Unschuldige Opfer - für den Gutmenschen ein wichtiger Begriff, mit dem er zum einem seine Fähigkeit zu differenzieren anzeigt, zugleich aber darauf hinweist, daß es manchmal durchaus auch die richtigen erwischt. Geht es zum Beispiel um die Untaten der Nazis, ist immer die Rede von den "unschuldigen Opfern" der braunen Barbaren, insbesondere von Frauen, Kindern und Greisen". Womit klargestellt ist, daß männliche Wesen zwischen Geschlechtsreife und Rentenalter nicht in die Kategorie der "unschuldigen Opfer" gehören. Worin ihre Schuld liegt, bleibt unausgeführt, weil es sich von allein versteht: sie waren in dem Alter, indem auf der anderen Seite des Lagerzauns zu den Waffen rekrutiert wurde. Die ganzen Jungen standen an der Flak, die ganz Alten nahme sich der Wehrkraftzersetzer an, während die mittleren Jahrgänge die Bolschewiken das Fürchten lehrten. Wenn alsoo männliche Juden zwischen 15 und 65 sich widerstandslos abführen ließen, dann waren sie allenfalls "schuldige Opfer", weil sie sich einer Unterlassung schuldig gemacht hatten, statt wie die gleichaltrigen Arier ihree völkische Pflicht zu erfüllen.
Der Begriff des "unschuldigen Opfers", der die Schuld der Opfer an ihrer eigenen Vernichtung signalisiert, läßt sich noch steigern. Eine Mitarbeiterin der _Zeit_ meinte vor kurzem, Juden würden sich zu Unrecht "nur als unbescholtene Opfer fühlen", nachdem sie entdeckt hatte, daß es Juden gegeben hat, die imstande waren, ihre nächsten Angehörigen zu opfern, um sich selbst zu retten. Vor soviel menschlicher Niedertracht schüttelte es sie wie einen Königspudel, der in eine Jauchegrube gefallen war. Zu sich gekommen, stellte sie die zentrale Frage, die jeden anständigen Deutschen umtreibt, der wissen möchte, warum die _Juden: keinen Widerstand geleistet haben: "Wo blieb der Geist von Judas Makkabäus, der sich im Jahre 164 vor Christus gegen die Fremdherrschaft auflehnte?" Wo es - theoretisch - "Unbescholtene Opfer" gibt, da muß es - praktisch - auch "bescholtene" geben, was umgekehrt bedeutet, daß es nicht nur "schuldige" sondern auch unschuldige "Täter" geben muß. Womit wir am Ziel der Übung angekommen wären, nämlich zu beweisen, daß Täter und Opfer nicht so weit auseinander hausen, wie unschuldige Gemüter anzunehmen bereit sind.

Henryk Broder In: K.Bittermann, G.Henschel (Hg.) Wörterbuch des Gutmenschen 165f

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Most recent revision: April 07, 1998

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