MENSCH UND TIER *
Die Idee des Menschen in der europäischen Geschichte drückt sich in der
Unterscheidung vom Tier aus. Mit seiner Unvernunft beweisen sie die Menschenwürde.
Mit solcher Beharrlichkeit und Einstimmigkeit ist der Gegensatz von allen Vorvorderen
des bürgerlichen Denkens, den alten Juden, Stoikern und Kirchenvätern,
dann durchs Mittelalter und die Neuzeit hergebetet worden, daß er wie wenige
Ideen zum Grundbestand der westlichen Anthropologie gehört. Auch heute ist
er anerkannt. Die Behavioristen haben ihn bloß scheinbar vergessen. Daß
sie auf die Menschen dieselben Formeln und Resultate anwenden, die sie, entfesselt,
in ihren scheußlichen physiologischen Laboratorien wehrlosen Tieren abzwingen,
bekundet den Unterschied auf besonders abgefeimte Art. Der Schluß, den sie
aus den verstümmelten Tierleibern ziehen, paßt nicht auf das Tier in
Freiheit, sondern auf den Menschen heute. Er bekundet, indem er sich am Tier vergeht,
daß er, und nur er in der ganzen Schöpfung, freiwillig so mechanisch,
blind und automatisch funktioniert, wie die Zuckungen der gefesselten Opfer, die
der Fachmann sich zunutze macht. Der Professor am Seziertisch definiert sie wissenschaftlich
als Reflexe, der Mantiker am Altar hatte sie als Zeichen seiner Götter ausposaunt.
Dem Menschen gehört die Vernunft, die unbarmherzig abläuft; das Tier,
aus dem er den blutigen Schluß zieht, hat nur das unvernünftige Entsetzen,
den Trieb zur Flucht, die ihm abgeschnitten ist. Der Mangel an Vernunft hat keine
Worte. Beredt ist ihr Besitz, der die offenbare Geschichte durchherrscht. Die ganze
Erde legt für den Ruhm des Menschen Zeugnis ab. In Krieg und Frieden, Arena
und Schlachthaus, vom langsamen Tod des Elefanten, den primitive Menschenhorden
auf Grund der ersten Planung überwältigten, bis zur lückenlosen Ausbeutung
der Tierwelt heute, haben die unvernünftigen Geschöpfe stets Vernunft
erfahren. Dieser sichtbare Hergang verdeckt den Henkern den unsichtbaren: das Dasein
ohne Licht der Vernunft, die Existenz der Tiere selbst. Sie wäre das echte
Thema der Psychologie, denn nur das Leben der Tiere verläuft nach seelischen
Regungen; wo Psychologie die Menschen erklären muß, sind sie regrediert
und zerstört. Wo man unter Menschen Psychologie zu Hilfe ruft, wird der karge
Bereich ihrer unmittelbaren Beziehungen nochmals verengt, sie werden sich auch darin
noch zu Dingen. Der Rekurs auf Psychologie, um den anderen zu verstehen, ist unverschämt,
zur Erklärung der eigenen Motive sentimental. Die Tierpsychologie aber hat
ihren Gegenstand aus dem Gesicht verloren, über der Schikane ihrer Fallen und
Labyrinthe vergessen, daß von Seele zu reden, sie zu erkennen, gerade und
allein dem Tiere gegenüber ansteht. Selbst Aristoteles, der den Tieren eine,
wenn auch inferiore Seele zusprach, hat aber lieber von den Körpern, von Teilen,
Bewegung und Zeugung gehandelt, als von der dem Tiere eigenen Existenz.
Die Welt des Tieres ist begriffslos. Es ist kein Wort da, um im Fluß des Erscheinenden
das Identische festzuhalten, im Wechsel der Exemplare dieselbe Gattung, in den veränderten
Situationen dasselbe Ding. Wenngleich die Möglichkeit von Wiedererkennen nicht
mangelt, ist Identifizierung aufs vital Vorgezeichnete bescllränkt. Im Fluß
findet sich nichts, das als bleibend bestimmt wäre, und doch bleibt alles ein
und dasselbe, weil es kein festes Wissen ums Vergangene und keinen hellen Vorblick
in die Zukunft gibt. Das Tier hört auf den Namen und hat kein Selbst, es ist
in sich eingeschlossen und doch preisgegeben, immer kommt ein neuer Zwang, keine
Idee reicht über ihn hinaus. Für den Entzug des Trostes tauscht das Tier
nicht Milderung der Angst ein, für das fehlende Bewußtsein von Glück
nicht die Abwesenheit von Trauer und Schmerz. Damit Glück substantiell werde,
dem Dasein den Tod verleihe, bedarf es identifizierender Erinnerung, beschwichtigender
Erkenntnis, der religiösen oder philosophischen Idee, kurz des Begriffs. Es
gibt glückliche Tiere, aber welch kurzen Atem hat dieses Glück! Die Dauer
des Tiers, vom befreienden Gedanken nicht unterbrochen, ist trübe und depressiv.
Um dem bohrend leeren Dasein zu entgehen, ist ein Widerstand notwendig, dessen Rückgrat
die Sprache ist. Noch das stärkste Tier ist unendlich debil. Die Lehre Schopenhauers,
nach welcher der Pendel des Lebens zwischen Schmerz und Langeweile schlägt,
zwischen punkthaften Augenblicken gestillten Triebs und endloser Sucht, trifft zu
für das Tier, das dem Verhängnis nicht durch Erkennen Einhalt gebieten
kann. In der Tierseele sind die einzelnen Gefühle und Bedürftigkeiten
des Menschen, ja die Elemente des Geistes angelegt ohne den Halt, den nur die organisierende
Vernunft verleiht. Die besten Tage verfließen im geschäftigen Wechsel
wie ein Traum, den ohnehin das Tier vom Wachen kaum zu unterscheiden weiß.
Es entbehrt des klaren Ubergangs von Spiel zu Ernst; des glücklichen Erwachens
aus dem Alpdruck zur Wirklichkeit.
In den Märchen der Nationen kehrt die Verwandlung von Menschen in Tiere als
Strafe wieder. In einen Tierleib gebannt zu sein, gilt als Verdammnis. Kindern und
Völkern ist die Vorstellung solcher Metamorphosen unmittelbar verständlich
und vertraut. Auch der Glaube an die Seelenwanderung in den ältesten Kulturen
erkennt die Tiergestalt als Strafe und Qual. Die stumme Wildheit im Blick des Tieres
zeugt von demselben Grauen, das die Menschen in solcher Verwandlung fürchteten.
Jedes Tier erinnert an ein abgründiges Unglück, das in der Urzeit sich
ereignet hat. Das Märchen spricht die Ahnung der Menschen aus. Wenn aber dem
Prinzen dort die Vernunft geblieben war, so daß er zur gegebenen Zeit sein
Leiden sagen und die Fee ihn erlösen konnte, so bannt Mangel an Vernunft das
Tier auf ewig in seine Gestalt, es sei denn, daß der Mensch, der durch Vergangenes
mit ihm eins ist, den erlösenden Spruch findet und durch ihn das steinerne
Herz der Unendlichkeit am Ende der Zeiten erweicht.
Die Sorge ums vernunftlose Tier aber ist dem Vernünftigen müßig.
Die westliche Zivilisation hat sie den Frauen überlassen. Diese haben keinen
selbständigen Anteil an der Tüchtigkeit, aus welcher diese Zivilisation
hervorging. Der Mann muß hinaus ins feindliche Leben, muß wirken und
streben. Die Frau ist nicht Subjekt. Sie produziert nicht, sondern pflegt die Produzierenden,
ein lebendiges Denkmal längst entschwundener Zeiten der geschlossenen Hauswirtschaft.
Ihr war die vom Mann erzwungene Arbeitsteilung wenig günstig. Sie wurde zur
Verkörperung der biologischen Funktion, zum Bild der Natur, in deren Unterdrückung
der Ruhmestitel dieser Zivilisation bestand. Grenzenlos Natur zu beherrschen, den
Kosmos in ein unendliches Jagdgebiet zu verwandeln, war der Wunschtraum der Jahrtausende.
Darauf war die Idee des Menschen in der Männergesellschaft abgestimmt. Das
war der Sinn der Vernunft, mit der er sich brüstete. Die Frau war kleiner und
schwächer, zwischen ihr und dem Mann bestand ein Unterschied, den sie nicht
überwinden konnte, ein von Natur gesetzter Unterschied, das Beschämendste,
Erniedrigendste, was in der Männergesellschaft möglich ist. Wo Beherrschung
der Natur das wahre Ziel ist, bleibt biologische Unterlegenheit das Stigma schlechthin,
die von Natur geprägte Schwäche zur Gewalttat herausforderndes Mal. Die
Kirche, die im Lauf der Geschichte kaum eine Gelegenheit versäumte, um bei
populären Institutionen ihr führendes Wörtlein mitzureden, handelte
es sich um Sklaverei, Kreuzzüge oder einfache Pogrome, hat trotz des Ave auch
in der Einschätzung des Weibes an Platon sich angeschlossen. Das Bild der schmerzensreichen
Mutter Gottes war die Konzession an matriarchale Restbestände. Doch hat die
Kirche die Inferiorität der Frau, aus der das Bild erlösen sollte, mit
seiner Hilfe auch sanktioniert. "Man braucht nur", ruft ihr legitimer
Sohn de Maistre aus, 'in einem christlichen Land den Einfluß des göttlichen
Gesetzes zu einem gewissen Grad auszulöschen, ja zu schwächen, indem man
die Freiheit, die für die Frau daraus hervorging, bestehen läßt,
und man wird die an sich edle und rührende Freiheit bald genug in Schamlosigkeit
degenerieren sehen. Sie würden zu funesten Werkzeugen eines allgemeinen Niedergangs,
der in kurzer Zeit die lebenswichtigen Teile des Staats angriffe. Dieser würde
in Fäulnis übergehen und mit seinem brandigen Zerfall Schande und Schrecken
verbreiten."(1) Das Terrormittel der Hexenprozesse,
das die verbündeten feudalen Rackets, als sie sich in Gefahr sahen, gegen die
Bevölkerung anwandten, war zugleich die Feier und Bestätigung des Siegs
der Männerherrschaft über vorzeitliche matriarchale und mimetische Entwicklungsstufen.
Die Autodafés waren die heidnischen Freudenfeuer der Kirche, der Triumph
der Natur in Form der selbsterhaltenden Vernunft zum Ruhme der Herrschaft über
die Natur.
Das Bürgertum heimste von der Frau Tugend und Sittsamkeit ein: als Reaktionsbildungen
der matriarchalen Rebellion. Sie selbst erreichte für die ganze ausgebeutete
Natur die Aufnahme in die Welt der Herrschaft, aber als gebrochene. Sie spiegelt,
unterjocht, dem Sieger seinen Sieg in ihrer spontanen Unterwerfung wider: Niederlage
als Hingabe, Verzweiflung als schöne Seele, das geschändete Herz als den
liebenden Busen. Um den Preis der radikalen Lösung von der Praxis, um den des
Rückzugs in gefeiten Bannkreis, empfängt Natur vom Herrn der Schöpfung
seine Reverenz. Kunst, Sitte, sublime Liebe sind Masken der Natur, in denen sie
verwandelt wiederkehrt und als ihr eigener Gegensatz zum Ausdruck wird. Durch ihre
Masken gewinnt sie die Sprache; in ihrer Verzerrung erscheint ihr Wesen; Schönheit
ist die Schlange, die die Wunde zeigt, wo einst der Stachel saß. Hinter der
Bewunderung des Mannes für die Schönheit lauert jedoch stets das schallende
Gelächter, der maßlose Hohn, die barbarische Zote des Potenten auf die
Impotenz, mit denen er die geheime Angst betäubt, daß er der Impotenz,
dem Tode, der Natur verfallen ist. Seit die verkrüppelten Narren, an deren
Sprüngen und Schellenkappen einstmals das traurige Glück gebrochener Natur
haftete, dem Dienst der Könige entronnen sind, hat man der Frau die planmäßige
Pflege des Schönen zuerkannt. Die neuzeitliche Puritanerin nahm den Auftrag
eifrig an. Sie identifizierte sich mit dem Geschehenen ganz und gar, nicht mit der
wilden, sondern der domestizierten Natur. Was vom Fächeln, Singen und Tanzen
der Sklavinnen Roms noch übrig war, wurde in Birmingham endgültig aufs
Klavierspiel und andere Handarbeit reduziert, bis auch die allerletzten Restbestände
weiblicher Zügellosigkeit vollends zu Wahrzeichen patriarchaler Zivilisation
sich veredelt hatten. Unterm Druck der universalen Reklame wurden Puder und Lippenstift,
ihren hetärischen Ursprung weit von sich weisend, zur Hautpflege, das Badetrikot
zum Attribut der Hygiene. Es gibt kein Entrinnen. Der bloße Umstand, daß
sie im durchorganisierten System der Herrschaft sich vollzieht, prägt auch
der Liebe das Fabrikzeichen auf. In Deutschland beweisen die Erfaßten noch
durch Promiskuität, wie einstmals nur durch Sittsamkeit, den Gehorsam gegen
das Bestehende, durch den wahllosen Geschlechtsakt die stramme Unterordnung unter
die herrschende Vernunft.
Als Fossil der bürgerlichen Hochschätzung der Frau ragt in die Gegenwart
die Megäre herein. Keifend rächt sie seit endlosen Zeiten den Jammer,
der ihr Geschlecht getroffen hat, im eignen Haus. In Ermangelung des Kniefalls,
der ihr nicht zuteilward, herrscht auch außerhalb die böse Alte den Zerstreuten
an, der nicht sogleich sich vor ihr erhebt, und schlägt ihm den Hut vom Kopf.
Daß er rollen müsse, wie dem immer sei, hat sie in der Politik seit je
gefordert, sei es aus Reminiszenz an die mänadische Vergangenheit, sei es in
ohnmächtiger Wut den Mann und seine Ordnung überbietend. Der Blutdurst
des Weibes im Pogrom überstrahlt den männlichen. Die unterdrückte
Frau als Megäre hat die Epoche überlebt und zeigt die Fratze der verstümmelten
Natur noch in einer Zeit, in der die Herrschaft schon den trainierten Körper
beider Geschlechter modelliert, in dessen Uniformität die Fratze unterging.
Auf dem Hintergrunde solcher Massenproduktion wird das Schelten der Megäre,
die wenigstens ihr eigenes unterschiedenes Gesicht behielt, zum Zeichen der Humanität,
die Häßlichkeit zur Spur des Geistes. Wenn das Mädchen in vergangenen
Jahrhunderten ihre Unterwerfung in den wehmütigen Zügen und der hingebenden
Liebe trug, ein entfremdetes Bild der Natur, ein ästhetisches Kulturding, so
hat freilich die Megäre noch am Ende einen neuen weiblichen Beruf entdeckt.
Als soziale Hyäne verfolgt sie kulturelle Ziele aktiv. Ihr Ehrgeiz läuft
nach Ehrungen und Publizität, aber ihr Sinn für männliche Kultur
ist noch nicht so geschärft, daß bei dem ihr zugefügten Leid sie
sich nicht vergriffe und zeigte, daß sie in der Zivilisation der Männer
noch nicht heimisch ist. Die Einsame nimmt ihre Zuflucht zu Konglomeraten von Wissenschaft
und Magie, zu Spottgeburten aus dem Ideal des Geheimrats und der nordischen Seherin.
Sie fühlt sich zum Unheil hingezogen. Die letzte weibliche Opposition gegen
den Geist der Männergesellschaft verkommt im Sumpf der kleinen Rackets, der
Konventikel und Hobbies, sie wird zur pervertierten Aggression des social work und
des theosophischen Klatsches, zur Betätigung der kleinen Ranküne in Wohltätigkeit
und Christian Science. In diesem Sumpf drückt die Solidarität mit der
Kreatur nicht so sehr im Tierschutzverein wie im Neubuddhismus und im Pekinesen
sich aus, dessen entstelltes Gesicht heute noch wie auf den alten Bildern ans Antlitz
jenes durch den Fortschritt überholten Narren gemahnt. Die Züge des Hündchens
repräsentieren wie die ungelenken Sprünge des Höckers noch immer
die verstümmelte Natur, während Massenindustrie und Massenkultur schon
lernten, die Leiber der Zuchtstiere wie der Menschen nach wissenschaftlichen Methoden
bereitzustellen. Die gleichgeschalteten Massen werden ihrer eigenen Transformation,
an der sie doch krampfhaft mitwirken, so wenig mehr gewahr, daß sie deren
symbolischer Schaustellung nicht mehr bedürfen. Unter den kleinen Nachrichten
auf der zweiten und dritten Seite der Zeitungen, deren erste mit den grauenvollen
Ruhmestaten der Menschen ausgefüllt ist, stehen zuweilen die Zirkusbrände
und Vergiftungen der großen Tiere zu lesen. Es wird an die Tiere erinnert,
wenn ihre letzten Exemplare, die Artgenossen des Narren aus dem Mittelalter, in
unendlichen Qualen zugrunde gehen, als Kapitalverlust für den Besitzer, der
die Treuen im Zeitalter des Betonbaus nicht feuersicher zu beschützen vermochte.
Die große Giraffe und der weise Elefant sind "oddities", an denen
sich schon kaum mehr ein gewitzigter Schuljunge verlustiert. Sie bilden in Afrika,
der letzten Erde, die ihre armen Herden vor der Zivilisation vergeblich schützen
wollte, ein Verkehrshindernis für die Landung der Bomber im neuesten Krieg.
Sie werden ganz abgeschafft. Auf der vernünftig gewordenen Erde ist die Notwendigkeit
der ästhetischen Spiegelung weggefallen. Entdämonisierung vollzieht sich
durch unmittelbare Prägung der Menschen. Herrschaft bedarf keiner numinosen
Bilder mehr, sie produziert sie industriell und geht durch sie um so zuverlässiger
in die Menschen ein.
Die Verzerrung, die zum Wesen jedes Kunstwerks gehört, wie das Verstümmelte
zum Glanz der weiblichen Schönheit, eben jene Schaustellung der Wunde, in der
beherrschte Natur sich wiedererkennt, wird vom Faschismus wieder betrieben, aber
nicht als Schein. Sie wird den Verdammten unmittelbar angetan. In dieser Gesellschaft
gibt es keinen Bereich mehr, in dem Herrschaft als Widerspruch sich deklarierte
wie in der Kunst, keine Verdoppelung drückt mehr die Entstellung aus. Solcher
Ausdruck aber hieß ehemals nicht bloß Schönheit, sondern Denken,
Geist und Sprache selbst. Sprache heute berechnet, bezeichnet, verrät, gibt
den Mord ein, sie drückt nicht aus. Kulturindustrie hat ihren exakten Maßstab
außerhalb ihrer selbst, an den sie sich halten kann, wie die Wissenschaft:
die Tatsache. Filmstars sind Experten, ihre Leistungen Protokolle natürlichen
Verhaltens, Klassifikationen von Reaktionsweisen; die Regisseure und Schreiber stellen
Modelle für adaptiertes Verhalten her. Die Präzisionsarbeit der Kulturindustrie
schließt die Verzerrung als den bloßen Fehler, den Zufall, das schlechte
Subjektive und Natürliche aus. Der Abweichung wird der praktische Grund abverlangt,
der sie in die Vernunft eingliedert. Erst dann wird ihr verziehen. Mit der Spiegelung
der Herrschaft durch die Natur ist das Tragische entschwunden, wie das Komische,
die Herren bringen soviel Ernst auf, wie Widerstand zu überwinden ist, und
soviel Humor, wie sie Verzweiflung sehen. Der geistige Genuß war ans stellvertretende
Leiden geknüpft, sie aber spielen mit dem Grauen selbst. Die sublime Liebe
hing an der Erscheinung der Kraft durch die Schwäche, an der Schönheit
der Frau, sie aber hängen sich an die Kraft unmittelbar: das Idol der Gesellschaft
heute ist das schnittig-edle Männergesicht. Das Weib dient der Arbeit, dem
Gebären, oder erhöht als präsentable das Ansehen ihres Mannes. Sie
reißt den Mann nicht zum Überschwang hin. Anbetung fällt wieder
auf Eigenliebe zurück. Die Welt mit ihren Zwecken braucht den ganzen Mann.
Keiner kann sich mehr verschenken, er muß drinnen bleiben. Natur aber gilt
der Praxis als das, was draußen und drunten ist, als Gegenstand, wie im Volksmund
schon seit je das Mädchen des Soldaten. Jetzt bleibt das Gefühl bei der
auf sich als Macht bezogenen Macht. Der Mann streckt die Waffen vor dem Mann in
seiner Kälte und finsteren lUnentwegtheit wie zuvor das Weib. Er wird zum Weib,
das auf die Herrschaft blickt. Im faschistischen Kollektiv mit seinen Teams und
Arbeitslagern ist von der zarten Jugend an ein jeder ein Gefangener in Einzelhaft,
es züchtet Homosexualität. Das Tier noch soll die edlen Züge tragen.
Das prononcierte Menschengesicht, das beschämend an die eigne Herkunft aus
Natur und die Verfallenheit an sie erinnert, fordert unwiderstehlich nur noch zum
qualifizierten Totschlag auf. Die Judenkarikatur hat es seit je gewußt, und
noch der Widerwille Goethes gegen die Affen wies auf die Grenzen seiner Humanität.
Wenn Industriekönige und Faschistenführer Tiere um sich haben, sind es
keine Pinscher sondern dänische Doggen und Löwenjunge. Sie sollen die
Macht durch den Schrecken würzen, den sie einflößen. So blind steht
der Koloß des faschistischen Schlächters vor der Natur, daß er
ans Tier nur denkt, um Menschen durch es zu erniedrigen. Für ihn gilt wirklich,
was Nietzsche Schopenhauer und Voltaire zu Unrecht vorwarf, daß sie ihren
"Haß gegen gewisse Dinge und Menschen als Barmherzigkeit gegen Tiere
zu verkleiden wußten"(2). Voraussetzung der
Tier-, Natur- und Kinderfrommheit des Faschisten ist der Wille zur Verfolgung. Das
lässige Streicheln über Kinderhaar und Tierfell heißt: die Hand
hier kann vernichten. Sie tätschelt zärtlich das eine Opfer, bevor sie
das andere niederschlägt, und ihre Wahl hat mit der eigenen Schuld des Opfers
nichts zu tun. Die Liebkosung illustriert, daß alle vor der Macht dasselbe
sind, daß sie kein eigenes Wesen haben. Dem blutigen Zweck der Herrschaft
ist die Kreatur nur Material. So nimmt der Führer der Unschuldigen sich an,
sie werden ohne ihr Verdienst herausgegriffen, wie man sie ohne ihr Verdienst erschlägt.
Dreck ist die Natur. Allein die abgefeimte Kraft, die überlebt, hat Recht.
Sie selbst ist wiederum Natur allein, die ganze ausgetüftelte Maschinerie moderner
Industriegesellschaft bloß Natur, die sich zerfleischt. Es gibt kein Medium
mehr, das diesen Widerspruch zum Ausdruck brächte. Er vollzieht sich mit dem
sturen Ernst der Welt, aus der die Kunst, der Gedanke, die Negativität entschwunden
ist. Die Menschen sind einander und der Natur so radikal entfremdet, daß sie
nur noch wissen, wozu sie sich brauchen und was sie sich antun. Jeder ist ein Faktor,
das Subjekt oder Objekt irgendeiner Praxis, etwas mit dem man rechnet oder nicht
mehr rechnen muß.
In dieser vom Schein befreiten Welt, in der die Menschen nach Verlust der Reflexion
wieder zu den klügsten Tieren wurden, die den Rest des Universums unterjochen,
wenn sie sich nicht gerade selbst zerreißen, gilt aufs Tier zu achten nicht
mehr bloß als sentimental, sondern als Verrat am Fortschritt. In guter reaktionärer
Tradition hat Göring den Tierschutz mit dem Rassenhaß verbunden, die
lutherisch-deutsche Lust am fröhlichen Morden mit der gentilen Fairness des
Herrenjägers. Klar sind die Fronten geschieden; wer gegen Hearst und Göring
kämpft, hält es mit Pawlow und Vivisektion, wer zögert, ist Freiwild
für beide Seiten. Er soll Vernunft annehmen. Die Wahl ist vorgegeben und unausweichlich.
Wer die Welt verändern will, soll um keinen Preis in jenem Sumpf der kleinen
Rackets landen, wo mit den Wahrsagern auch politische Sektierer, Utopisten und Anarchisten
verkommen. Der Intellektuelle, dessen Denken an keine wirkende historische Macht
sich anschließe, keinen der Pole zur Orientierung nehme, auf welche die Industriegesellschaft
zuläuft, verliere die Substanz, sein Denken werde bodenlos. Vernünftig
sei das Wirkliche. Wer nicht mitmacht, sagen auch die Progressiven, hilft keiner
Maus. Alles hänge von der Gesellschaft ab, auch das genaueste Denken müsse
sich den mächtigen sozialen Tendenzen verschreiben, ohne die es zur Schrulle
werde. Dies Einverständnis verbindet alle Gerechten der Realität; es bekennt
sich zur menschlichen Gesellschaft als einem Massenracket in der Natur. Das Wort,
das nicht die Ziele einer seiner Branchen verfolgt, regt sie zur maßlosen
Wut auf. Es gemahnt daran, daß noch eine Stimme hat, was nur sein soll, damit
es gebrochen wird: an Natur, von der die Lügen der völkisch und folkloristisch
Orientierten überfließen. Wo sein Ton ihre Sprechchöre auf einen
Augenblick unterbricht, wird das von ihnen überschrieene Grauen laut, das wie
in jedem Tier selbst in den eignen rationalisierten und gebrochenen Herzen lebt.
Die Tendenzen, die von solchem Wort ins Licht gehoben werden, sind allgegenwärtig
und blind. Natur an sich ist weder gut, wie die alte, noch edel, wie die neue Romantik
es will. Als Vorbild und Ziel bedeutet sie den Widergeist, die Lüge und Bestialität,
erst als erkannte wird sie zum Drang des Daseins nach seinem Frieden, zu jenem Bewußtsein,
das von Beginn an den unbeirrbaren Widerstand gegen Führer und Kollektiv begeistet
hat. Der herrschenden Praxis und ihren unentrinnbaren Alternativen ist nicht die
Natur gefährlich, mit der sie vielmehr zusammenfällt, sondern daß
Natur erinnert wird.
Anmerkungen:
* Max Horkheimer / Theodor W. Adorno: Dialektik der
Aufklärung in: Max Horkheimer Gesammelte Schriften Band 5, 277.
1 J. de Maistre, Eclaircissement sur les Sacrifices.
OEuvres. Lyon 1892. Band V. S. 322 f.
2 Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft. Werke.
Band V. S. 133.
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Most recent revision: April 07, 1998
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Martin Blumentritt