Vorsicht ist geboten: die Anstrengung des Begriffs, die Adorno zum Kapitel "Nach Auschwitz" führte, darf nicht zu bloßen Zitaten verdinglicht werden. Sonst wird dem von Adorno formulierten kategorischen Imperativ ein ähnliches Schicksal bereitet werden wie Adornos berühmten Diktum, es sei barbarisch, nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben.
Beide Dikta, der neue kategorische Imperativ und das über die Barbarei von Lyrik nach Auschwitz, sind miteinander vermittelt. Dem verdinglichten Bewußtsein entgeht diese Vermittlung. Der neue kategorische Imperativ folgt aus der ersten "Meditation über Metaphysik", die Adorno mit "Nach Auschwitz" überschrieben hat. Der kategorische Imperativ steht am Anfang der zweiten Meditation, die "Metaphysik und Kultur" heißt. Um die Schroffheit des Adornoschen Imperativs zu widerstehen, muß man weiterlesen. "Dieser Imperativ ist so widerspenstig gegen seine Begründung wie einst die Gegebenheit des Kantischen. Ihn diskursiv zu behandeln, wäre Frevel.." (7) Adorno hat all dies geschrieben, längst bevor Fersehserien Auschwitz in das Alltagsbewußtsein integrierten, längst bevor pädagogische Kohorten sich auf Auschwitz als "Unterrichtseinheit" spezialisierten und längst bevor - wissenschaftlich verkleidet - über Singularität und Vergleichbarkeit von Auschwitz öffentlich debattiert wurde. Die Tendenz zur Vereinnahmung von Auschwitz durch die Kulturindustrie ist vor zwanzig Jahren offensichtlich schon absehbar gewesen. Gegen diese Tendenz sperrt sich der neue kategorische Imperativ. Aufklärung in Deutschland hat es nicht zu viel, sondern zu wenig gegeben. Deswegen rekurriert Adorno immer wieder auf Kant. Als er 1965 auf die abscheuliche Frage "Was ist deutsch" antworten sollte, erläuterte er es an einem unverstellten Kant, der gar nicht in ein nationales Weltbild paßt: "Nur im Einzelnen verwirklicht sich, Kant zufolge, das Allgemeine der Vernunft. Wollte man Kant als Kronzeugen deutscher Tradition sein Recht verschaffen, so bedeutete das die Verpflichtung, der kollektiven Hörigkeit und der Selbstvergötzung abzusagen." (8) Adornos kategorischer Imperativ verschafft Kant dieses Recht. Aber verändert haben sich Zeit und Raum und damit der Imperativ selbst. Kants "Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, daß sie ein allgemeines Gesetz werde" setzt Autonomie unter Abstraktion von allen geschichtlich-gesellschaftlichen Bedingungen. Kants Satz lokalisiert sich am _Übergang_ von der Vorgeschichte zur menschlichen Geschichte, die - wie man wohl weiß - für Kant nur auf der Grundlage einer bürgerlichen Gesellschaft denkbar ist. Adorno formuliert den kategorischen Imperativ nach dem _Ende_ der bürgerlichen Entwicklung, die zu einer weltgeschichtlichen Katastrophe geführt hat. Ihm geht etwas voraus, das erinnert werden muß: _Auschwitz_.
Jedem Kenner Kantischer Philosophie wird auffallen, daß Erkenntnis bei Kant doch nicht wirklich in einem geschichtslosen Raum angesiedelt ist, wie es bei der Lektüre des kategorischen Imperativs scheint. Die transzendentale Deduktion der reinen Verstandesbegriffe läßt sich nur leisten, wenn Kant die ursprünglich-synthetische Einheit der Apperzeption einführt: "Das: Ich denke, muß alle meine Vorstellungen begleiten können..." Wie wenig willkürlich Adornos Wahl der imperativischen Form zu begreifen ist, läßt sich nur daran ablesen, daß Auschwitz eine zentrale Bedeutung in Adornos Erkenntniskritik gesellschafticher Tatbestände einnimmt. Eine Reflexion auf die Apperzeption findet sich nicht in der "Negativen Dialektik", aber zwanzig Jahre zuvor in den "Minima Moralia". "Sind aber die Triebe nicht in Gedanken, der solchem Bann sich entwindet, zugleich aufgehoben, so kommt es zur Erkenntnis überhaupt nicht mehr, und der Gedanke, der den Wunsch, seinen Vater, tötet, wir von der Rache der Dummheit ereilt. Gedächtnis wird als unberechenbar, unzuverlässig, irrational tabuiert. Die daraus folgende intellektuelle Kurzatmigkeit, die im Ausfall der historischen Dimension des Bewußtsein sich vollendet, setzt unmittelbar die synthetische Apperzeption herab, die Kant zufolge von der "Reproduktion in der Einbildung" dem Erinnern, nicht zu trennen ist."(9)
Schon 1945 formuliert Adorno Adorno - sozusagen a priori - das Gesetz der kommenden Epoche: den Ausfall der historischen Dimension des Bewußtseins. Das heißt nichts anderes als das Vergessen von Auschwitz. Schon 1950 muß Adorno konstatieren: "Unterdessen gilt bereits an Auschwitz zu erinnern für langweiliges Ressentiment." (10) Zu Adornos Neuformulierung des kategorischen Imperativs muß ebenso eine Reformulierung der synthetischen Apperzeption treten, die nur so lauten kann:"_Ich denke an Auschwitz" muß alle meine Vorstellungen begleiten können._ Adornos Werk von "Minima Moralia" bis zur "Negativen Dialektik" zeugt für diese Einheit, die ihren Ursprung im weltgeschichtlichen Schrecken von Auschwitz hat.
Bekanntlich erregte Adornos Diktum Aufsehen: "...nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben, ist barbarisch." Es traf den Kulturbetrieb ins Herz, aber der erholte sich schnell wieder und begann, Adornos Kulturkritik zu assimilieren. Der Kulturbetrieb durchtrennte die von Adorno bewußt entwickelte Dialektik von Kultur und Gesellschaft: Kulturelle Objektivation, also auch Kunstwerke, werden als geschichtlich-gesellschaftliche spezifische Produkte analysiert; sie sind nicht, wie die affirmative Kultur einst wollte, dem gesellschaftlich-geschichtlichem Prozeß entzogen. Als verkitschter Inbegriff dieser gesellschaftsfreien Kunst gilt gemeinhin Lyrik. "Was wir jedoch mit Lyrik meinen, ehe wir den Begriff sei's historisch erweitern, sei's kritisch gegen die individualistische Sphäre wenden, hat, je 'reiner' es sich gibt, das Moment des _Bruches_ in sich. Das Ich, das in der Lyrik laut wird, ist eines, das sich als dem Kollektiv, der Objektivität entgegengesetztes bestimmt und ausdrückt; mit der Natur, auf die sein Ausdruck sich bezieht, ist es nicht unvermittelt eins. Es hat sie gleichsam verloren und trachtet sie durch Beseelung, durch Versenkung ins Ich selber wiederherzustellen." (11) Lyrik anthropomorphisiert Objektivität. Der Bruch läßt sich nicht mehr klassisch als der von Gesellschaft und Natur fassen, der noch die große bürgerliche Lyrik antrieb, sondern der Bruch wird jetzt markiert durch Auschwitz - ein innergeschichtlicher Bruch, den zu vermenschlichen ihm verharmlosen hieße. In einem dem "Gedächtnis Eichendorffs" gewidmet Essay erweitert Adorno das Diktum über Gedichte nach Auschwitz auf die Beziehung zur Lyrik vor Auschwitz: "An dem avancierten Bewußtsein wäre es, das Verhältnis zum Vergangenen zu korrigieren, nicht indem der Bruch beschönigt wird, sondern indem man dem Vergänglichen am Vergangenen das Gegenwärtige abzwingt und keine Tradition unterstellt. Sie gilt so wenig mehr wie umgekehrt der Glaube, die Lebenden hätten Recht gegen die Toten, oder die Welt finge mit ihnen an." (12)
Mit der Lyrik geht es wie mit allen geistigen Gebilden; sind sind nicht von dem gesellschaftlich-geschichtlichen Konflikt suspendiert, er geht mitten durch sie hindurch. Lyrik hieße, die Möglichkeit menschlicher Erfahrung wiederherstellen gegen die Beschädigung des Lebens. Gerade die Geschichtslosigkeit, die dem Tauschprinzip des ewigen Quidproquo entspricht, entzieht die Lyrik die Möglichkeit von Erfahrung. Nach Auschwitz kann die Kultur nicht einfach so wiederauferstehen, wie sie war, in der alten Trennung von gesellschaftlicher Selbsterhaltung und affirmativer Kultur. Diese Arbeitsteilung gehört selbst zur Vorgeschichte von Auschwitz. Affirmative Kultur befand sich in der Weimarer Republik schon längst in der Transformation zur Kulturindustrie, von der die Nationalsozialisten ebenso gut Gebrauch machen konnten wie von der arisierten Betrieben. Diese Kulturindustrie hat mehr als die Erfahrung das Bild der Massen von der Welt geprägt, weil sie Erfahrung substituiert. Viet Harlems "Jud Süß"-Film hat noch Jahrzehnte das kollektive Bewußtsein bis in seine Untertöne hinein geformt - nämlich in dem Sinne, daß den Juden schon ein gerechte Strafe widerfahren sei. Wenn falsches Bewußtsein von Erfahrung sich trennt, dann reproduziert die Trennung von Produktion und Kultur die totale Verdinglichung. Dieses Faktum greift nicht nur die Lyrik, die Kunst, sondern auch die Theorie an. Aber diese Spitze hat der Kulturbetrieb dem Adornoschen Diktum, nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben, sei barbarisch, abgebrochen. Vollständig heißt es: "...nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben, ist barbarisch, und das frißt auch die Erkenntnis an, die ausspricht, warum es unmöglich ward, Gedichte zu schreiben." (13) Wie wenig zufällig diese zusammengehörige Formulierung von 1951 ist, zeigt die Wiederaufnahme dieses dialektischen Gedankens im Abschnitt: "Metaphysik und Kultur, in dem auch der neue kategorische Imperativ steht: "Alle Kultur nach Auschwitz, samt der dringlichen Kritik daran ist Müll." Aber in der Wegwerfgesellschaft, die zweifellos geistige Produkte nicht ausnimmt, hallt das verzerrende Echo des Adornosatzes wider: "Alle Kultur nach Auschwitz...ist Müll." Adornos Kritik der theoretischen Kritik wird beim Zitieren weggelassen, vergessen. Pseudokritik ersetzt Kritik. Aber erst die Dialektik von Kultur und Kritik macht die von Adorno intendierte negative Dialektik aus: "Erheischt negative Dialektik die Selbstreflexion des Denkens, so impliziert das handgreiflich, Denken müsse, um wahr zu sein, heute jedenfalls, auch gegen sich selbst denken. Miß es sich nicht an dem Äußersten, das dem Begriff entflieht, so ist es vorweg vom Schlag der Begleitmusik, mit welcher die SS die Schreie ihrer Opfer zu übertönen liebte." (15)
Sichtbar wird der Schuldzusammenhang, dem sich keiner entziehen kann und in dem doch die Vielen unterschiedlich schuldig sind. Auf eine Gesellschaft, die es gewohnt ist, auch zwischen Tat und Schuld das Tauschprinzip wirksam sein zu lassen, wirkt es provozierende, daß es nichts geben soll, das nicht "rein", also frei von Schuld wäre. Lyrik eben oder Anne Frank zum Beispiel. "Man hat mir die Geschichte einer Frau erzählt, die einer Aufführung des dramatisierten Tagebuchs der Anne Frank beiwohnt und danach erschüttert sagte: 'Ja, aber _das_ Mädchen hätte man doch wenigstens leben lassen sollen.'" (16) Durch die Arbeit der Kulturindustrie wird die reale Schuld fixiert an äußerliche Merkmale, aber der Zusammenhang bleibt der Erkenntnis entzogen. Im Kleinen nimmt der Fall dieser Frau, von dem Adorno berichtet, die Welle sentimentaler Erschütterung vorweg, die Ende der siebziger Jahre der Holocaust-Film im Fernsehen auslöste. Auf der Ebene steuerungsfähiger Sentiments konnte diese Welle überkippen in eine neue, die sich aus bloßer Pietät als Wunsch nach "nationaler Identität" tarnt, aber schon im Historikerstreit einmündet in die allgemeine Relativierung von Auschwitz. Schon sind die Gefühle auf das Meer hinausgeschwommen, auf dem die Stürme der Geschichte toben, und wo sich jeder selbst der nächste ist. Adornos politisch-soziologische Essays enthalten eine Fülle von Hinweisen auf die drohende Wiederkehr des Nationalismus - zu einem Zeitpunkt, also vor zwanzig, dreißig Jahren, als niemand etwas davon hören wollte. Nationalismus galt als überholte Angelegenheit des 19. Jahrhunderts. Widerwillig hat das allgemeine Bewußtsein zugegeben, daß der Zwillingsbruder des europäischen Nationalismus, der Antisemitismus, zumindestens bis in die Mitte des 20.Jahrhunderts eine wesentliche Rolle spielte. Die Wiederherstellung einer unproblematischen Welt soll nicht nur im Kulturellen, sondern auch im Politischen gelingen. Diese Dynamik hat Adorno schon Mitte der sechziger Jahre entschlüsselt: "Sozialpsychologisch wäre ... die Erwartung anzuschließen, daß der beschädigte kollektive Narzißmus darauf lauert, repariert zu werden, und nach allem greift, was zunächst im Bewußtsein die Vergangenheit in Übereinstimmung mit den narzißtischen Wünschen bringt, dann aber womöglich auch noch die Realität so modelt, daß jene Schädigung ungeschehen gemacht wird." (17)
Als natürwüchsiger Fluchtpunkt des Bewußtseins vor der vollen Einsicht in den Schrecken läßt sich Kultur begreifen. Eine Passage, betitelt "Weit vom Schuß" aus dem Herbst 1944, findet sich in "Minima Moralia", in der Adorno als Zuschauer der Wochenschau und als Hörer des Radios erscheint. "Der Gedanke, daß nach diesem Krieg das Leben 'normal'weitergehen oder gar die Kultur 'wiederaufgebaut' werden könnte - als wäre nicht der Wiederaufbau von Kultur allein schon deren Negation -, ist idiotisch. Millionen von Juden sind ermordet worden, und das soll ein Zwischenspiel sein und nicht die Katastrophe selbst. Worauf wartet diese Kultur eigentlich noch?" (18) Um Wiederaufgebaut zu werden, muß die Kultur ein Stück kritischen Bewußtseins aus sich ausscheiden. Das macht sie vollends zur Ideologie, die auch die Toten nicht ruhen läßt. Zehn Jahre später notiert Adorno: "Die Beziehung zur geistigen Vergangenheit in der falsch auferstandenen Kultur ist vergiftet." (19)
Kulturkritik faßt Adorno nicht als ein Nörgeln aus der kulturkonservativen Ecke auf, sondern als ein Stück Entgiftungsarbeit. An keinem Sujet läßt sich dies so gut ablesen wie an Adornos Versuchen über Wagner, die kompromißlos jeder Verharmlosung entgegenwirken. 1952 ließ er für die Buchfassung von "Versuch über Wagner" das erste Kapitel so gut wie unberührt, das er schon 1938 abgeschlossen und in der "Zeitschrift für Sozialforschung " publiziert hatte. Es enthält einige Schwächen einer geschichtlich allzu zusammengezogenen Perspektive, die auch in Horkheimers großartiger gleichzeitigen Arbeit "Egoismus und Freiheitsbewegung": zur Anthropologie des bürgerlichen Zeitalters" zu konstatieren sind. Aber überzeugend wirkt der Grundgedanke, daß Beginn und Ende des bürgerlichen Zeitalters ähnlich idiosynkratische Merkmale hervorbringen. Der Antisemitismus Wagners wird von Adorno weder bezweifelt noch abgestritten, sondern analysiert. Der Antisemitismus Wagners entsteht aus mißglückter Emanzipation, die an den gesellschaftlichen Verhältnissen scheitert. Wagner durchschaut dieses Scheitern nicht: "Bilden im gesellschaftlichen Lebensprozeß die 'versteinerten Verhältnisse' eine zweite Natur, so schaut Wagner diese als erste an. Sein Antisemitismus spricht sich von Anbeginn - 1850 in Naturkategorien: denen der Unmittelbarkeit und des Volkes, aus und bringt dieses bereits in Gegensatz zum 'Liberalismus'..."(20) Das Ausbrechen des Wagnerschen Antisemitismus nach der gescheiterten Revolution von 1848/49 wirft ein Licht nach vor auf die Konstitution des deutschen Imperialismus und einen Schatten nach hinten, auf den Vormärz. Durch die musikalische Analyse eröffnet Adorno, die historische Dimension des Bewußtseins: "Der Aspekt nach außen gewandter Totalität, der die Symphonik von der Kammermusik scheidet, ist bei Wagner - er hat, außer der ursprünglichen Fassung des Siegfriedidylls, keine Kammermusik geschrieben - zur politischen Extroversion geworden."(21)
Im Abschnitt "Nation" der "Einleitung in die Musiksoziologie" wird die deutschnationale Quelle von Wagners Kunst sichtbar gemacht, die doch einer vernünftigen List unterliegt. "Wagners Musik, und die seiner Schule, der neudeutschen, zu der auch Komponisten sehr anderen Geistes wie Bruckner, Strauss, Mahler und noch der frühe Schönberg rechneten, hat buchstäblich, wie die Journalistenphrase es nennt, 'die Welt Erobert'. Dadurch hat sie wider Willen eine Art von künstlerischem Kosmopolitismus vorbereitet." (22) Kaum getrennt sind Kosmopolitismus und Nationalismus in der Phase der vormärzlichen Emanzipationsbewegung. Wagner bezieht sich in seinem Aufsatz über das Judentum in der Musik auf Börne, den er für gerettet erklärt, weil er aufgehört hat, Jude zu sein. Wagners Programm: "Die Erlösung Ahasver's, - der Untergang!" 1938 kommentiert Adorno diesen erschreckenden Schluß: "Ungeschieden liegen darin beisammen der Marxsche Gedanke von der gesellschaftlichen Emanzipation der Juden als der Emanzipation der Gesellschaft von Profitmotiv, für das es symbolisch einstehen, und der _von der Vernichtung der Juden selber_"(23 [Hervorhebung, D.C.] Es handelt sich nicht um eine zufällige Formulierung. Adorno nimmt das Vernichtungsversprechen des modernen Antisemitismus völlig ernst, weil er die naturhafte Begründung desselben kennt. Sie liegt in der Idiosynkrasie. Bei Wagner findet er vorgedacht und gestaltet, was am Ende der bürgerlichen Epoche steht: "Während das Subjekt zugrunde geht, negiert er alles, was nicht seiner Art ist." (24)
Eingeschlossen ist dieses Potential im Satz Siegfrieds, der auch an prominenter Stelle in der "Dialektik der Aufklärung" erscheint: "Ich kann dich ja nicht leiden - Vergiß das nicht so leicht", sagt er zu dem von Adorno als Judenkarikatur entschlüsselten Mime. Das Begründungslose der Idiosynkrasie scheint auf, an ihm ist die Gewalt. "Davon, ob der Inhalt der Idiosynkrasie zum Begriff erhoben, das Sinnlose seiner selbst inne wird, hängt die Emanzipation der Gesellschaft vom Antisemitismus ab. Idiosynkrasie aber heftet sich an Besonderes. Als natürlich gilt das Allgemeine, das, was sich in die Zweckzusammenhänge der Gesellschaft einfügt." (25) An Wagners Werk läßt sich entschlüsseln, was vor Auschwitz war und nach Auschwitz kommt. In dem 1963 geschriebenen Vortrag "Wagners Aktualität" wird die Arbeitsweise Adornos sichtbar: "Kunstwerke als ein Geistiges sind nichts in sich Fertiges. Sie bilden ein Spannungsfeld aller möglichen Intentionen und Kräfte, von inwendigen Tendenzen und ihnen Widerstrebenden, von Gelingen und notwendigem Mißlingen. Objektiv lösen aus ihnen immer neue Schichten sich ab, treten hervor; andere werden gleichgültig und sterben. Das wahre Verhältnis zu einem Kunstwerk ist nicht sowohl, daß man es, wie man so sagt, einer neuen Situation anpaßt, als daß man, worauf man geschichtlich anders reagiert, im Werk selbst entziffert." (26) Dies gilt nicht minder für das theoretische Denken. Offensichtlich wird erst heute sichtbar, daß im Zentrum des Adornoschen Werkes Auschwitz steht. In der nun schon gewaltigen Literatur über Adorno ist dies nicht zu finden; das (Euvre wird arbeitsteilig aufgespalten, sein Reichtum in seine Einzelheiten verfolgt, aber der immanente geschichtsphilosophische Zusammenhang scheint mit eher in den Worten aufgehoben, die vor fast zwanzig Jahren in öffentlicher Veranstaltung ausgesprochen wurden. Ich zitiere nach dem Tonband: "Es gehört wahrscheinlich zu den zentralen Erfahrungsgehalten der kritischen Theorie, zumal der Adornos, daß sie festgestellt hat, daß Auschwitz kontingent ist auch gegenüber den Kriterien der politischen Ökonomie. Adorno hat Auschwitz zum Kontingenz-Begriff, zum Irrationalitätsbegriff von Geschichte gemacht; Auschwitz hat Adorno zufolge zufolge das Schreckbild einer Menschheit ohne Erinnerung uns nahe gebracht." (27)
Nach Auschwitz nimmt das Schreckbild einer Menschheit ohne Erinnerung reale Gestalt an. Diesem Schreckbild wirkt Adornosche Gesellschaftskritik entgegen. Mythos als gestaltetes Verderben ist zu unterscheiden von nackter Barbarei. Gegen eine bloß ideologische Kritik Wagner argumentiert Adorno vehement: "Es gibt keinen 'Wagner ohne Musik'. Läßt der Betrachter diese weg, so ist alle Kritik ohnmächtig und verharrt auf der Peripherie; andererseits läßt die Musik in weitem Maße sich gesellschaftlich dechiffrieren." (28) In der Gewalt der Wagnerischen Musik wird Erinnern und Vergessen zum Thema. Nicht Kunst und Wirklichkeit fallen unmittelbar in eins, sondern durch die Form wird der barbarischen Wirklichkeit die Gewalt genommen. Gerade weil das Wagnerische Werk ein Produkt aus der Epoche vor Auschwitz ist, lebt in ihm die Ambivalenz von bürgerlicher Selbstkritik und Zerstörung aller Kultur, die von den Nationalsozialisten ins Werk gesetzt wurde. Die Musik strukturiert die blinde Gewalt des Mythos, sein Verhängnis wird als gemachtes durchschaubar. Durch Selbstbewußtsein wird der Mythos zu einem qualitativ andren; erinnernde Vorstellung des Verderbens markiert dessen Grenze." (29)
In den Petrifizierungen geistiger Gebilde läßt sich dem veränderten und unveränderten Bewußtsein und Unbewußtsein nach Auschwitz nachgehen; Auflösungen des versteinerten Bewußtseins könnte die Wahrnehmung überhaupt erst öffnen für den geschichtlichen Charakter dieses Verhältnisses von Bewußtsein und Unbewußtsein. An zwei wichtigen Stellen im Werk taucht diese merkwürdige Formulierung von Bewußtsein und Unbewußtsein auf: in dem gemeinsam mit Horkheimer verfaßten Vorwort zu Paul W. Massings Studie "Vorgeschichte des politischen Antisemitismus aus dem Jahre 1959 und im 1951 verfaßten Vorwort zu den "Minima Moralia". Hier wird auch programmatisch festgestellt, warum sich Adorno nicht mit der strikten Warenfetischanalyse zufriedengibt, die auf die hinter dem Schein der Zirkulation liegende Produktion weist. "Die Änderung der Produktionsverhältnisse hängt weithin ab von dem, was sich in der 'Konsumsphäre', der bloßen Reflexionsform der Produktion und dem Zerrbild wahren Lebens, zuträgt: im Bewußtsein und Unbewußtseins der einzelnen. Nur kraft des Gegensatzes zur Produktion, als von der Ordnung doch nicht ganz Erfaßte, können die Menschen eine menschwürdige herbeiführen." (30)
Was auf den ersten Blick als innermarxistische Haarspalterei erscheint, erweist sich als eine notwendige Reflexion auf das, was in Auschwitz geschah. In Auschwitz ist das ohnehin prekäre Gleichgewicht von Produktions- und Destruktionskräften umgeschlagen in die absolute Destruktion, die unmittelbare Produktion des Todes. Der komplizierte Mechanismus von Gebrauchswert und Wert, der die bürgerliche Gesellschaft bestimmt, der auch die Möglichkeit der Befreiung aus ihr begründet, gilt nicht mehr, ist aufgehoben. Es gilt nur noch die absolute Ungleichheit, die schon in der Idiosynkrasie ihre Keimzelle hatte. Es ist ein weitverbreitetes Vorurteil, daß die Lager von Sadisten in SS-Uniform beherrscht gewesen wären. An diesem Vorurteil hat sich besonders die Kulturindustrie geheftet und verkitscht damit Auschwitz, als ob es dort um die Befriedigung perverser Aggressionen und sexueller Lüste gegangen wäre. Unter den Emigranten war schon sehr früh Bruno Bettelheims Bericht einer KZ-Haft bekannt, der von späteren Berichten aus den Todesfabriken nur bestätigt worden ist. Das KZ-System ließ zwar viele Sadismen zu, aber es basierte auf der absoluten Gleichgültigkeit des Tötens. In dem Aphorismus "Unmaß für Unmaß" bedenkt Adorno genau dies: "Was die Deutschen begangen haben, entzieht sich dem Verständnis, zumal dem psychologischen, wie denn in der Tat die Greuel mehr als planvoll-blinde und entfremdete Schreckmaßnahmen verübt zu sein scheinen denn als spontane Befriedigungen. Nach den Berichten von Zeugen ward lustlos gemordet und darum gerade über alles Maß hinaus. Dennoch sieht das Bewußtsein, das dem Unsagbaren standhalten möchte, immer wieder auf den Versuch zu begreifen sich zurückgeworfen, wenn es nicht subjektiv dem Wahnsinn verfallen will, der objektiv herrscht." (31)
Das Begreifen führt weder über eine rationalistisch aufgefaßte politische Ökonomie noch über eine ihrer Grenzen nicht bewußte Psychoanalyse, sondern es führt an die Grenze des theoretischen Denkens selbst, das sich auch seiner Ohnmacht angesichts der Sinnlosigkeit wirklichen Geschehens bewußt werden muß. Die Kritik der politischen Ökonomie kann als Teil einer historisch-materialistischen Theorie die Voraussetzungen zeigen, warum die Nationalsozialisten die Macht haben ergreifen können in Deutschland, warum sie nicht kampflos an der inneren Dynamik zugrunde gehen wollten. Sie kann aber nicht mehr begründen, warum sie das Universum der Konzentrations- und Vernichtungslager aufbauten, sich nicht mit der blutigen Unterdrückung ihrer Gegner und der Arisierung jüdischen Eigentums begnügten. Eine gesellschaftskritisch aufgeklärte Psychoanalyse kann zeigen, warum die Massen in Deutschland Hitler unterstützten, warum sie gegenüber dem Schicksal der designierten Opfer gleichgültig blieben, und daß die Täter monströser Taten wenig Monströses als Einzelwesen besitzen. "Psychologie reicht an das Grauen nicht heran", heißt es bündig in den "Minima Moralia". (32)
Es ist nicht notwendig, aber hinreichend, die subjektiven und objektiven Bedingungen zu kennen, die zu Auschwitz führen. Aber alle wissenschaftliche Erklärung von Auschwitz dient auch der Rationalisierung. Ohne zu freveln, kann man Auschwitz nicht einfach zum Gegenstand wissenschaftlicher Hypothesenbildung machen wie andere Sachverhalte auch. Schon dadurch wird verharmlost. Diese Praxis der Verharmlosung heißt heute "Enttabuisierung" und "Aufhebung von Denkverboten", wobei durchsichtig ist, daß allein die schuldhafte Vergangenheit vergehen soll - neueste Sprachregelung: Historisierung. Schon die Wortungetüme, von Historikern geprägt, zeigen an, daß die Wirklichkeit gemodelt wird für schlecht verhüllte Interessen. Historiker arbeiten heute am geschichtslosen Bewußtsein, indem sie das Ungeheure, ohne sich ihm zu nähern, relativieren, bevor sie es dem erneuten Vergessen überantworten. Das Vergessen gehört aber zur Anthropologie des Zeitalters _vor_ und _nach_ Auschwitz. "Alle Verdinglichung ist ein Vergessen", steht in der "Dialektik der Aufklärung" (33) zu lesen. Adornos Formulierung "Unbewußtsein" soll auf das Gesellschaftsgeformte des Vergessens hinweisen in Abgrenzung vom psychoanalytisch gefaßten Unbewußten.
Zur Anthropologie des bürgerlichen Menschen paßt die Ontologie des Tausches, die auch dem Antisemitismus den Schein der Ewigkeit gibt. Der Tausch abstrahiert von der Besonderheit der Gegenstände und der tauschenden Subjekte. Hinter ihm verbirgt sich latente Gewalttat und Rache, die auch ein grobes Quidproquo ergeben. Schulden und Schuld liegen nahe beinander. Im reinen Tausch erscheint die Sinnlosigkeit; dagegen rebelliert schon die Idiosynkrasie, die sich gegen die Oberfläche des Tausches, die Zirkulation, richtet und gegen sei die Echtheit des Natürlichen kehrt. Dem Bürger erscheint der Tausch, die Abstraktion von Gewalt, natürlich, dem Rebellen die Gewalt. Aber Gewalt und Tausch stehen in Beziehung, der Sinn des Sinnlosen erscheint als Todesschreck. Er blitzt in Adornos Erkenntnis auf: "Das Kreditsystem, indem alles bevorschußt werden kann, selbst die Welteroberung, bestimmt auch die Aktionen, welche ihm und der gesamten Marktwirtschaft ihr Ende bereiten bis hin zum Selbstmord der Diktatur. In den Konzentrationslagern und Gaskammern wird gleichsam der Untergang Deutschlands diskontiert." (34) Damit ist aber ein System in Gang gesetzt, das den gegenwärtigen Weltzustand ziemlich genau umreißt: "Solange es Zug um Zug weitergeht, ist die Katastrophe perpetuiert. Man muß nur an die Rache für die Ermordeten rechnen. Werden ebensoviele von den anderen umgebracht, so wird das Grauen zur Einrichtung und das vorkapitalistische Schema der Blutrache, das seit undenklichen Zeiten bloß noch in abgelegenen Gebirgsgegenden waltete, erweitert wieder eingeführt, mit ganzen Nationen als subjektlosem Subjekt. Werden jedoch die Toten nicht gerächt und wir Gnade geübt, so hat der ungestrafte Faschismus trotz allem seine Sieg weg, und nachdem er einmal zeigte, wie leicht es geht, wird es sich an anderen Stellen sich fortsetzen. Die Logik der Geschichte ist so destruktiv wie die Menschen, die sei zeitigt: wo immer ihre Schwerkraft hintendiert, reproduziert sie das Äquivalent vergangenen Unheils." (35)
Um der Blindheit ewigen Äquivalententausches zu entgehen, bedarf es des Innehaltens und des Abstands. Das Innehalten formuliert Adorno als Widerspruch: "Auf die Frage, was man mit dem geschlagenen Deutschland anfangen soll, wüßte ich nur zweierlei zu antworten. Einmal: Ich möchte um keinen Preis, unter gar keinen Bedingungen Henker sein oder Rechtstitel für Henker liefern. Dann: Ich möchte keinem, und gar mit der Apparatur des Gesetzes, in den Arm fallen, der sich für Geschehenes rächt. Das ist eine durch und durch unbefriedigende, widerspruchsvolle und der Verallgemeinerung ebenso wie der Praxis spottende Antwort." (36) Die zweite Bedingung, sich aus dem Teufelskreis zu entfernen, nennt Adorno in der Überschrift dieser Aphorismen. "Weit vom Schuß." Der Abstand erleichtert das Anschauen, aber durch ihn reproduziert sich die Schuld des Verschonten. Darin hat sich kritische Gesellschaftstheorie verwandelt: War es einst eine Lust die Gesellschaft nach harter intellektueller Anstrengung zu durchschauen, weil dadurch Hoffnung auf Veränderung begründet werden konnte, wird die Last, Geschichte zu erinnern, mit dem Wissen größer, daß vor der Schuld des Verschontseins weder das Exil noch das Nachgeborensein schützt. "Das, nichts anderes zwingt zur Philosophie." (37) Auschwitz verändert auch die kritische Theorie - sie zeigt dem bewußten Willen nicht mehr die objektiven Möglichkeiten, wie es einst bei Horkheimer hieß, sondern sie kann den geöffneten Augen über den Augenblick hinaus Stärke und Dauer des Bewußtseins verleihen.
Durch Analyse und Kritik von materiellen und kulturellen Objektivationen hindurch fällt der Blick auf das Geschehen, vor dem das Bewußtsein spontan ausweichen möchte. Aber es kann sich diesen Anblick nicht ersparen, wenn es nicht Opfer einer bewußtlosen ambivalenten Spannung bleiben will. "Ambivalenz ist ein Verhältnis zum Unbewältigten; man verhält sich ambivalent zu etwas, womit man nicht fertig wurde." (38) Sehen wir weg, wollen wir nicht wissen, was in Auschwitz geschehen ist, bleiben wir bloß Opfer der Ambivalenz. "Man will von der Vergangenheit loskommen: mit Recht, weil unter ihrem Schatten gar nicht leben läßt, und weil des Schreckens kein Ende ist, wenn immer nur wieder Schuld und Gewalt mit Schuld und Gewalt bezahlt werden soll; mit Unrecht, weil die Vergangenheit, der man entrinne möchte, noch höchst lebendig ist." (39)
Was sich spontan für Entronnende und Nachgeborene schwer ertragen läßt, ist die Abwesenheit von Sinn. Der Verstehende muß sein spontante Abwehr überwinden - und eben die "Kälte, das Grundprinzip der bürgerlichen Subjektivität, ohne das Auschwitz nicht möglich gewesen wäre" (40), muß das Individuum aufbringen, um dem entsetzlichen Anblick standzuhalten. Es blick auf eine Welt, die eine anthropologische Relation verändert hat - die Beziehung von Leben und Tod. In seinen "Aufzeichnungen zu Kafka" heißt es: "Die Zone des Nichtsterbenkönnens ist zugleich das Niemandsland zwischen Mensch und Ding..." (41) Diese scheußliche und dürre Abstraktion tangiert das Leben nach Auschwitz; sie schafft ein Bewußtsein, daß es tatsächlich Schlimmeres zu fürchten gibt als den Tod: "In den Konzentrationslagern des Faschismus wurde die Demarkationslinie zwischen Leben und Tod getilgt.. Sie schufen ein Zwischenzustand, lebende Skelette und Verwesende, Opfer, denen der Selbstmord mißrät, das Gelächter Satans über die Hoffnung auf Abschaffung des Todes."(42)
In Vergegenwärtigung dieses Leidens ist Adorno noch mehrfach auf sein eigenes Diktum zurückgekommen. In seinem Essay über "Engagement" 1962 äußert er: "Den Satz, nach Auschwitz noch Lyrik zu schreiben, sei barbarisch, möchte ich nicht mildern; negativ ist darin der Impuls ausgesprochen, der die engagierte Dichtung beseelt." (43) Keine Form von Sinngebung des Leidens im Lager hat Adorno sich abringen lassen, noch in der "Negativen Dialektik" berichtet er: "Einer, der mit einer Kraft, die zu bewundern ist, Auschwitz und andere Lager überstand, meinte mit heftigen Affekt gegen Beckett: Wäre dieser in Auschwitz gewesen, er würde anders schreiben, nämlich, mit der Schützengrabenreligion Entronnener, positiver. Der Entronnene hat anders recht, als er meint; Beckett und wer sonst noch seiner mächtig blieb, wäre dort gebrochen worden und vermutlich gezwungen, jene Schützengrabenreligion zu bekennen, die der Entronnene in die Worte kleidete, er wolle den Menschen Mut geben..." (44) Kaum jemand hat verstanden, daß es Adorno gelang, der abstrakten Alternative zu entgehen, entweder aus der kritischen Gesellschaftstheorie eine Schützengrabenreligion zu machen oder sie in unverbindliche Kulturkritik zu verwandeln. Ohne die implizite neue synthetische Apperzeption wäre das nicht möglich gewesen, das: "Ich denke an Auschwitz, muß alle meine Vorstellungen begleiten können."
Die Rückbildung der kritischen Gesellschaftstheorie, die Gesellschaft vor Auschwitz unter dem Aspekt ihrer Veränderbarkeit beschrieb, führte zu einer Philosophie, die aber nicht mehr wie in der Antike Lehre von richtigen Leben sein konnte. Der Schrecken, de den unmittelbaren Augenzeugen des Lagers blind machte, die ganze Wirklichkeit wahrzunehmen, zwang Adorno zu einer Theorie, "die nicht den Verlust von Erfahrung aus der Erfahrung der Gesellschaft" (45) bestimmt. In der Erfahrung der totalen Herrschaft des blind Abstrakten gründet sich Adornos Konzept des Nicht-Identischen als einem Gegenbegriff zur idealistischen Systemphilosophie, der Identitätsphilosophie. Dieser Begriff ist nicht einfach Umkehrung von Identität, sondern er ist auf der Grenze von Materialismus und Idealismus angesiedelt. In einer frühen Erläuterung an David schreibt er in New York 1944: "The non-identical element must not be nature alone, it also can be man." (46) Nicht-Identisches heftet sich an jüdische Erfahrung, ist aber auf sie nicht beschränkt. Aber die Momente von Einheit und Differenz, von Universalität und Besonderheit werden in der europäischen Geschichte von Juden repräsentiert, die als Individuen wie ein Kollektiv weder mit Herrschaft noch mit der Knechtschaft identisch sind. Das barbarische Ausrottungsunternehmen der Nationalsozialisten sollte diesem Spuk ein Ende bereiten; die nachträgliche Relativierung von Auschwitz zu einer ganz normalen geschichtlichen Grausamkeit wie andere auch, die einfach erklärbar sind mit vom wissenschaftlichen Common Sense empfohlenen Mitteln, versucht noch nachträglich das Besondere auszulöschen in objektiver Komplizenschaft mit dem herrschenden Identitätszwang.
Auschwitz läßt sich nicht bloß als Schlachtbank begreifen, an deren Ende doch das Weltgericht steht. Adornos kritische Philosophie des Nicht-Identischen stammt aus dieser Erfahrung: "Man kann nicht Auschwitz auf eine Analogie mit der Vernichtung griechischer Stadtstaaten bringen als bloß graduelle Zunahme des Grauens, der gegenüber man den eigenen Seelenfrieden bewahrt. Wohl aber fällt von der nie zuvor erfahrenen Marter der Erniedrigung der im Viehwagen Verschleppten das tödlichgrelle Licht noch auf die fernste Vergangenheit, in deren stumpfer und planloser Gewalt die wissenschaftlich ausgeheckte teleologisch bereit mitgesetzt war. Die Identität liegt in der Nichtidentität, dem noch nicht Gewesenen, das denunziert, was gewesen ist." (47)
Adorno hat in den letzten fünfundzwanzig Jahren seines Lebens sein Augenmerk auf das Fortleben des Nationalsozialismus gelegt. Aus dem Bewußtsein der Gegenwart von Auschwitz wurde das Bewußtsein notwendigen Erinnerns. Ohne die Aktualität könnte darin bestehen, daß die Arbeit des Erinnerns traditionsbildend wirkt. "Erfahrung wäre die Einheit von Tradition und offener Sehnsucht nach dem Fremden.. Aber ihre Möglichkeit ist selber gefährdet." (48) Über die Bedingung der Möglichkeit von Erfahrung ist gesprochen worden: Auschwitz läßt nichts unberührt.
D.Claussen, Nach Auschwitz, Ein Essay über die Akutalität Adornos aus: Zivilisationsbruch. Denken nach Auschwitz S. 54 ff. Der Reader ist insgesamt zu empfehlen. Dort finden sich auch die Nachweise und Fuánoten

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Most recent revision: April 07, 1998

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